Wo die verlorenen Worte sind (Peter Nathschläger)

AAVAA (September 2011)
Taschenbuch, 416 Seiten, 11,99 EUR
ISBN: 978-3862545193

Genre: Novellen und Kurzgeschichten


Klappentext

Ein junger Kubaner beginnt an den Werten der Revolution zu zweifeln, zwei Jugendliche lassen sich auf ein bizarres und tödliches Spiel ein, die Besatzung einer Weltraummission zu einem merkwürdigen Asteroiden entdeckt, dass unsere Welt der Traum eines Sterbenden ist, der durch Maschinen am Leben erhalten wird, ein Strichjunge überlebt ein Massaker ... Hier beweist Peter Nathschläger seine erzählerische Meisterschaft in Form von Erzählungen und Kurzgeschichten: Acht Mal führt er den Leser in Welten, in denen sich die gewohnte Ordnung und Sicherheit auflösen, Welten voller Wunder und Grauen, Welten, in denen wir manchmal den Halt verlieren ...


Rezension

„Wo die verlorenen Worte sind“ von Peter Nathschläger glänzt vor allem mit seinen gleichermaßen schwierigen wie faszinierenden Protagonisten. In acht Kurzgeschichten und Novellen begegnen dem Leser tragische Schicksale – meist junge Menschen, die vom Leben in Situationen getrieben werden, in denen sie keine Kontrolle mehr haben. Die meisten dieser Geschichten haben eine homoerotische Grundlage, was diese Sammlung in die Special-Interest-Ecke drängt. Doch man sollte nicht den Fehler machen, Peter Nathschlägers Erzählungen damit abzutun – auch wer kein grundsätzliches Interesse an homoerotischer Literatur hat, kann hier den einen oder anderen Schatz finden:

Paterson“ ist die erste und zugleich eine der eindringlichsten Geschichten dieser Sammlung. Paterson ist ein verschlafener Ort in den Vereinigten Staaten, der lediglich durch ein episches Gedicht des Schriftstellers William Carlos Williams zu einer Art Legende wurde. Und dann wäre da noch ein Junge namens Dave Brown, der spurlos verschwand und damit ebenso zu einer Legende wurde. Zumindest für die Jugendlichen, die sich die wildesten Szenarien ausmalen. Zwei dieser jungen Menschen begeben sich sogar auf die Suche nach Dave Brown und verlieren sich dabei im Großstadtdschungel von New York. „Paterson“ ist eine Geschichte über Freundschaft, über jugendlichen Leichtsinn und die harten Seiten des Lebens. Viele Wendungen verleihen der Novelle eine besondere Spannung, in der die urbane Schönheit einer Stadt erblüht, die Jugendträume regelrecht verschlingt und die Träumer dabei zerbricht oder reifen lässt.

In „Der Radfahrer“ zeigt Peter Nathschläger die Schattenseiten des kommunistischen Kuba auf. Franco fährt relativ erfolgreich Radrennen und widmet seinen Alltag gänzlich dem Training. Dafür erntet er von seinem sich prostituierenden Bruder jede Menge Spott. Franco hält allerdings an seinem großen Traum fest und wird von vielen Mitmenschen respektiert – von einigen allerdings auch grundlos schikaniert, was den Leser wütend und ratlos zurücklässt. Eine Kurzgeschichte über einen ganz großen Traum und die bittere Realität.

Der Pan“ ist das Glanzstück dieser Sammlung und überzeugt mit kunstvoll eingewobenen phantastischen Elementen. Peter Pan, der im kalten Licht der Realität seine schönen Gedanken verliert und nicht mehr fliegen kann, berührt nicht nur den Protagonisten dieser Geschichte, sondern auch den Leser. Zum Ende hin weiß man nicht mehr, ob Peter Pan wirklich nur eine ausgewachsene Psychose hat oder vielleicht doch der wundersame Junge aus den Kindergeschichten von James Matthew Berrie ist. „Der Pan“ offenbart seine Tragik in der Unverblümtheit, mit der Peter sein Leben beschreibt und der zärtlichen Sehnsucht des Protagonisten, die einem schier das Herz zerreißt. Auch ohne wirkliches Happy End eine Geschichte, die eine besondere Wärme ausstrahlt.

Das Gefühl, es würden einem Flügel wachsen“ handelt von der tragischen Freundschaft zweier Stricherjungen und einer unvorstellbaren Gewalttat. In Anbetracht der jüngsten Amokläufe ist diese Kurzgeschichte brandaktuell und widmet sich einem dramatischen Einzelschicksal. Zwischenzeitlich wird es einem etwas zu viel mit den Gewaltbeschreibungen, dennoch werden die Emotionen des Protagonisten so glaubhaft vermittelt, dass auch diese Geschichte überzeugt.

Mit „Mistah Zumbee“ hat sich Peter Nathschläger leider keinen Gefallen getan. Die Geschichte besitzt ein unfassbares Potential, das jedoch durch übertriebene Gewaltdarstellungen zerstört wird. Eigentlich ist die Geschichte um eine besondere Jungenfreundschaft trotz tragischer Momente sehr herzlich, doch irgendwann driftet das Ganze ins Makabre ab. Die Geschichte hätte wohl durch Mistah Zumbee einen phantastischen Einschlag haben sollen, doch was sich aufgrund dieser mysteriösen Gestalt ereignet ist letztlich nur noch geschmacklos. Das Ende lässt den Leser das Buch schließlich erst einmal aus der Hand legen – so etwas will man eigentlich nicht lesen und so etwas verpasst dem positiven Gesamteindruck dieser Sammlung einen dunklen Makel.

