Der weiße Tiger (Aravind Adiga)

C.H.Beck Verlag 2008
Originaltitel: The White Tiger,
übersetzt von Ingo Hertzke
HC 318 S., 19,90 €
ISBN 978-3406576911

Genre: Belletristik


Inhalt

Balram Halwai ist ein ungewöhnlicher Ich-Erzähler: Diener, Philosoph, Unternehmer, Mörder. Im Verlauf von sieben Nächten und in der Form eines Briefes an den chinesischen Ministerpräsidenten erzählt er uns die schreckliche und zugleich faszinierende Geschichte seines Erfolges – der ihm keineswegs in die Wiege gelegt war. Balram – der „weiße Tiger“ – kommt aus einem Dorf im Herzen Indiens. Seine düsteren Zukunftsaussichten hellen sich auf, als er, der klügste Junge im Dorf, als Fahrer für den reichsten Mann am Ort engagiert wird und mit ihm nach Delhi kommt. Hinter dem Steuer eines Honda City entdeckt Balram – und wir mit ihm – eine neue Welt. Balram sieht, wie seinesgleichen, die Diener, aber auch ihre reichen Herren mit ihrer Jagd nach Alkohol, Geld, Mädchen und Macht den Großen Hühnerkäfig der indischen Gesellschaft in Gang halten. Durch Balrams Augen sehen wir das Indien der Kakerlaken und Call Center, der Prostituierten und Gläubigen, der alten Traditionen und der Internetcafés, der Wasserbüffel und des mysteriösen „weißen Tigers“.
Mit seinem ebenso unwiderstehlichen wie unerwarteten Charisma erzählt uns Balram von seiner Flucht aus dem Hühnerkäfig, dem Sklavendasein – eine Flucht, die ohne Blutvergießen nicht möglich ist.


Der Autor

Aravind Adiga, 1974 in Madras, Indien, geboren. Studium an der Columbia University und der Oxford University. Ehemaliger indischer Korrespondent für das Time Magazin, des weiteren Veröffentlichungen in der Financial Times, der Sunday Times sowie dem Independent. Adiga lebt in Mumbai. „Der weiße Tiger“ ist sein Debütroman.


Rezension

Der chinesische Premierminister Wen Jiabao will in der nächsten Woche Indien einen Besuch abstatten, um „die Wahrheit über Bangalore zu erfahren und sich mit einigen indischen Unternehmern zu treffen. Er will deren Erfolgsgeschichten aus ihrem eigenen Mund zu hören, so vermeldet All India Radio. Das ruft Balram Halwai aus Bangalore auf den Plan, „der weiße Tiger, ein denkender Mann, und ein Unternehmer“ und Mörder, der seinen Politikern nicht zutraut, die Wahrheit zu erzählen, und deshalb den von ihm bewunderten Premierminister aus Peking, „der friedliebenden Hauptstadt Chinas“ selbst aufklären will. In den nächsten sieben Nächten mailt Halwai dem Premierminister seine eigene Erfolgsgeschichte.

Halwai wird in dem elenden Provinzkaff Laxmangarh als Sohn eines Rikschafahrers in eine untere Kaste hineingeboren. Die Eltern sterben früh, seine Familie nimmt ihn aus der Schule, damit er Geld in einer Teestube verdient, mit dem sie Schulden bezahlen muss. Halwai hat Ambitionen. Er geht mit seinem Bruder in die nächste Stadt, Dhanbad, findet einen Job als Teejunge, macht nebenbei den Führerschein, ergattert einen Job als Chauffeur und Diener bei dem Geschäftsmann Ashok Sharma und zieht mit ihm und dessen Ehefrau Pinky Madam nach Delhi. Dort lernt er eine völlig neue Welt kennen. Halwais Lage ändert sich dennoch nicht, er bleibt nur Beobachter. Von Ashok und seiner eigenen Großmutter ausgebeutet, von den anderen Dienern gedemütigt und erniedrigt, ist er ein Gefangener im „Hühnerkäfig“, wie „99,9 Prozent“ der Inder. Doch er ist der weiße Tiger, einer, den es nur einmal in einer Generation gibt. Er will aus dem „Hühnerkäfig“ ausbrechen. Das führt zwangsläufig zu einer Kollision mit dem System. Der Preis, den er und andere für seine Flucht aus dem Hühnerkäfig zahlen müssen, ist schockierend.

Adigas Held steckt in einem moralischen Dilemma. Es gibt keine goldene Lösung für sein Problem, egal, ob er sich für oder gegen den Hühnerkäfig entscheidet – beides kommt ihn teuer zu stehen. Wäre Halwai stur und brutal, würde ihm die Entscheidung leicht fallen. Aber er ist ein moralischer Mensch mit Phantasie, Intelligenz, geistiger Beweglichkeit und einem großen Freiheitsdrang, ambitioniert, illusionslos und unsentimental.

Adigas Bericht eines persönlichen Aufstiegs ist gleichzeitig ein Abriss der modernen Gesellschaft Indiens. Mit schwarzem Humor und ätzender Wut seziert Adiga die Wirklichkeiten zweier indischer Gesellschaften, dem nach der Entlassung in die Unabhängigkeit 1947 weiterhin tradierten Kastensystem und der Welt der Technologie und des Outsourcing der Generation Call Center. Es ist die messerscharfe Analyse eines Systems und seiner Subsysteme, in dem die große Mehrheit der Bevölkerung in Rechtlosigkeit und Armut lebt, drangsaliert und ausgebeutet von den überkommenen Traditionen, der eigenen Familie, kriminellen Organisationen, korrupten Behörden. Diese desolaten Zustände werden nicht geduldet, sie sind von der Politik gewollt: die indische Gesellschaft als Dschungel.


Fazit

Adiga, für sein Debüt mit dem Booker Prize 2008 ausgezeichnet, erzählt ökonomisch, spannend, respektlos und zynisch eine Geschichte über die harte Realität des modernen Indien unter völligem Verzicht auf Bollywood-Romantik, Folklore, Mystik, Götter und Ghandi, ausschweifende Bilder und blumige Metaphern. Für mich eines der besten Bücher der letzen Jahre.


Pro und Contra

+ eine ehrliche Konfrontation mit einem wichtigen und interessanten Thema anhand harter Fakten, ohne Sentimentalitäten, konsequent und ohne Rücksicht auf emotionale Befindlichkeiten der Leser
+ glaubwürdige Charaktere
+ stilsicher und straff erzählt

Wertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


Dies ist eine Gastrezension von Almut Oetjen. Vielen Dank!