Agent 6 (Tom Rob Smith)

Manhattan (September 2011)
538 Seiten; 21,99 Euro
ISBN: 978-3442546770

Genre: Thriller


Klappentext

Ein Mann im Dienst von Stalins Terrorregime. Eine Frau, die von Liebe und Freiheit träumt. Und der Beginn eines Komplotts, das viele Jahre später in eine tödliche Tragödie mündet. Für den Geheimdienstagenten Leo Demidow beginnt im Winter des Jahres 1950 ein Spiel um Leben und Tod, das schreckliche Opfer fordert. Und es wird erst beendet sein, wenn er den einzigen Menschen findet, der die Wahrheit kennt: Agent 6.


Rezension

Tom Tob Smith wurde als Sohn einer schwedischen Mutter und eines englischen Vaters in London geboren, studierte in Cambridge und arbeitete anschließend als Drehbuchautor. Sein Debütroman „Kind 44“ wurde auf Anhieb ein internationaler Bestseller, unter anderem als Thriller des Jahres ausgezeichnet sowie in sechsundzwanzig Sprachen übersetzt. Nach der eher schwächeren Fortsetzung „Kolyma“ erzählt Tom Rob Smith nun ein weiteres Kapitel aus Leo Demidows packenden, sowie hochdramatischen Lebensweg. Zwischen Pflicht, Liebe und direkt aus den Klauen einer totalitären Gewaltherrschaft.

>> Widerspruch von einem Untergebenen, einem Agenten, der seinen Aufgaben nicht gewachsen war – Leo war ein geduldiger Mann, toleranter als die meisten Offiziere, aber Grigori stellte seine Geduld wirklich auf die Probe. „Gerade die Menschen, die unschuldig wirken, sollten wir oft besonders genau beobachten“, befahl er seinem Gegenüber. Grigori sah Leo beinahe mitleidig an. Ausnahmsweise passt sein Gesichtsausdruck nicht zu seiner Antwort … <<

Vorerst abgeschlossen soll sie nun sein, die Reihe über den mittlerweile ehemaligen KGB-Agenten Leo Demidow. Denn mit „Agent 6“ zieht Tom Rob Smith vorerst einmal einen Strich unter das bisher Geschehene und präsentiert mit dem vorliegenden Roman ein Werk, das neben zusätzlichen Informationen über Bestehendes noch einen nervenzerreißenden Thriller verspricht. Ein Grund zu feiern für alle Fans, denn endlich kann man mehr erfahren über die Entwicklungen im Hause Demidow. Tom Rob Smith setzt jedoch wesentlich früher an und entführt gekonnt – seine Stärken nützend – wieder in die Regierungsspanne Stalins: im Jahr 1950 ist der Protagonist Leo Demidow erneut ein überaus stolzes Mitglied einer Gesellschaft ohne offizielle Verbrechensrate. Tagebücher werden konfisziert und aus eigentlich unbedeutenden Details Urteile gestrickt. Gegenseitiges denunzieren steht an der Tagesordnung; die Bevölkerung wird überwacht, kontrolliert und gedemütigt. In dieser Zeit lernt Leo seine in „Kind 44“ und „Kolyma“ bereits vom Leser geschätzt Frau sowie Weggefährtin Raisia kennen. Ein Blick in die Vergangenheit. Einer, der Neueinsteigern nähere Einblicke in die Denkweise dieses Regimes ermöglicht und schon gestandene Fans darüber hinaus anschauliche Momentaufnahmen der aufkeimenden Liebe gewährt. Erst nach dieser großzügigen Einführungsphase in die Propaganda-Politik der Sowjetunion beginnt die eigentliche Handlung, denn fünfzehn Jahre später, verschlägt es Raisa und ihre Töchter nach Amerika. Offizielles Ziel ist es die allgemeine Meinung auch im Ausland wieder ins rechte Licht zu rücken. Doch dieser Auftrag läuft schrecklich schief. Mehrere Parteien wollen ihren Nutzen aus diesem Besuch ziehen und ehe Raisia wirklich erahnen kann was vor sich geht, wird ein ehemals berühmter, kommunistenfreundlicher Sänger ermordet. Eines führt zum anderen und so geraten auch sie selbst sowie ihre Töchter in die Schusslinie zwielichtiger Organisationen. Ab diesem Moment treibt Leo nur noch der Durst nach Rache an. Sein Verhängnis wird zudem die Sucht nach Opium.

