1Q84 - Drittes Buch (Haruki Murakami)

Dumont (Oktober 2011)
Originaltitel: 1Q84, Book 3
Shinchosha (Tokyo) 2009
Übersetz.(a.jap.) Gräfe, Ursula
Hardcover, 570 Seiten
EUR 24,00 [D] / 34,50 sFr.
ISBN 978-3-8321-9588-5

Genre: Belletristik / Phantastik


Inhalt:

Als Tengo seinen komatösen Vater im Krankenhaus besuchen will, findet er in dessen Krankenbett eine ›Puppe aus Luft‹ vor, die ein Abbild Aomames als junges Mädchen in sich birgt. Er greift nach ihrer Hand, und eine unsichtbare Verbindung entsteht. Fortan wartet Tengo darauf, der Puppe nochmals zu begegnen, doch vergebens. War das Signal nicht stark genug, um die zwischen Leben und Tod schwankende Aomame zu retten?
Unterdessen setzt die gefährliche Sekte alles daran, um den Mord an ihrem ›Leader‹ aufzuklären. Aomames Spur wird von einem so unheimlichen wie unangenehmen Agenten aufgenommen. Er ermittelt mit tödlicher Präzision, doch schließlich bringt er mehr in Erfahrung, als gut für ihn ist …


Rezension

Während sich die ersten beiden Bücher von „1Q84“ abwechselnd Tengo und Aomame widmeten, tritt nun ein dritter Protagonist in Erscheinung: der Privatermittler Ushikawa, der von den Vorreitern beauftragt wird, Aomame zu finden und sie der Sekte auszuliefern. Der kleine und hässliche Mann begibt sich auf Spurensuche und schlüpft dabei quasi in die Rolle des Lesers, der die Geschehnisse der ersten beiden Bücher resümiert. Ushikawa scheint sich gleichzeitig mitten in der Geschichte und außerhalb davon zu befinden. Und auch seine Realität beginnt sich zu verändern. Währenddessen ahnt Aomame noch nicht, wie dicht ihr Ushikawa bereits auf den Fersen ist. Sie fristet ihr Dasein in einer Wohnung, die sie nicht verlassen kann, da sie sonst den Vorreitern in die Hände fallen könnte. Sie weigert sich jedoch, an einen sicheren Ort gebracht zu werden, weil sie Tengo auf dem Spielplatz vor ihrem Mietshaus gesehen hat. Nun wartet sie, dass er erneut dort auftaucht. Doch Tengo befindet sich noch in der Stadt der Katzen bei seinem Vater, der im Koma liegt und dem er jeden Tag vorliest ...

Das dritte Buch von „1Q84“ führt die Handlung konsequent weiter und klärt dabei ebenso viele Fragen wie es neue aufwirft. Die Welt mit den zwei Monden, in der die sogenannten Little People scheinbar über große Macht verfügen, bestimmt inzwischen Denken und Handeln der Protagonisten Tengo und Aomame. Beide wissen, dass sie sich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Welt befinden, aber beide finden keine Möglichkeit, mit anderen darüber zu sprechen. Und so erfährt auch der Leser nicht, ob Bekannte und Freunde der Protagonisten eigentlich auch zwei Monde sehen würden, wenn sie sich denn die Zeit nehmen würden, den nächtlichen Himmel zu betrachten. Doch für das Werk „1Q84“ ist dies auch nicht von Bedeutung. Haruki Murakami ist ein einzigartiger Roman gelungen, der stets nah bei den Charakteren bleibt. Teilweise werden die Seiten dabei von alltäglichen Belanglosigkeiten gefüllt, die jedoch einfach nur unheimlich interessant zu lesen sind. Murakami gelingt es einfach, seine Leser für jeden einzelnen Gedanken seiner Protagonisten zu begeistern – ebenso wie für die zahlreichen Andeutungen und Zitate, die er zu einem komplexen Gesamtkunstwerk verwoben hat.

Selbst Ushikawa, der eigentlich nur als sowohl äußerlich wie innerlich hässlich beschrieben wird, wächst dem Leser im Lauf der Geschichte ans Herz. Durch seine beobachtende und reflektierende Position ist er dem Leser sehr nah. Er fasst die Ereignisse zusammen, wirft Ideen auf und gewährt dabei Einblicke in sein persönliches Schicksal, das seine zwiespältige Gestalt auf groteske Weise liebenswert macht. Er ist kein Charakter, dem die Leserherzen zufliegen, doch am Ende hat man sich an ihn gewöhnt und Verständnis für seine Entscheidungen entwickelt. Ebenso ergeht es einem bei Aomame und Tengo, die beide deutlich sympathischer sind. Doch beide sind ebenfalls ungewöhnliche und schwierige Charaktere, die sich das Verständnis des Lesers erarbeitet haben. Ihre Liebe ist dabei das tragende Motiv des Romans, auch wenn ein bedeutungsvolles Händchenhalten im zarten Alter von zehn Jahren alles an Nähe war, was sie jemals geteilt haben. Nun sind zwanzig Jahre vergangen und beide haben stets aneinander gedacht, doch nie aktiv nach dem anderen gesucht. Nun läuft ihnen die Zeit davon und die Distanz scheint unüberbrückbar – dabei könnte man den anderen zu Fuß erreichen.

