Piper Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag
173 Seiten, 16, 95 EUR
ISBN: 9783492054591
Genre: Sachbuch
Klappentext
Was bleibt? Was kommt? Was verschwindet für immer ?
Früher war nicht alles besser, aber vieles verlässlicher. Die Welt
drehte sich, aber sie rotierte nicht ständig. Heute ist die Treue zur
Automarke größer als die zum Ehepartner, aus dem Beruf wurde ein Job,
bei Kirche denkt niemand mehr an Enthaltsamkeit. Heute ist selbst das
Wort Zukunft dabei, seinen guten Ruf zu ruinieren.
Normalität bedeutete das Verlässliche in der Gesellschaft. Es war jene
Zeit, als Familie noch lebenslange Schicksalsgemeionschaft bedeutete und
sich nicht ein- und ausschalten ließ wie ein Pay-TV-Programm. Damals
begann nach der Ausbildung der „Ernst des Lebens“ und nicht das nächste
Praktikum. Es war jene Zeit, als man drei Freunde im Café traf und nicht
500 Freunde auf Facebook. Damals bekamen Banker noch einen Schreck,
wenn sie das Wort Risiko hörten, und nicht – wie ihre Nachfahren – einen
Erregungszustand. Das Kennzeichen unserer Zeit ist das Verschwinden der
vielen Selbstverständlichkeiten. Millionen von Menschen spüren die
Überforderung: jedes Mal, wenn man alle Antworten gelernt hat, wechseln,
die Fragen. Dennoch muss der Gezeitenwechsel kein Drama sein, sagt
Steingart. Das Gefühl der Fremdheit und die Vorfreude auf ein Leben, das
anders sein wird als unser bisheriges, schließen sich nicht aus.
Steingart berichtet in seinem schwungvollen Essay von dem, was geht, was
bleibt und was kommt.
Rezension
In 27 kurzen Kapiteln setzt Steingart sich essayistisch mit dem
auseinander, was unsere Zeit, unsere Gesellschaft in den verschiedenen
Lebensbereichen kennzeichnet. Er tut dies meist in Form einer
Gegenüberstellung dessen, was war, mit dem, was ist – einschließlich
einiger Überlegungen zu der Frage, was danach sein wird. Dabei knüpft er
an Tatbestände an, die den heute unter Dreißigigjährigen vermutlich
schon kaum mehr ein Begriff sind; für die Generationen zuvor berührt er
stellenweise schmerzhaft Empfindliches. Offene Wunden, aus denen
herausgerissen wurde, was jahrzehntelang selbstverständlich war, was
heute, vage oder explizit, vermisst wird und von dem in vielen Fällen
völlig unklar ist, wodurch es ersetzt werden wird.
Er spricht über aufgelöste Bindungen – zum Beruf, zur Firma, zur
Familie, zur Religion – die die Menschen in unserer Gesellschaft über
Generationen hinweg geprägt haben, und über die vergebliche Suche nach
neuem äußerem Halt. Die Sicherheiten, die es einmal gab, gibt es nicht
mehr und wird es wohl auch nie wieder geben. Das bedeutet für Steingart
aber nicht, dass der einzige Ausweg in hoffnungsloser Nostalgie
bestünde. Er vergleicht die heutigen Zustände zwar mit früheren und
zeigt auf, in welchem Ausmaß die einmal bestehenden Normalitäten
abgelöst wurden von permanenter „Un-Normalität“; und er benennt die
Sehnsüchte der Menschen nach eben diesen verschwundenen Normalitäten.
Auf die Gleichung „normal = gut“ lässt er sich jedoch nicht ein. Immer
wieder erinnert er an den hohen Preis jener früheren Sicherheit, die
sich aus festen, allgemein anerkannten Regeln für praktisch jeden
Lebensbereich ergab: wesentliche Einschränkungen von Freiheit und
Autonomie, die wir heute nicht mehr hinzunehmen bereit wären.
