Herr aller Dinge (Andreas Eschbach)



Lübbe Verlag (September 2011)
gebunden, mit Schutzumschlag und Leseband
688 Seiten, EUR 22,00
ISBN: 978-3785724293


Genre: Science-Fiction, Zukunftsthriller


Klappentext

„Ich weiß, wie man es machen muss, damit alle Menschen reich sind.“
„Quatsch“, sagte Charlotte. „Das geht doch nicht.“ „Doch, das geht“, beharrte Hiroshi. „Es ist sogar UNGLAUBLICH EINFACH.“

Als Kinder begegnen sie sich zum ersten Mal: Charlotte, die Tochter des französischen Botschafters, und Hiroshi, der Sohn einer Hausangestellten. Von Anfang an steht der soziale Unterschied spürbar zwischen ihnen. Doch Hiroshi hat eine Idee. Eine Idee, wie er den Unterschied zwischen Arm und Reich aus der Welt schaffen könnte. Um Charlottes Liebe zu gewinnen, tritt er an, seine Idee in die Tat umzusetzen – und die Welt damit in einem nie gekannten Ausmaß zu verändern.

Was mit einer bahnbrechenden Erfindung beginnt, führt ihn allerdings bald auf die Spur eine uralten Geheimnisses – und des schrecklichsten aller Verbrechen …


Rezension

Wenn Andreas Eschbach sich mit einem neuen Projekt zurückmeldet, kann man sich eigentlich sicher sein: Es wird spektakulär. So auch in seinem neuesten Roman mit dem geheimnisvoll-vielversprechenden Titel „Herr aller Dinge“, dessen genaue Genreeinteilung Eschbach, wie er im Interview zum Buch erklärt, anderen überlässt. Denn so einfach lässt sich der immerhin knapp 700 Seiten umfassende Roman nicht in eine Schublade stecken, vereint er doch Elemente verschiedenster Genres auf sich: Science-Fiction – natürlich -, Zukunftsthriller, Charakterdrama, gar Utopie. Ein typischer Eschbach, so scheint es, und genau das ist „Herr aller Dinge“.
Schon früh bemerkt der junge Hiroshi Kato, dessen Mutter Wäscherin in der französischen Botschaft in Tokyo ist, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich das Leben vieler Menschen – ja eigentlich aller Menschen – grundlegend bestimmt. Als er die Tochter des französischen Botschafters – Charlotte - kennenlernt und sich zwischen den beiden eine Freundschaft zu entwickeln beginnt, gibt er ihr ein Versprechen, das sein Leben von nun an bestimmen wird:



„Wie willst du das denn machen?“
„Verrat ich nicht.“
„Weil du’s nicht weißt. Weil du bloß angeben willst.
Damit war Hiroshi nicht zu beeindrucken. Das hatte sie schon gewusst. Er war immer so unglaublich sicher in allem, was er sagte!
„Wart’s einfach ab“, schrie er, warf die Beine himmelwärts und hatte aufgeholt.
Charlotte keuchte vor Anstrengung. „Wenn das wahr ist, musst du springen!“
„Okay!“ Hiroshi raste jetzt so wild hin und her, hin und her, vor und zurück, als wolle er sich mit der Kette um die Stange oben wickeln. „Aber weißt du, was ich mich frage?“
„Was?“
„Warum vor mir noch niemand draufgekommen ist, wie man das machen muss!“, schrie Hiroshi. „Es ist nämlich unglaublich einfach!“
Damit ließ er los und flog, flog durch die Luft wie aus einer Kanone geschossen. Eine Weile schien er zu schweben, dazu bestimmt, immer weiter und weiter zu fliegen, bis in den Himmel hinauf und in den Weltraum dahinter.

(S. 6)

