Verlag Hoffmann und Campe
Klappenbroschur
255 Seiten, 18,99 EUR
ISBN: 978-3455502374
Genre: Sachbuch
Klappentext (innen)
Der Tod Hatun Sürücüs und das Geständnis ihres Bruders Ayhan haben
bundesweit eine Debatte über Parallelgesellschaften ausgelöst. Das
Gewaltverbrechen wurde zum Sinnbild für misslungene Integration. Wie
aber konnte es zu der Tat kommen? Und wie beurteilt der Mörder sie
heute, sechs Jahre danach? Erstmals und exklusiv mit den ARD-Autoren
spricht er ausführlich über die Hintergründe und Umstände des Mordes.
Andere, die zu Zeugen des Geschehens wurden, schildern ihre Sicht der
Dinge: die beste Freundin des Opfers, Hatuns großer Bruder, der
polizeilich gesucht wird, die Kronzeugin im Prozess, die seitdem mit
neuer Identität im Zeugenschutz lebt … Ein Buch, das zu verstehen sucht.
Rezension
Eins vorneweg: „Ehrenmord“ ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch.
Schon der Titel macht deutlich, was bisher ein großer Teil der deutschen
Gesellschaft nicht recht wahr haben will: Die Ermordung der
dreiundzwanzigjährigen Hatun Sürücü durch ihren eigenen Bruder ist „ein
deutsches Schicksal“. Trotz des Migrationshintergrunds (ein Begriff, der
im übrigen sicher bald und zu recht auf der Unwörterliste landen
dürfte): Hatun war eine Deutsche und wurde in Deutschland, auf offener
Straße, erschossen. Wie auch immer man das Gelingen oder Nichtgelingen
der Integration türkisch-, arabisch-, kurdischstämmiger Deutscher
beurteilen will – sie sind hier, sie sind ein Teil von uns. Ihre
Schicksale lassen sich nicht mehr einfach abspalten und gesondert
betrachten, als etwas Fremdes, das nur ganz zufällig in unserer Mitte
gelandet ist.
Matthias Deiß und Jo Goll unternehmen mit ihrem Buch laut Klappentext
den Versuch, das eigentlich Unmögliche zu erreichen: Verstehen. Die
Beweggründe des Täters, das Umfeld, in dem dieser Mord geschehen konnte,
vielleicht gar geschehen musste. Die Sichtweisen anderer, mehr oder
weniger stark involvierter Personen aus ganz unterschiedlichen Kreisen.
Die Autoren machen es sich und den Menschen, mit denen sie sprechen,
nicht leicht. Sie stellen unangenehme Fragen, sie bleiben hartnäckig.
Sie beschränken den Untersuchungsradius auch nicht allein auf
Deutschland, reisen nach Ostanatolien, in die Herkunftsdörfer der
Familie Sürücü. Kurz, sie tun alles, was man von investigativem
Journalismus dieser Art erwarten darf, und sie tun es gründlich.
Dennoch lässt sich die Ergebnis des Buches in einem einzigen Wort
zusammenfassen, einem Wort, das schon auf den ersten paar Seiten immer
wieder vorkommt und eigentlich in einem journalistischen Text rein gar
nichts verloren hat: „Seltsam“. Die Augen des Mörders sind „wach und
doch seltsam verschlossen“ (S. 10), sein Schmunzeln gibt ihm etwas
„seltsam Abgeklärtes“ (S. 19), er spricht oft „seltsam beiläufig,
irritierend emotionslos“ (S. 19). Und wenn er zum Ende des Buches noch
einmal sagt, dass es falsch war, seine Schwester zu töten, dann klingt
das in den Ohren der Journalisten „seltsam kalt und leblos“ (S. 248).
„Seltsam“, das bedeutet laut Duden: vom Üblichen abweichend und nicht
recht begreiflich. Nicht recht begreiflich, das ist der Mörder also für
die Autoren, zu Beginn des Buches und auch an seinem Ende. Verstehen
also Fehlanzeige? Woran hat es gelegen?
Die Hauptfiguren dieses realen Dramas, der Täter Ayhan und seine
Familie, haben naturgemäß eine eigene Agenda. Was man ihnen nicht
verdenken kann. Ayhan versucht, irgendwie die Zeit im Gefängnis zu
überstehen und glaubhaft zu machen, dass er eine solche Tat heute nicht
mehr begehen würde. Die Familie, vor allem Vater und Brüder, stehen nach
wie vor unter dem Verdacht, an der Tat, auf welche Weise auch immer,
beteiligt gewesen zu sein. Die Notwendigkeit des Selbstschutzes,
emotional wie juristisch, verhindert also im Grunde jedes wirklich
offene Gespräch von vornherein. Das ist den Autoren nicht vorzuwerfen.
Aber sie verschärfen das Problem noch, indem sie sich viel zu sehr auf
die eine Frage konzentrieren, die damals die Öffentlichkeit so sehr
aufgewühlt hat und deren ehrliche Beantwortung durch die
Schutzmechanismen der Beteiligten am stärksten blockiert ist: Wer hat
mitgemacht bei Hatuns Ermordung? Gab es einen Auftrag des Vaters, die
Schwester zu töten? Absprachen mit den älteren Brüdern? Die Sürücüs
verneinten dies stets geschlossen, auch Ayhan bestand immer auf seiner
Alleintäterschaft. Ein erneutes Bohren an dieser Stelle war also – und
dies hätten die Autoren als erfahrene Journalisten erkennen können – von
vorneherein aussichtlos. Dennoch befasst sich ein großer Teil des
Buches immer wieder mit genau dieser Frage. Dabei schreiben die Autoren
im Nachwort selbst: „Es ist gar nicht entscheidend, ob Ayhan Mittäter
hatte oder nicht.“ (S. 251). Eben.
