Der siebte Schwan (Lilach Mer)

Heyne (Januar 2011)
Paperback, Klappenbroschur, 560 Seiten
€ 14,00 [D] | € 14,40 [A] | CHF 22,90
ISBN: 978-3-453-52749-2

Genre: Fantasy


Klappentext

In jeder Spieluhr schläft ein Geheimnis. Wenn die alte Melodie erklingt, erwachen Schatten und Träume ...

Schleswig-Holstein im Jahr 1913: Die vierzehnjährige Mina lebt mir ihren Eltern auf einem einsamen Gutshof. Ihr liebster Zeitvertreib ist es, auf dem Dachboden zur Melodie einer halbzerbrochenen Spieluhr zu tanzen. Diese Uhr jedoch birgt ein Geheimnis, das Minas Welt für immer auf den Kopf stellt und sie auf eine Reise schickt, auf der die Sagen des Nordens und die Magie der Freundschaft lebendig werden. 

Leseprobe


Rezension

Wilhelmina, die von den meisten bei ihrem Kosenamen Mina gerufen wird, ist ein wohlerzogenes Gutsmädchen mit einer etwas zu stark blühenden Phantasie. Zumindest nach Meinung ihrer Eltern und dem Herrn Doktor, der gar das Wort „verrückt“ in Zusammenhang mit dem jungen Mädchen gebraucht. Mina belauscht dieses Gespräch und flüchtet sich, entsetzt von dieser Anschuldigung, auf den Dachboden, der ihre Zuflucht ist. Hier tanzt sie mit lichtgemachten Damen und betrachtet verträumt das Bild zweier Jungen. Zwillingen, die ihr geheimnisvoll zulächeln und die vergessene Saiten in Mina zum Klingen bringen. Als der Taterkönig Karol auf dem Gut erscheint und die Melodie seiner Drehorgel erklingt, ist Mina wie verzaubert und muss ihm unbedingt folgen. Sie verlässt das Gut, flieht vor dem Doktor, der sie wegbringen will, und findet neue Freunde bei den Tatern …

Die Autorin konzentriert sich stark auf ihre Protagonistin Mia, die man während des Lesens schnell ins Herz schließen kann. Zwar ist sie oft unsicher, doch genauso oft gelingt es ihr, sich zu überwinden. Die Tater, ein fahrendes Volk, sind ihr dabei eine wichtige Stütze. Auch sie sind allesamt sympathisch, ganz im Gegensatz zu Minas Eltern. Diese wirken steif und unpersönlich, wie es in der damaligen Zeit wohl oftmals war. Der Doktor dagegen kommt hinter seiner freundlichen Maske regelrecht bedrohlich daher, auch wenn man ihn nicht direkt als „böse“ bezeichnen könnte. Ganz anders sind die Tater, die vom Volk als Zigeuner verspottet werden und vielen üblen Gerüchten ausgesetzt sind. Doch ihre wilde Freiheit beinhaltet eine Herzlichkeit und Offenheit, die Mina aufblühen lässt und an der der Leser beim besten Willen nichts Schlechtes finden kann. Ihre Naturverbundenheit ist beeindruckend und die Geschichten, die in ihrem Volk leben, von unglaublichem Charme.

Der Verlag greift bei seinen Umschreibungen wieder einmal sehr hoch und nennt Werke wie „Alice im Wunderland“ und „Die unendliche Geschichte“ als Vergleiche für dieses Werk. Ein Debütroman kann es dabei kaum mit diesen Literaturklassikern aufnehmen. „Der siebte Schwan“ muss sich jedoch keinesfalls hinter diesen verstecken – nur ganz auf Augenhöhe schafft er es nicht. Muss er aber auch nicht, denn für ein Debüt ist Lilach Mers Roman beinahe zu gekonnt geschrieben. Man neigt anzunehmen, dass dutzende unveröffentlichte Werke in ihrer Schublade ruhen – so wunderbar gelungen sind die Formulierungen, so beeindruckend ihre zarte und manchmal auch erschreckende Metaphorik. „Der siebte Schwan“ lebt von seinem schwer verträumten Stil und den vielen leisen wie auch lauten Klängen, die eine beinahe surreale Atmosphäre schaffen. Doch gerade bei diesem lyrischen Schreibstil liegt auch der Knackpunkt der Geschichte. Zwischen den vielen, kreativen Umschreibungen und der unfassbaren Fülle an Beschreibungen geht der Überblick oftmals etwas unter.