Tom Rob Smith lässt sich Zeit mit dieser Geschichte. Zu ausgiebig, was das Tempo betrifft und doch ist es schön, viele Details zu erfahren. Authentischer denn je präsentiert er nicht nur die kommunistische Politik Stalins, sondern auch den später folgenden sowjetisch-afghanischen Krieg. Kabul wird zum Handlungsrahmen der zweiten Hälfte; neue Charaktere betreten die Bühne der Grausamkeit und Leo erfährt einen sehr glaubhaften, wenn auch etwas überzogenen Wandel. Berührend und desaströs geschildert, bleibt am Ende dennoch Hoffnung. Sehnsucht nach einer Zukunft und Vergeltung. Der titelgebende „Agent 6“ wird erst spät zum Thema; den genretypischen Schwung eines Thrillers vermisst der Leser lange und schlussendlich weicht er leider zu langen, lähmenden Beschreibungen. Ausführlichkeit ist für Tom Rob Smith hier zugleich Fluch und Segen. Vor- sowie Nachteile wiegen sich gegeneinander auf. Letztendlich kann man jedoch zufrieden sein, immer aber noch hungernd nach mehr. Hungernd nach der Action, um die sich der Leser betrogen fühlt und nach einem Ende, das aussagekräftiger den zukünftigen Werdegang von Leo Demidow weißt. Denn fast wirkt es, als wolle sich der Autor das letzte Hintertürchen offen lassen, zurück zu kehren, um seinen mittlerweile gequälten Charakter wieder vor eine neue Aufgabe zu stellen. Etwas, das mit großer Wahrscheinlichkeit unzählige Fans begrüßen würden, die nach diesem beklemmenden Band immer noch Erwartungen an den Protagonisten und Autoren stellen.

Sind sie schwul, M. Feinstein? Meiner Erfahrung nach sind Kommunisten entweder schwul, Neger oder Juden. Ich weiß, dass Sie Jude sind. Dass sie kein Neger sind, sehe ich. Aber Schwule kann ich nicht so leicht erkennen. Sicher, es gibt vielleicht auch andere Kommunisten, aber diejenigen, die sich nicht schämen aufzustehen und zu sagen: „Ich bin stolz, Kommunist zu sein“, sind immer Schwule, Neger oder Juden …

(Seite 178)


Fazit

„Agent 6“ schließt die Geschichte von Leo Demidow nicht unbedingt zufriedenstellend ab. Zu sehr hängt der Leser an diesem Charakter und offenkundig – bei diesem undefinierten Ende – ebenso auch der Autor. Für Fans dieser Reihe, ist der Roman ein Muss. Neueinsteigern sei hingegen das erste Abenteuer „Kind 44“ unbedingt empfohlen, um den Inhalt und die Details dieses Bandes wirklich verstehen und genießen zu können!


Pro und Kontra

+ packende Portraits unterschiedlicher Gesellschaften
+ authentisch, berührend und grandios recherchiert
+ wunderschönes, hochwertiges Hardcover
+ stimmungsvolle Detailarbeit

o Vorwissen erforderlich

- teilweise langatmig / zu geringes Tempo
- unzureichend als „Thriller“

Wertung:

Handlung: 4 / 5
Charaktere: 4,5 / 5
Lesespaß: 4 / 5
Preis/Leistung: 4 / 5

Rezension zu "Kind 44" (Band 1)

Rezension zu "Kolyma" (Band 2)