Lange Zeit beobachtet der Leser nun, wie sich Hiroshi entwickelt und heranwächst. Hierfür nimmt sich Eschbach viel Zeit. Mit Liebe zum Detail – einem Merkmal, das für den gesamten Roman gilt – entwickelt er seinen Protagonisten, lässt den Leser dessen Lebenslauf verfolgen und schafft so die Grundlage zum Verständnis dieses Charakters. Zwar mag manchem Leser diese Liebe zum Detail sowie diese lange Begleitung Hiroshis als „Zuviel Drumherum“ erscheinen, da sie nicht in erster Linie die Handlung voranbringt. Auf der anderen Seite werden in dieser Passage wichtige Grundlagen für die spätere Handlung gelegt, die im ersten Augenblick nicht essentiell scheinen, die Eschbach aber später gekonnt wieder aufgreift.
Hierzu gehören auch wiederkehrende Motive wie die Arm/Reich-Problematik, die Hiroshi keine Ruhe lässt, und die Eschbach immer wieder dezent und passend einflechtet – oder auch seine Beziehung zu Charlotte, die eine zentrale Rolle spielt und immer wieder Triebfeder für die Handlung auf der einen, sowie auch Hiroshis Entwicklung auf der anderen Seite ist.
Dabei bekommt Charlotte einen nicht unwesentlichen Teil der Erzählzeit, in der sie sich – teilweise völlig unabhängig – entwickelt und ihr eigenes Leben lebt. Und auch, wenn dieser Teil die Kernhandlung eigentlich nicht weiterbringt, ist er stets interessant und auf seine Weise wichtig, stellt Charlottes Leben doch sozusagen den Gegenentwurf zu Hiroshis dar – und somit die „andere Seite der Medaille“, ohne das Buch nicht vollständig wäre.
Dies gilt in vielerlei Hinsicht – Charlotte als Repräsentantin der „Reichen“ im Gegensatz zu Hiroshi als Repräsentant der „Armen“ ist hierbei nur ein Aspekt, denn auch ihre Lebenskonzepte und daraus resultierenden Lebenswege könnten unterschiedlicher nicht sein.
Denn bei Hiroshi gelingt Eschbach das Kunststück, einen Charakter zu entwerfen, der in ständiger Weiterentwicklung doch stets derselbe bleibt – der zurückhaltende, intelligente Junge mit den vielen Ideen, den man schon in dessen Schulalter kennenlernt.


Vielleicht wandelten sich Menschen in Wahrheit nicht. Vielleicht waren Menschen wie Planeten, die unbeirrbar ihren Bahnen folgten und nur ab und zu unterschiedliches Licht reflektierten.

(S. 355)

Natürlich geht es aber in erster Linie um die Umsetzung und Verwirklichung von Hiroshis Idee, die dieser bereits in jungen Jahren entwickelt. Und dieser Aspekt des Buches ist es, der die eher phantastische, utopische Seite ins Spiel bringt, die sicherlich nicht den Beifall aller Leser finden dürfte. Wenn man sich jedoch darauf einlässt, bekommt man vielerlei interessante Einblicke in technologische Themen, aber auch in die verschiedensten anderen Gebiete wie beispielsweise Gesellschaft oder gar Paläanthropologie – also die Forschung über die Stammesgeschichte des Menschen. Und auch hier gilt: Eschbach gelingt es, aus den verschiedensten Zutaten eine Gesamtkomposition zu kreieren, die dafür überraschend harmonisch ist und Abwechslung bietet.
Der Preis hierfür ist jedoch, dass er hierfür den Zufall ein ums andere Mal doch strapazieren muss, sodass der Eindruck entsteht, Eschbach habe es sich an der einen oder anderen Stelle zu einfach gemacht. Glücklicherweise weiß er aber, wie er mit diesem „Handlungselement“ umzugehen hat, um dessen negative Wirkung zu minimieren und sogar noch dessen Vorzüge zur Geltung zu bringen, indem er dem Leser die eine oder andere Überraschung beschert und – nach einer gemächlichen Anfangsphase – die Spannung wirklich von einer Seite zur nächsten in ungeahnte Höhen katapultiert.


Fazit

Als „ein typischer Eschbach“ lässt sich „Herr aller Dinge“ zweifellos beschreiben; wer „Eine Billion Dollar“ oder „Ausgebrannt“ mochte, wird auch hier auf seine Kosten kommen. Allerdings geht er diesmal an vielen Stellen noch einen kleinen Schritt weiter, was manche mögen werden und andere wiederum nicht. Dabei entpuppen sich scheinbare Schwächen als – sofern man sich ein wenig auf einige ungewöhnliche, jedoch durchaus gelungene Aspekte einlässt – Stärken des Romans. „It’s not a bug, it’s a feature“, könnte man sagen: Zufälle und “glückliche Fügungen“ werden so zu Spannungserzeugern, langsame Passagen zu Gestaltungsmöglichkeiten für Charaktere. Überflüssig zu erwähnen, dass diese bei der ihnen zuteil werdenden Sorgfalt sehr gut gelingen.


Pro & Kontra

+ schöne Idee
+ gelungene Charaktere
+ vielseitig

o viele langsame Passagen
o Spannungsbogen sehr „inhomogen“

- Zufälle zu wichtig für Vorankommen der Handlung

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5


Zum Interview mit Andreas Eschbach (August 2008)

Rezension zu "Blackout"

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