Aber – was ist dann entscheidend? Vielleicht nicht die Frage nach dem
Wie, sondern die nach dem Warum? Auch hiermit beschäftigen sich die
Autoren, wenn auch verhaltener und oft in Verbindung mit der leidigen
Frage nach der Mittäterschaft. Sie tauchen in den religiösen Hintergrund
ein, besuchen Anatolien. Analysieren die Strukturen der Familie Sürücü.
Dabei kommen sie zu mehreren gut fundierten, teils erschreckenden,
teils irritierenden Erkenntnissen. Das große Warum aber bleibt weiter
offen; eigentlich noch mehr als zuvor. Ein junger Mann hat seine
Schwester ermordet, hat sie nicht in wilden Gefühlsaufwallungen gegen
eine Wand gestoßen oder hinterrücks auf sie eingestochen – er hat ihr
ins Gesicht geschossen, aus allernächster Nähe. Hat in ihre Augen
gesehen, direkt hinein in ihre Todesangst. Hat ihre Züge explodieren
sehen, diese Züge, die er seit ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend so
gut kannte – und an die er sich heute nicht mehr erinnern kann oder
will. Religion soll damit zu tun gehabt haben, wenn auch nicht so sehr
stark, wie im Zusammenhang mit Ehrenmorden häufig vermutet wird. Dazu
die angesprochenen schwierigen Familienstrukturen. Und ethnische
Traditionen, in der Fremde zu Granit erstarrt. Man liest das, man stellt
sich Hatuns Gesicht vor, und man möchte schreien: Ist das alles? Kann
das alles sein?
Der Gedanke, die eigene Schwester zu ermorden, ist für die meisten von
uns so bizarr, dass er eigentlich un-denkbar ist. Und das bleibt er auch
nach der Lektüre des Buchs. Denn diejenigen, die vielleicht hätten
erklären können, weshalb solche Gedanken in manchen Gesellschaften nicht
nur denk-, sondern auch ausführbar sind, verweigern sich den
Journalisten größtenteils. Die Gespräche mit ihnen bleiben an der
Oberfläche, müssen es wohl auch bleiben. Die befragten
Familienmitglieder wissen längst, was Deiß und Goll erst im Verlauf
ihrer Recherchen herausgefunden haben: Eine wirkliche Verständigung über
so tiefgreifende Fragen wie die Ehre und was sie von einem Bruder,
einem Vater verlangt, ist auf journalistischem Weg nicht zu erreichen.
Verstehen setzt nämlich eines voraus, das Sich-Hinein-Versetzen-Können
in die Lage des anderen. Dazu muss der Befragte gewillt sein, sich
vertrauensvoll zu öffnen, so weit und so lange, bis sein Standpunkt für
sein Gegenüber nachvollziehbar, nachfühlbar wird. Und der Fragende muss
dies auch wollen – nachfühlen, begreifen, eintauchen in die fremde
emotionale Welt. Von beidem ist in den Gesprächen zwischen den Autoren
und Hatuns Brüdern nichts zu spüren.
Und so bleibt auch das Verstehen aus. Muss ausbleiben, nach der ganzen
Anlage des Buchs. Leider, denn es sind viele interessante Ansätze
vorhanden, die ein Weiterverfolgen gelohnt hätten. Irgend jemand wird
die Wege, die sich hier andeuten, eines Tages gehen müssen, bis ganz zum
Ende, bis eine wirkliche Verständigung erreicht ist. Um Hatuns willen.
Denn sie ist eine von uns gewesen, so viel oder so wenig wie jede Erika,
jede Daniela, jede Melanie. Eine Nachbarin, eine Arbeitskollegin, eine
Freundin. Dies macht das Buch sehr deutlich, und genau hierin liegt auch
sein eigentliches Verdienst.
Fazit
“Ehrenmord“ ist ein wichtiges Buch. Es beschäftigt sich mit dem
gewaltsamen Tod eines Mädchens, das zwar kurdischer Herkunft war, aber
hier in Deutschland, neben uns, ermordet wurde. Es versucht, die Gründe
zu beleuchten, indem der Täter und die Familie des Mädchens befragt
werden. Bei der Beantwortung der Frage nach dem „Warum“ scheitert es
letztlich, aber es wirft auf dem Weg dorthin viele wichtige weitere
Fragen und Erkenntnisse auf, mit denen die deutsche Gesellschaft sich
noch wird beschäftigen müssen.
Pro und Kontra
+ sehr gut lesbar
+ verständlich
+ persönlich
+ Aufbau logisch und gut nachvollziehbar
- zu starke Fokussierung auf eigentlich unwichtige Fragen
- unjournalistische Schwammigkeit an ganz wesentlichen Stellen
- falscher Ansatz, um wirklich Nachvollziehbarkeit der Tätermotive zu erreichen
- etwas sehr teuer
Wertung:
Inhalt: 3/5
Aktualität: 5/5
Verständlichkeit: 4/5
Herangehensweise: 3/5
Preis/Leistung: 3/5