Auf der Rückseite des Buches prangt ein böser Spoiler, den man jedoch während der Lektüre schnell verzeiht. Überhaupt beschleicht einen das Gefühl, dass sich Murakami Sachen erlauben kann, die man jedem anderen Autor vorwerfen würde. So gibt es objektiv unnötige Wiederholungen, was beispielsweise Charakterisierungen betrifft, die sich jedoch subjektiv als absolut notwendig erweisen. Murakami nimmt den Leser mit seiner schlichten und gleichzeitig kunstvollen Sprache gefangen und so beinhalten auch handlungsarme Passagen, in denen die Gedankenwelt der Protagonisten ergründet wird, durchaus Spannung. Dabei gibt es so manche Szene, die an die Grenzen des guten Geschmacks stößt, ebenso einige Szenen, die man doch als „typisch japanisch“ bezeichnen könnte. Trotzdem könnte „1Q84“ überall auf der Welt spielen, würden nicht einschlägige Ortsnamen auf den Schauplatz Tokio verweisen. Auch bleiben viele Fragen am Ende offen, was man in diesem Maß wohl bei anderen Romanen kritisieren würde, aber hier gar nicht bemängeln kann. Irgendwie schafft es Murakami, alles zu sagen ohne alles aufzuklären. Man ist tatsächlich zufrieden mit dem Ende – mehr noch, man glaubt, dass mehr Erklärungen den Zauber dieses Werkes ruiniert hätten.

Was bleibt, ist die Frage, in welches Genre man „1Q84“ eigentlich einordnen könnte. Es gibt einige phantastische Elemente, die das Werk im Grunde ausmachen und die im dritten Buch noch stärker als zuvor zu Tage treten – allerdings ist das Werk zu nah an der Realität dran, um ihm einfach einen Phantastik-Stempel aufzudrücken. Auch Thrillerelemente sind zu finden sowie Merkmale des klassichen Dramas. Überhaupt scheint sich „1Q84“ einer Beschreibung ebenso zu entziehen wie die Welt, in der der Roman spielt. Es ist die „reale“ Welt des Jahres 1984, nur weicht diese Welt in bestimmten Details von der Wirklichkeit ab. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen dabei sowohl für die Charaktere als auch für den Leser. Vielleicht ist der Roman einfach eine riesige Metapher voller Lebenswahrheiten und phantastischer Ideen – gespickt mit zahlreichen kleinen Metaphern und Geschichten, die sich tatsächlich oder auch nur im Rahmen von „1Q84“ abgespielt haben. In vielen Details vermag die Geschichte zu berühren sowie den Leser in tiefe Nachdenklichkeit zu stürzen. Dabei ist der Roman einem gleichermaßen nah wie fern und vor allem für Liebhaber nahezu aller Genres einen Blick wert.

Einziger Kritikpunkt bleibt der etwas hohe Preis – es gibt einfach viele qualitativ gleichwertige und dabei deutlich günstigere Hardcover. Dazu muss man natürlich die in einem Band zusammengefassten Vorgängerromane gelesen haben, was zu einem Gesamtpreis von über fünfzig Euro führt. Dafür sticht aber „1Q84“ sowohl in der Buchhandlung des Vertrauens wie auch im heimischen Bücherregal heraus. Das Cover ist gleichermaßen schlicht wie auffällig und spiegelt den Roman damit vortrefflich. „1Q84“ lädt dabei zum mehrmaligen Lesen ein, denn am Ende verspürt man große Wehmut, dass es schon vorüber ist – und gleichzeitig scheint man vieles Übersehen zu haben.


Fazit

Das dritte Buch von „1Q84“ schließt die Handlung konsequent mit vielen offenen Fragen ab und dennoch ist man sehr zufrieden mit dem Ende. Haruki Murakami hat mit diesem Roman ein komplexes Gesamtkunstwerk erschaffen, das gleichermaßen berührt wie nachdenklich stimmt und die Grenze zwischen Realität und Fiktion wie ein Blatt im Wind taumeln lässt. Ein selten intensives Leseerlebnis für Liebhaber aller Genres – und letztlich auch einfach nur eine atemberaubende Liebesgeschichte.


Pro & Contra

+ komplexes Gesamtkunstwerk
+ ungewöhnliche Protagonisten
+ berührt und stimmt nachdenklich
+ Metaphern, Andeutungen und Lebenswahrheiten
+ schlichter und gleichzeitig kunstvoller Stil
+ gut durchdachte Handlung
+ faszinierendes, intensives Leseerlebnis

Wertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


Rezension zu "1Q84" (erstes und zweites Buch)

Rezension zu "Die Ermordung des Commendatore I - Eine Idee erscheint"