Knaur-Verlag
Klappenbroschur
297 Seiten, 9,99 EUR
ISBN: 978-3426508060
Genre: Belletristik
Klappentext (innen)
Die Schwestern Franka und Lydia könnten ungleicher nicht sein. Franka,
die Ältere, hat eine tiefe Abneigung gegen alles Unvorhersehbare,
während Lydia, die Jüngere, rebelliert und jahrelang im Ausland
unterwegs ist. Doch in ihrer Kindheit waren sich die Schwestern einmal
sehr nah und hätten alles füreinander getan – bis es zu einem
dramatischen Bruch kam.
Eines Tages taucht Lydia mit ihrer siebenjährigen Tochter Merle bei
Franka auf und erleidet in ihrer Wohnung einen Zusammenbruch. Als eine
erschütternde Diagnose folgt und Lydia im Krankenhaus bleiben muss,
nimmt die ordnungsliebende Franka ihre Nichte widerwillig bei sich auf –
ausgerechnet sie, die nie Kinder haben wollte.
In diesen ersten Wochen mit Merle wird Franka immer wieder von
Erinnerungsbildern ihrer eigenen Kindheit und ihrer zunächst engen
Verbindung mit Lydia eingeholt. Ganz langsam finden die beiden
Schwestern wieder zueinander. Doch dann flieht Lydia plötzlich ans
andere Ende der Welt …
Rezension
Mit „Fremde Schwestern“ gelingt Renate Ahrens ein kleines Kunststück.
Obwohl von ihren Hauptfiguren eigentlich keine wirklich sympathisch ist,
lässt einen ihr Schicksal doch nicht los, und man lebt und leidet mit
ihnen bis zur letzten Seite.
Da ist Franka, die alles kontrollieren muss, was in ihrem Leben
geschieht – so sehr, dass sie es nicht einmal riskieren will, mit ihrem
langjährigen Geliebten zusammen zu ziehen. Es könnte sich ja etwas
ändern an dem prekären Gleichgewicht des Ist-Zustands. Eingesperrt in
ein Gefängnis aus emotionalen Selbstbeschränkungen, ist sie eigentlich
eine Figur, vor der der Leser instinktiv zurück zuckt. Man möchte sich
nicht gern einlassen auf ihre verknöcherte Welt. Dass man es doch tut,
wird einem nicht gleich bewusst. Aber es passiert, und zwar schon nach
wenigen Seiten.
Lydia, auf der anderen Seite, ist Frankas frappanter Gegenentwurf. Wo
die ältere Schwester zwanghaft kontrolliert wirkt, testet sie Grenzen
aus und lässt sich vom Sturm des Lebens herumwirbeln, ohne nach einem
sicheren Landeplatz Ausschau zu halten. Entsprechend hart schlägt sie
manches Mal auf den Boden der Tatsachen auf: Als sie bei Franka ankommt,
ist ihr Körper nach jahrelanger Drogensucht und von einer schweren
Infektion schon fast zerstört. Irgendwie beneidenswert, dieser Mut,
diese Freiheit im Denken und im Tun, so empfindet man zuerst. Aber Lydia
hat eine Tochter, Merle. Jahrelang hat sie Lydias unstetes Leben
geteilt, ohne sicheres Heim, ohne überhaupt irgendeine Sicherheit.
Jetzt, nach Lydias Zusammenbruch, ist sie völlig auf die Hilfe ihrer
Tante angewiesen, die diese zuerst nur widerwillig gibt. Um Merles
willen beginnt man schnell, Lydias wilden Lebenswandel zu verurteilen.
Aber auch das ist wieder nicht das Ende der Geschichte.
Dass die beiden Schwestern dem Leser so nahe kommen, liegt unter anderem
daran, dass er mit ihnen, vor allem mit Franka, eine Reise zurück in
ihre Kindheit unternimmt – eine Kindheit, die nach und nach manches
verständlich macht, was anfangs unangenehm berührte oder sogar
abschreckte. Das ist natürlich im Grunde kein besonders neuer Kniff, um
Leser und Buchfiguren miteinander zu verbinden. Aber weil Renate Ahrens
ihn so zartfühlend benutzt und dabei – weitgehend – klischeefrei bleibt,
funktioniert er hier erstaunlich gut. Das mag auch an der Sprache
liegen. Sie ist immer klar und präzise, schlicht, aber eindringlich
formuliert. Obwohl man lange vor den letzten Seiten fühlt, dass alles
auf ein höchstens bittersüßes Ende zusteuern kann, hört man nicht auf,
mit den beiden Schwestern – und mit der eigenwilligen Merle – zu hoffen,
es möge doch alles gut ausgehen. Dass das nicht passiert, oder
jedenfalls nicht so, wie man es sich wünschen würde, berührt am Ende
tief; und so klingt das Buch noch lange nach, nachdem man es zur Seite
gelegt hat.
Renate Ahrens, das zeigt sich sehr deutlich, versteht etwas von
Menschen; und sie geht mit ihrem Wissen behutsam um. So gibt es
eigentlich an ihrem Buch nicht viel auszusetzen, bis auf zwei Dinge, die
allerdings auch Geschmackssache sein mögen: So intensiv, wie sie ihre
Figuren ausleuchtet und ausreizt, wirken sie manchmal leicht
überzeichnet. Dadurch stellt sich gelegentlich – aber wirklich nur
gelegentlich – eine gewisse Vorhersehbarkeit ein. Insbesondere die
Beziehung zwischen Merle und Franka bzw. die Darstellung der beiden
Beteiligten in dieser Beziehung krankt daran ein wenig. Man weiß, dass
Merle und Franka sich zuerst vehement ablehnen werden, um dann nach und
nach zueinander zu finden. In dieser Beziehung zwischen den beiden liegt
auch der zweite Kritikpunkt begründet: Dass die kontrollierte,
verknöcherte Franka ausgerechnet durch ein Kind quasi innerlich wieder
zum Leben erweckt wird, hat etwas Klischeehaftes an sich, bei dem man
sich mehr unterschwellige Kommentierung gewünscht hätte.
Davon abgesehen aber sind die „Fremden Schwestern“ ein unbedingt
lesenwertes Buch: einfühlsam, ohne pathetisch zu werden; behutsam, ohne
ein Blatt vor den Mund zu nehmen; klar, ohne kalt zu wirken.
Fazit
„Fremde Schwestern“ ist ein berührendes Buch, das mit klarer,
schnörkelloser Sprache und sanfter Präzision genau dorthin trifft, wo es
weh tut. Man holt tief Luft, nachdem man es gelesen hat; es ist, als
habe man stundenlang einer Bekannten zugehört, die ihre schwierige
Lebensgeschichte erzählt hat, ohne sich selbst oder andere Beteiligte zu
schonen. Man wird sie nicht so leicht wieder vergessen, Franka, Lydia
und die kleine Merle. Und man wird zukünftig wohl ein irgendwie
wehmütiges Gefühl verspüren, wenn man an Indien denkt …
Pro und Kontra
+ leichte, klare, präzise Sprache
+ große Menschenkenntnis
+ genaue Beobachtungsgabe
+ mitfühlend, ohne ins Kitschige abzugleiten
+ behutsam, ohne Unangenehmem auszuweichen
+ spannende Geschichte
- stellenweise leichte Überzeichnungen
- manchmal – sehr selten – klischeehaft
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Sprache: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5