"Es lag etwas über dieser Tür; ein Hauch von etwas, das nicht wirklich Bosheit war, nicht Tücke. Stille eher, aber eine ganz andere Stille als die schläfrige, staubige Düsternis in den alten Kellern. Eine Stille, die wartete. Die beobachtete und selbst nichts preisgab. Die verborgen blieb, auch wenn die Tür geöffnet wurde - die einzige Tür." (Seite 475-476)

Vor allem in der ersten Hälfte des Romans wird die Storyline sehr sorgsam und mit wahnsinnig viel Liebe zum Detail aufgebaut. Grundsätzlich wünschenswert, doch man sieht sprichwörtlich manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Für die Zukunft würde man sich wünschen, dass Lilach Mer weiterhin so wunderschön schreibt, aber ein klein bisschen weniger Detailschmuck anlegen würde. „Der siebte Schwan“ ist zudem kein Buch zum Weglesen. Lilach Mer verwendet konsequent Wortwiederholungen als Stilmittel, schreibt teilweise extrem verschachtelte Sätze, die von hoher Schreibkunst zeugen, aber auch Konzentration seitens des Lesers verlangen. Man muss sich auf die wunderbaren Worte einlassen, ein wenig innehalten und genüsslich lesen. Für Vielleser, die dem oftmals standardisiert wirkenden Stil vieler Autoren nicht mehr viel abgewinnen könnte, ist „Der siebte Schwan“ mehr als einen Blick Wert. Ebenso für jene, die nicht nur unterhalten wollen werden, sondern gerne in zauberhaften Worten schwelgen. Die sich Zeit nehmen wollen, um zwischen den bunten Gespinsten nach den vielen, versteckten Botschaften zu suchen. Denn es lohnt sich.

Anfangs wird Mias Leben auf dem Gut so realistisch geschildert, dass man sich tatsächlich in die damalige Zeit hineinversetzt fühlt. Auch wenn sich diese steife, förmliche Welt nicht gut anfühlt. Wirklich interessant wird es allerdings erst, wenn die Phantastik in die Geschichte hineinbricht und den Leser mit auf eine Reise durch wunderschöne, irreale Wälder und Seen sowie bedrohliche Häuser und Anstalten nimmt. Kreative Ideen begleiten den Lesefluss, der sich, wie bereits angesprochen, stellenweise etwas zäh gestaltet. Gerade für ein Jugendbuch ist ein solcher Stil schwierig und auch wenn die Protagonistin so jung ist, kann man diesen Roman schwer jungen Lesern zuordnen. Dafür ist der Stil etwas zu schwer, für leseerprobte Jugendliche aber sicherlich trotzdem empfehlenswert. Außerdem finden auch Erwachsene großen Spaß an Minas wundersamer Reise und es gelingt ihnen wohl leichter hinter die vielen Andeutungen und Geschichten zu blicken, die sich wie schillernde Fäden durch diesen Roman ziehen.

„Der siebte Schwan“ zeigt eine andere Welt, die parallel zu der unseren existieren sollte. Dass dies reine Phantastik ist, würde kaum jemand bestreiten, doch zeigt der Roman auch, wie schnell wir die Phantasie eines Menschen als bloße Spinnerei abtun. Und wie wichtig gerade für junge Menschen Geschichten sind. Der Roman wird als stabiles Paperback mit verträumtem Cover präsentiert und wartet mit kleinen Erläuterungen zu den Tatern im Anhang auf. Wer es nur häppchenweise lesen möchte, kann dies problemlos tun. Auch regelmäßigen Transport im Rucksack übersteht das Paperback tadellos. Qualitativ gibt es da nichts auszusetzen.


Fazit

„Der siebte Schwan“ ist ein schwer verträumtes und gleichzeitig modernes Märchen mit unglaublichem Charme. Eine Geschichte über die Macht der Phantasie und freundschaftlichen Liebe. Die kunstvolle Sprache zwingt den Leser dabei zum langsamen und genüsslichen Lesen, doch wer sich darauf einlässt, wird große Freude mit diesem wunderbaren Debütroman haben!


Pro & Contra

+ sympathische, herzliche Protagonistin
+ naturverbundener Charme der Tater
+ traumhafte, beinahe surreale Szenen
+ modernes Märchen
+ viele, kleine Botschaften

o kunstvolle, fast lyrische Sprache

- phasenweise etwas verwirrend

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Lilach Mer (März 2011)