Aber es ist eben genau jene Freiheit, die vorangegangene Generationen
mühsam erringen mussten, die uns heute verunsichert. Wo es keine
äußerlichen Verbindlichkeiten mehr gibt, ist das Individuum selbst
gefordert. Es muss sich eigene neue Maßstäbe schaffen, nach denen es
sein Leben führen will. Für Steingart ist dies eine im Grunde positive,
aufregende Herausforderung an jeden einzelnen. Die Zeit, die bereits
angebrochen ist, könnte, so mutmaßt er am Schluss, „unsere glücklichste
werden“.
Seine Analysen der gesellschaftlichen Ist-Zustände sind sehr präzise und
zutreffend, ebenso seine Schlussfolgerungen. Letztere scheinen aber nur
eine ganz bestimmte gesellschaftliche Teilmenge im Blick zu haben. Jene
Individuen nämlich, die die moderne Verunsicherung selbst so genau
wahrnehmen, wie Steingart es tut, und die dann zusätzlich noch den
großen Schritt wagen, sich ihr zu stellen und neue, eigene Regeln zu
entwickeln. Das dürften allerdings nicht allzu viele sein.
Menschen sind dem Wesen nach Herdentiere, keine Einzelgänger, und so
empfinden sie auch. Und gerade dieses Empfinden bringt sie oft auf Wege,
die Steingarts Vorstellungen entgegen gesetzt sind. Viele vermeiden
nämlich lieber jede innere Konfrontation mit den eigenen Wünschen und
Bedürfnissen und begeben sich stattdessen flugs in neue äußere (wenn
auch nur scheinbare) Sicherheiten, Regelwerke und Zwänge. Junge Frauen
in England konvertieren zum orthodoxen Islam, nicht trotz, sondern
gerade wegen seiner enorm strengen Regeln. Junge Männer in Deutschland
schließen sich neonazistischen Vereinigungen mit festgefügtem Weltbild
und militärisch-strengem Gepräge an und geben erleichtert jede
Eigenverantwortung ab. Zwar steht auch das natürlich jedem frei; aber
mit individueller Selbstbestimmung und Autonomie hat es wenig zu tun.
Auch abseits solcher Extrembeispiele sind viele Menschen, vielleicht
sogar die Mehrheit, mit den neuen Ansprüchen der Zeit hoffnungslos
überfordert. Was soll mit ihnen geschehen? Oder, anders herum gefragt:
Wie werden sie beeinflussen, was mit der Gesellschaft geschieht? Eine
Welt der Selbstbestimmung und gegenseitigen Toleranz, wie Steingart sie
zart andeutet, ist vorstellbar. Genauso ist es aber auch das Gegenteil;
und die gesellschaftlichen Entwicklungen scheinen eher hierauf
hinzudeuten. Auf diese Problematik aber geht Steingart nicht ein. Hierin
liegt der einzige, allerdings auch nicht unerhebliche Mangel des Buchs.
Fazit
Insgesamt gelingt es Steingart, in klarer, schlichter Sprache und
teilweise auf höchst amüsante Art, unser modernes Unbehagen zu
analysieren, auf seine Ursachen zurück zu führen und sogar einen
Lösungsweg anzubieten. Man wünscht sich viele Leser für dieses wichtige,
verständnisvolle und mutmachende Buch.
Pro und Kontra
+ sehr gut lesbar, oft amüsant
+ absolut verständlich
+ tief gehend, ohne langatmig zu werden
+ kurz und präzise, aber nicht zu stark vereinfachend
+ interessante und gut fundierte Grundthese
- in den Schlussfolgerungen ein verengter Blickwinkel, der einen Großteil der heutigen Gesellschaft auszuklammern scheint
- Preis ist, trotz Hardcover, für nicht einmal 200 groß gedruckte Seiten doch etwas sehr hoch
Wertung:
Inhalt: 4/5
Aktualität: 5/5
Verständlichkeit: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5