Journalistin auf Abwegen (Hillary Manton Lodge)

Verlag Francke, Juli 2010
Originaltitel: Plain Jayne, übersetzt von Rebekka Jilg
TB, 316 Seiten, € 12,95
ISBN 978-3868271836

Genre: Belletristik


Klappentext

Die erfolgsverwöhnte Journalistin Jayne Tate führt ein Leben auf der Überholspur. Was sie in die Hand nimmt, wird zu Gold. Doch der plötzliche Tod ihres Vaters hat sie aus dem Tritt gebracht. Das meint zumindest ihr Chef. Und so schickt er sie nicht wie erwartet auf Recherchetour, sondern verordnet ihr drei Wochen Zwangsurlaub. Was aber fängt eine 26-jährige Starreporterin mit so viel Freizeit an? Als sie über das Foto eines Amischmädchens stolpert, erwacht ihr Interesse. Warum nicht auf eigene Faust für eine neue Story recherchieren? Ihr Chef braucht es ja nicht zu erfahren. Sicher lauert hinter der Fassade der angeblich heilen Amischwelt eine interessante Geschichte. Und so schwingt sich Jayne mit Laptop, Blackberry und Digicam bewaffnet aufs Motorrad und begibt sich auf Spurensuche. Sie ahnt nicht, wie sehr diese Recherche ihr Leben und alles, woran sie je geglaubt hat, auf den Kopf stellen wird. Oder dass sie in dem attraktiven Levi Burkholder mehr findet als einen sympathischen Kontaktmann zur Außenwelt, bei dem sie ihr Handy aufladen kann...


Rezension

Ist sie womöglich ausgebrannt? Jayne Tate ist bereits mit 26 Jahren eine erfolgreiche Journalistin, aber in letzter Zeit gefallen ihrem Redakteur ihre Berichte nicht mehr. Ihr typischer Pfeffer, der vorher in ihr schlummerte, ist verpufft. Ob das mit dem Tod ihres Vaters zusammenhängt? Jayne bestreitet das vehement, hatte sie doch schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm. Genauso wenig wie zu ihrer Mutter und Schwester. Trotzdem bekommt sie Zwangsurlaub verordnet, in dem sie eigentlich in Ruhe wieder zu ihrem alten Selbst finden soll. Als Jayne ein Zeitungsausschnitt über die Amish in die Hände fällt, beschließt sie, in ihrem Urlaub eine Reportage über das Leben der Amish zu schreiben. Kurzentschlossen fährt sie einfach los, ohne Ziel und landet bei Levi Burkholder, einem begnadeten Tischler, der sie zudem noch direkt einer Amish Familie vermittelt. Dass es seine eigene ist, verschweigt er erst einmal, denn seit er sich entschlossen hat, in der Welt der Englischen zu leben, hat sein Vater ihn verstoßen. Die Burkholders nehmen Jayne freundlich auf und erklären ihr die Welt und Denkweise der Amish, soweit sie es vermögen. Schnell fühlt sich Jayne heimisch und geborgen, das Leben in einer großen Familie gefällt ihr und wider Erwarten auch die Beschaulichkeit, die in einem Leben ohne Elektrizität vorherrscht. Kein Telefon, kein Internet und Termine werden lediglich durch den Lauf der Natur vorgegeben. Die Männer arbeiten auf dem Feld und die Frauen im Haus. Selbst die kleinsten Kinder haben schon ihre Aufgaben und helfen fleissig mit.

