Der große Jäger (Xavier-Marie Bonnot)




Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008
460 Seiten
ISBN 978-3-552-05423-3
Preis:19,90 € (D)
Kriminalroman



Verdichtete Schatten

„Es war heller geworden, die Wanderin machte die Lampe aus, ihr Schatten zeichnete sich deutlich zu ihrer Rechten ab: eine seltsame Gestalt, lang, komplex, zusammengesetzt aus lauter spitzen Winkeln; eine kriechende Felszeichnung, die nichts Menschliches hatte, je nach Untergrund kürzer und wieder länger wurde und bisweilen in einem Loch verschwand, um dann sofort wieder auf dem spitzen Grat eines Felsen aufzutauchen. Die ungeheuerliche Erscheinung eines mythischen Wesens, das aus den tiefsten Verliesen der Schöpfung heraufgestiegen ist, eines bösen, von den Menschen vergessenen Gottes, gekommen, um sich hier im Halbdunkel einer düsteren Verschwörung gegen das Menschengeschlecht zu widmen.
Tatsächlich gehörte der unbeständige Schatten einfach nur zu Christine Autran, die mit Leichtigkeit von Fels zu Fels sprang, wobei sie einem präzisen Weg folgte, ohne sich einen Augenblick zu irren. Ein möglicher Beobachter der Szene hätte festgestellt, daß sie den Ort perfekt kannte.
Aber niemand konnte wissen, daß Christine Autran sich dort aufhielt. Niemand.“

– aus dem Beginn des Romans

Christine Autran irrt sich: Einer weiß von ihrem nächtlichen Unterfangen. Und sie wird nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren. Stattdessen finden Taucher wenig später eine von Meerestieren zerfressene Frauenleiche im Meer, an derselben Stelle wie auch zuvor die eines verunglückten Tauchers – Zufall? Und besteht eine Verbindung zu dem Massenmörder, der neben seinen grausig zugerichteten Opfern stets das Negativbild einer Hand zurücklässt, die Parallelen mit Höhlenmalereien aufweist? Commandant Michel De Palma steht vor einem Fall, bei dem er sich hüten muss. Denn mit jedem Detail, das sich offenbart, wird deutlicher, dass er es mit einem Menschen zu tun hat, der seine Verbrechen sowohl perfekt durchplant als auch keine Skrupel zu haben scheint ...

Archaisch

Ein weiterer Mörder, der sich von den dunklen Seiten der Menschheitsgeschichte inspirieren lässt – diesmal von ihren Ursprüngen. Primitive Gewalt und ausgeklügelte Planung sorgen für eine gefährliche Mischung, doch auch De Palma verbirgt dunkle Seiten, die manchmal hervorzubrechen drohen ... Durchzogen von archaischen Elementen zeugt „Der große Jäger“ von vertiefter Recherche und erinnert stellenweise mit seiner Trockenheit und den kantigen Figuren an alte Westernfilme oder Kriminalliteratur aus früheren Zeiten. Selbstverständlich wird dieses Bild immer wieder aufgebrochen und aufgeweicht, spielt das Buch doch in der Gegenwart, nichtsdestotrotz hält sich der Eindruck bis zum Finale und bleibt auch noch erhalten, nachdem man den Roman aus der Hand gelegt hat. Ein Grundgefühl, das natürlich je nach Vorlieben des Lesers Vor- und Nachteile hat. Durchwegs solide aufgebaut und geschrieben, muss man sich doch auf diese Erzählweise einlassen (können).

Salz auf der Haut und Wind in den Haaren

Eine Stärke Bonnots sei unbestritten: In seinen Beschreibungen erwacht die Umgebung plastisch, atmosphärisch und sprachlich gelungen zum Leben. Gerade bezüglich der französischen Calanques weckt er im Leser den Wunsch, diese Orte tatsächlich zu sehen und den Wind zu spüren, der einem aus den Seiten entgegenweht. Vielleicht bezeichnend für seinen Schreibstil – denn ganz generell ist dieser Roman eher Außen- als Innenaufnahme. Die Erzählweise schildert oftmals sehr präzise das Bild, bleibt dabei aber distanziert und lässt keine Identifikation mit den Charakteren zu. Das muss kein Nachteil sein, stellt in diesem Fall allerdings eine Schwäche dar, wenn die beschriebenen Details und Ortsnamen zuviel werden, während die Figuren oftmals stereotyp wirken, obgleich sie nicht flach oder blass genannt werden können. Dafür sorgt auch die klare Aufteilung in „Gut“ und „Böse“, trotz weniger Grenzverwischungen.

Fazit

Keine Kost für Leser, die leicht bekömmliche Stile der modernen Unterhaltungsliteratur bevorzugen, denn auf diese Ecken und Kanten, auf die trockene Atmosphäre und die figürliche Distanz muss man sich einlassen. Wer sich allerdings gern einmal an einem Buch mit klarer Rollenverteilung, archaischen Anklängen und einem Helden mit dunklen Seiten versuchen will, dem sei es empfohlen. Ein solider Kriminalroman, der geradlinig verläuft und sprachlich gelungene Stellen bietet.


Pro und Contra:

+ Teils sehr schöne, ansprechende Umgebungsbeschreibungen
+ Solider Aufbau, der mit falschen Fährten aufwartet

o Trotz kleiner Verwischungen recht klare Rollenverteilung bezüglich „Gut und Böse“
o Eher Außen- als Innenaufnahme

- Zeitweise anstrengend viele Straßennamen und Details
- Distanz zu den Charakteren, die die Identifikation erschwert und sie stellenweise stereotyp wirken lässt

Bewertung:

Handlung: 3/5
Charaktere: 2,5/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 4/5