Rowohlt Verlag (2009)
Taschenbuch, 416 Seiten, EUR 9,99
ISBN: 978-3-499-24845-0
Genre: Belletristik
Klappentext
Das schwierigste Kunststück: die Liebe zu finden.
Amerika 1931, die Wirtschaftskrise hat das Land fest im Griff. Da kann
der junge Tierarzt Jacob Jankowski von Glück reden, als ihm ein Job beim
Zirkus angeboten wird. Auch wenn es ein sehr bescheidener Zirkus ist:
Nicht einmal einen Elefanten gibt es. Dafür eine wunderschöne
Kunstreiterin. Doch Marlena ist verheiratet mit dem wahnsinnigen
Dompteur. Irgendwann findet sich doch eine, wenn auch sehr eigensinnige,
Elefantendame. Keiner kann mit Rosie umgehen – bis Jacob ihr Geheimnis
enthüllt. Und als sich gerade alles zum Guten zu wenden scheint, nimmt
eine Tragödie ihren Lauf …
Rezension
Die Geschichte, die Sara Gruen erzählt, ist eine vom Lieben und vom
Sterben – und von der Rache der Hilflosen, eingebettet in eine
Zirkuswelt, wie es sie so noch nicht zu bestaunen gab.
Der Tod durchzieht sie auf vielfältige Weise: Da sind Jacobs Eltern, die
gleich zu Beginn bei einem Unfall sterben, ihn zu einem Heimatlosen
machen, der nur bei anderen Heimatlosen einen neuen Anfang finden kann.
Da sind die finsteren Gerüchte, die in den Wagen der Zirkusarbeiter
kursieren, über Alte und Kranke, die nachts aus dem Zug gestoßen werden.
Da ist der Mord, mit dem Gruen die Geschichte einleitet. Und da ist
Jacob, der Erzähler selbst, alt geworden, ins Heim abgeschoben, voller
Widerwillen gegen seinen sterbenden Körper und misstrauisch gegenüber
seinem Verstand, diesem unberechenbaren Pendel zwischen Gegenwart und
Vergangenheit. An Rollstuhl und Gehhilfe gefesselt, verständnislosen
Krankenschwestern ausgeliefert, halb vergessen schon von der Familie,
die nicht kommt, um mit ihm ein letztes Mal in den Zirkus zu gehen.
Düstere Thematiken? Ja; aber beim Lesen spürt man es kaum. Jacob erzählt
seine Geschichte voller Selbstironie, zart und bissig zugleich,
wehmütig und sehnsüchtig, um sich gleich danach zu verspotten. Und durch
seine Augen betrachtet, ist es eine Geschichte von der Liebe, nicht vom
Tod. Davon, wie er Marlena fand, und nicht nur sie: auch Rosie, die
muntere, eigensinnige Elefantin, elf Dressurpferde und einen
anschmiegsamen Affen. So hart und grausam die Welt der Zirkusarbeiter
ist, an die er sich für uns erinnert, so bunt und leuchtend sind die
Fäden der Zuneigung, die sich nach und nach hindurch zu weben beginnen.
Und wenn sich am Ende die Unterdrückten, Menschen wie Tiere, an ihren
Peinigern rächen – dann kann man nicht anders, als eine tiefe
Befriedigung zu empfinden. Diese Rache, so spürt man, ist gerecht. Und
sie ist, zusammen mit Jacobs tollkühner Flucht aus dem Altersheim seiner
Gegenwart, das wunderbar märchenhafte Ende einer spannenden,
originellen, im besten Sinne eigen-artigen Geschichte.
Gruen zeichnet ihre Figuren mit leichter Hand, deutet mehr an, als zu
beschreiben; hält sich nicht viel mit Haarfarben und Schuhgrößen auf.
Die Menschen leben durch die Dialoge, die sie miteinander führen, und
mehr brauchen sie auch nicht, um plastisch und wie anfassbar zu werden.
Auch insgesamt ist die Sprache des Romans schlicht und geradlinig,
Umgebungsbeschreibungen fehlen fast völlig. An manchen Stellen wünscht
man sich vielleicht ein wenig mehr Farbe, ein wenig mehr Zugang zu der
fremden Zirkuswelt; möchte das Knattern des Chapitaus im Wind deutlicher
hören, das Rattern der Schienen unter sich stärker fühlen können, wenn
die „fliegende Vorhut“ wieder auf Reisen geht. Aber diese Einfachheit
des Ausdrucks passt zu den Männern, die Gruen uns schildert, den
verlorenen, verkommenen Arbeitern ebenso wie dem jungen Jacob, dem der
Tod der Eltern und das Eintauchen in die unbekannte, oft brutale
Umgebung beinahe die Sprache verschlagen haben.
Vielleicht handelt es sich auch um eine kluge Vorkehrung der Autorin,
die verhindern soll, dass die Zirkuswelt sich im Innern des Lesers mit
den leuchtenden, unschuldigen Farben der eigenen Kindheit malt, als man
mit offenem Mund die Clowns und die Artisten bestaunte. Denn hiervon
erzählt der Roman sehr entschieden nicht. Die Arbeiter, zwischen denen
Jacob sich bewegt, sind „Pack“, mit dem die vornehmen Artisten keinen
Kontakt pflegen. Ihre Welt ist rau, die Kanten nur gemildert vom
illegalen Alkohol; einem gefährlichen Tröster in der Zeit der
Prohibition. Wir sehen kaum glitzernde Trapeze fliegen, jeder Blick in
die Manege ist ein gemeinsam mit Jacob gestohlener Blick. Und in den
Eisenbahnwagen, mit denen die Zirkusse der 1930er Jahre auf Reisen
gingen, wohnen Hunger, Verweiflung und Elend. Vor diesem Hintergrund
entspinnt sich die zarte Liebesgeschichte zwischen Jacob und Marlena wie
ein wirkliches Wunder.
Fazit
Der Roman erzählt eine wundersame, bezaubernde Liebesgeschichte in einer
so bunten wie brutalen Welt. Trotz aller Schlichtheit der Sprache leben
und atmen seine Figuren und rücken dem Leser mit ihren Leidenschaften
so nah, dass man sie nicht leicht vergessen wird.
Pro und Kontra
+ authentische Sprache
+ Zirkusleben aus einer ganz neuen Perspektive
+ lebendige, nachvollziehbare und gleichzeitig wunderbar skurrile Figuren
+ Tiefgang auch durch Zeitbezüge, die aber meist Andeutungen in Nebensätzen bleiben und niemals aufdringlich werden
+ kein Moralisieren, keine political correctness
+ geschilderte Tierquälerei bleibt im aushaltbaren Rahmen
- Sprache eventuell für manchen zu karg
- weibliche Stimme der Autorin bleibt auch in männlichem Erzähler vernehmbar
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Sprache: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5