Die Stadt (Andreas Brandhorst)

Verlag: Heyne (08. März 2011)
Taschenbuch: 592 Seiten, € 14,00 
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3453527645

Genre: Science Fiction – Mystery


Klappentext

Ausgerechnet an seinem vierzigsten Geburtstag hat Benjamin Harthmann einen furchtbaren Autounfall. Jede Hilfe kommt zu spät – Harthmann stirbt. Doch kurz darauf kommt er wieder zu sich: Inmitten einer bizarren Stadt, einer Stadt voller ‚toter’ Menschen. Ist er im Paradies? Oder in der Hölle? Oder ist das alles womöglich eine gigantische Täuschung – und Harthmann ist gar nicht tot? Er macht sich auf, das Geheimnis dieser fantastischen Stadt zu ergründen.


Rezension

Benjamin Harthmann erlebt einen tödlichen Autounfall und erwacht daraufhin in einer wenig anheimelnden Umgebung. Er ist gestorben und in ‚der Stadt’ wieder auferstanden, wie ihm Louise, eine Einwohnerin, die ihn zufällig auf der Straße findet, erklärt. Louise bringt ihn zu den dortigen Machthabern, eine religiös ausgerichtete Gruppe, die das Dasein in der Stadt als eine Art Prüfung betrachtet. Wer aufgenommen werden möchte, muß Gutes tun, was in erster Linie bedeutet, keine Fragen zu stellen, die Geheimnisse der Stadt auf sich beruhen zu lassen – und auf gar keinen Fall zu versuchen, sie zu verlassen. Wer sich weigert, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und verliert den Zugang zum ‚Supermarkt’, einem unerschöpflichen Waren- und Nahrungsmittellager, ohne das das Leben in der Stadt schwierig bis unmöglich wird. Benjamin bekommt eine Woche Zeit, sich zu entscheiden, doch seine Neugier ist längst geweckt ...

Auch in Brandhorsts neuem Roman hält sich der Autor zu Beginn nicht lange mit Einzelheiten auf, der Leser wird unmittelbar in eine fremdartige Welt hineinkatapultiert, in der diverse neue Eindrücke und Gegebenheiten in rasantem Tempo auf ihn einprasseln. Zudem bekommt er keinerlei Wissensvorsprung, die Stadt, ihre Eigenheiten, Gefahren, Gesetze und Regeln sind für ihn genauso neu wie für den Protagonisten, in dessen Gestalt er dann praktisch lernen muß, sich zurechtzufinden. Auf diese Weise wächst man als Leser trotz des Tempos optimal in die Geschichte hinein und erhält eine ausgezeichnete Vorstellung davon, wie sich Benjamin fühlen muß.

Geschickt werden sehr schnell erste Hinweise auf merkwürdige Geschehnisse, geheimnisvolle Örtlichkeiten und komplizierte Verstrickungen sozusagen als Appetithappen in die Handlung eingeflochten, die definitiv Lust auf mehr machen. Erfreulicherweise wird der gesamte Plot diesen früh geweckten Erwartungen auch gerecht, auf die zuerst nur angerissenen Ereignisse später eingegangen und der Spannungsbogen bis zum Schluß durchgängig gehalten.

Ausführliche Beschreibungen, die sich einer sehr bildhaften Ausdrucksweise bedienen, vermitteln eingängig eine Atmosphäre von Verfall und Auflösung und machen die über allem liegende, düstere Stimmung beinahe greifbar. Trotz des tristen Ambientes weist jeder Schauplatz seine Besonderheiten auf, einige Stellen wie beispielsweise eine labyrinthartige Zimmerflucht voller Uhren muten beinahe schon surrealistisch an, was dem Gesamtbild zusätzlichen Reiz verleiht.

Sehr gelungen erscheint auch die Dialogführung, die sich mit dem lebendigen Erzählfluß gut ausgewogen abwechselt, auf die jeweiligen Akteure zugeschnitten ist und die teilweise ziemlich skurrilen Persönlichkeiten treffend und stimmig charakterisiert. Auch wenn die Protagonisten sehr plastisch und differenziert gezeichnet sind, über Humor verfügt keiner von ihnen, was in Anbetracht der düsteren Thematik zwar nicht weiter störend auffällt, an einigen Stellen aber das sprichwörtliche Sahnehäubchen gewesen wäre.

Erzählt wird ausschließlich aus der Sicht von Benjamin, wobei sich die Story absolut geradlinig voranbewegt. Nebenstränge gibt es keine, dafür kommt es zu diversen Rückblenden aus Benjamins früherem Leben, an das er sich nur allmählich und stückweise erinnert. Diese Rückblicke sind ungemein wichtig, denn auf irgendeine Weise scheint seine Vergangenheit mit den Geschehnissen in der Stadt in besonderem Zusammenhang zu stehen, und Benjamins Suche nach dem eigentlichen Wesen dieses Ortes wird für ihn gleichzeitig auch zu einer Suche nach sich selbst.

Von der Thematik her erinnert das Buch an Werke wie Philip José Farmers Flußwelt-Zyklus, genauso wie an die Fernsehserie ‚Lost’. Dennoch ist ‚die Stadt’ etwas völlig anderes und überzeugt nicht nur vom Konzept her, sondern auch wegen der großartigen Ausarbeitung. Es gibt viele interessante und überraschende Wendungen, Actionszenen finden in der richtigen Dosierung und zum richtigen Zeitpunkt statt und selbst der Erzähltext vermag zu fesseln. Die Spannung hält sich von der ersten bis zur letzten Seite, wobei es niemals unübersichtlich wird. Zudem kommt es immer wieder zu unaufdringlich philosophisch eingefärbten Betrachtungen und Diskussionen über Sinn und Unsinn des Lebens, was dadurch, dass man sich bereits im Jenseits befindet, einen reizvollen Blickwinkel bietet.
Der Schluß ist kaum vorhersehbar und befriedigend, wenn auch einige lose Enden übrig bleiben. Doch selbst das erscheint hier sinnvoll, dadurch bleibt ein gewisser Zauber erhalten, denn der Autor verfügt über ein feines Gespür, wann man aufhören darf – und muß.


Fazit

Ein Buch, das den Erwartungen des Lesers rundherum gerecht wird. Fans von mystisch angehauchter Science Fiction sei hiermit eine klare Leseempfehlung ausgesprochen, sie werden auf ihre Kosten kommen.


Pro & Kontra

+ gut durchdachter, überzeugender Plot
+ abwechslungsreiche Handlung mit viel Tempo
+ durchgängige Hochspannung
+ lebendige Charaktere
+ diverse überraschende Wendungen
+ unvorhersehbares aber stimmiges Ende
+ stimmungsvolle Beschreibungen

o Charaktere lassen etwas Humor vermissen

Wertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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