In „Erinnerungen auf die Welt werfen“ zeichnet Peter Nathschläger eine düstere Zukunftsvision, der eine eigenartige Schönheit innewohnt. Die Menschheit wird nicht bewusst vernichtet, sie wird lediglich nicht wahrgenommen. Die Kurzgeschichte ist in Form von Tagebucheinträgen verfasst und erzählt vom Schicksal einer Familie, die sich bis in den kalten Norden durchschlägt – in der Hoffnung, dass die Fremden ihnen nicht folgen würden. Doch wie man bereits an den anderen Beiträgen dieser Sammlung gesehen hat, gibt es nicht viel Hoffnung …

Nibis Amida blickt zur Erde“ trägt ebenfalls ein Science-Fiction-Gewand. Eine mysteriöse Asteroidengruppe treibt durch unser Sonnensystem und bald stellt sich heraus, dass diese durch meterdicke Taue miteinander vernetzt sind. Eine bemannte Weltraummission bringt Erstaunliches ans Licht: Der Asteroidencluster scheint einmal bewohnt gewesen zu sein. Doch was hat das alles mit einem homosexuellen Schriftsteller zu tun? Die Novelle „Nibis Amida blickt zur Erde“ ist sehr originell und wunderbar poetisch geschrieben und hält interessanten Wendungen parat. Neben „Der Pan“ die beste Geschichte dieser Sammlung.

Die titelgebende Geschichte „Wo die verlorenen Worte sind“ überzeugt mit einer sehr eigentümlichen Atmosphäre. Der Protagonist erlebt ein Frühstück mit seiner Frau, eine Zeit des Tages, die ihm immer am wichtigsten war. Doch ihm fehlen Erinnerungen, seiner Frau ebenso. Die Welt um sie herum ist leer geworden und auch die Worte scheinen verlorenen gegangen zu sein …

Neben den fragwürdigen Gewaltszenen in „Mistah Zumbee“ gibt es eigentlich nur einen Kritikpunkt an Peter Nathschlägers Werk: Das Leben ist oftmals über alle Maßen bitter, doch manchmal gehen Geschichten auch gut aus. Nachdem man die erste Hälfte dieser Sammlung gelesen hat, weiß man schon, dass eigentlich keine der Geschichten wirklich gut ausgehen kann – was ihnen etwas von ihrer Dramatik nimmt. Es wäre spannender, wenn es ab und an doch ein kleines Happy End gäbe, was den Leser in der nächsten Erzählung noch stärker um das Schicksal der Charaktere bangen lässt. Und auch wenn man eine Affinität zu tragischen und düsteren Geschichten hat, über kleine Lichtblicke würde man sich durchaus freuen. Nichtsdestotrotz überzeugt „Wo die verlorenen Worte sind“ mit herausragenden Charakteren, die in ihren Extremsituationen authentisch reagieren und aufzeigen, dass Menschen viele Fehler machen – und vor allem, warum sie diese Fehler machen. Peter Nathschläger überrascht mit einem unglaublichem Einfühlungsvermögen und auch wenn man mit einem der Protagonisten nicht richtig warm wird, seine Motive versteht man.

Peter Nathschlägers Sprache ist dabei stellenweise poetisch, stellenweise auch von einer beinahe brutalen Offenheit. Entsprechend dem Alter seiner Protagonisten und dem Milieu, aus dem sie stammen, enthalten die Dialoge viele Kraftausdrücke, was meist authentisch wirkt, hier und da aber auch etwas überzogen. Die Taschenbuchausgabe XXL verfügt über eine sehr große Schrift, was das Lesen sehr angenehm macht, jedoch den Lesespaß auch kürzer ausfallen lässt, als man bei der Dicke des Buches erwarten würde. Auch das Cover will nicht so recht zum Inhalt passen, das Buch dürfte damit keine besondere Aufmerksamkeit erregen. Der Preis ist dennoch absolut fair und „Wo die verlorenen Worte sind“ ist ein echter Geheimtipp für alle, die an außergewöhnlichen und glaubhaften Charakteren und dramatischen Schicksalen interessiert sind.


Fazit

„Wo die verlorenen Worte sind“ bietet originelle und düster-poetische Novellen und Kurzgeschichten mit homoerotischem Flair, denen man deshalb jedoch keinesfalls ihre literarische Qualität absprechen kann. Peter Nathschläger hat in jeder seiner Erzählungen außergewöhnliche Protagonisten geschaffen, deren Emotionen und Gedanken so einfühlsam geschildert werden, dass man von nahezu jeder Geschichte berührt wird. Ein besonderes Leseerlebnis für all jene, die kreative Ideen schätzen und sich aufrichtig mit tragischen Schicksalen auseinandersetzen möchten.


Pro & Contra

+ außergewöhnliche Charaktere
+ einfühlsam und authentisch
+ tragische Einzelschicksale
+ poetische und gleichzeitig harte Sprache
+ originelle Ideen

o oftmals sehr bitter und traurig

- Gewaltverherrlichung in „Mistah Zumbee“

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Peter Nathschläger (Februar 2012)