Jayne schließt sofort Freundschaft mit Sara, der ältesten Tochter der Burkholders. Sara ist eine begabte Näherin und steht an einem Scheideweg, denn ihre Volljährigkeit und somit ihre Taufe und Aufnahme in die amische Gemeinschaft steht an. Eigentlich möchte sie aber Modedesignerin werden, dazu müsste sie aber ihre Familie verlassen und in eine Welt eintauchen, die ihr völlig fremd ist. Nachdem ihr Urlaub beendet ist, merkt Jayne, dass ihr die Familie sehr ans Herz gewachsen ist und sie nicht einfach wieder gehen kann. Sie möchte ihnen unbedingt bei einigen Problemen helfen, erkennt aber, dass sie erst ihr eigenes Leben wieder ins Reine bringen muss. Dazu gehört unbedingt eine Aussprache mit ihrer Mutter und ihrem Freund Shane. Denn Levi Burkholder berührt ihr Herz auf eine Weise, die sie bei Shane nie entdeckte. Wie sonst wäre ihr die Enthaltsamkeit in ihrer halbjährigen Beziehung so leicht gefallen?

Mit viel Witz, Esprit und Herz hat die Autorin eine wundeschöne Geschichte mit Tiefgang erzählt. Es geht nicht nur um die zwei Welten, die aufeinanderprallen, sondern auch um das eigene Entdecken. Was will man im Leben erreichen? Was ist wichtiger, Familie oder Karriere? Fragen, die sich ein jeder irgendwann mal stellt, und ohne große Klischees zeigt die Autorin anhand von Jayne mögliche Lösungen. Nicht nur, dass in ihrem Leben nicht alles stimmt, durch ihr Auftauchen wird auch anderen Menschen bewusst, dass es so nicht weitergehen kann. Zum einen ist da Sara, die zwar ihre Familie nicht verlassen möchte, aber andererseits Angst vor dem Leben draußen hat. Reicht ihre Begabung für eine erfolgreiche Ausbildung und Erfolg? Sie ist sich bewusst, dass sie dann auf sich selbst gestellt ist, denn die Regelungen der Amish sind sehr streng. Familienmitglieder werden verstoßen, mit ihnen darf nicht mehr kommuniziert werden, wenn sie der Welt der Englischen beitreten. Levi leidet sehr darunter, seine Familie nicht mehr regelmäßig sehen zu können und an ihrem Leben teilzuhaben. Durch seinen nahen Wohnsitz schafft er es zwar, ihnen manchmal zu begegnen, aber sein Vater hält sich streng an die Gebote und straft ihn mit Missachtung. Da aus Jaynes Sicht erzählt wird, bekommt man als Leser eine gute Übersicht über die Sichtweise und Gebote der Amish, nicht jede Gemeinschaft handelt gleich streng. Ihre Großmutter, die sich auch für ein Leben außerhalb der Gemeinde entschieden hat, hält den Kontakt und ermöglicht den Kindern und ihrer Mutter schon mal ein paar Ausflüge in die Welt der Englischen.

Die Atmosphäre ist das besondere in dieser Geschichte, die Ruhe und Beschaulichkeit und vor allem der Familienzusammenhalt. Aber auch hier ist nicht alles so rosig, wie es sich mancher vorstellt. Die Amishe sind Fremde in ihrem eigenen Land, sie werden belächelt und gedemütigt, meistens von Menschen, die ihre Lebensweise nicht tolerieren oder akzeptieren können. Die Probleme ohne Telefon stellen sich am eindringlichsten dann ein, wenn schnell ein Notarzt gebraucht wird. Die Kinder haben nicht wirklich eine Wahl, sie lernen zwar Lesen und Schreiben in der Schule, viel mehr aber auch nicht. Entscheiden sie sich für ein Leben in der Gemeinde, führen sie es traditionell und die Auswahl der Ehepartner ist sehr bescheiden. Verlockungen sind vielfältig, denn das andere Leben tobt direkt vor der Haustür. Hier eine endgültige Entscheidung zu treffen ist sehr schwer, da gehört schon ein gefestigter Charakter zu.

Die Charaktere sind nicht eindimensional, sondern mit viel Charme und Tiefgang geschildert. Sie passen sich Ereignissen an und reagieren manchmal verblüffend darauf. Auch die Hintertürchen, die sie sich schaffen, um an Annehmlichkeiten zu kommen, sind witzig und gewieft. Die Geschichte nimmt einen mit, man bangt mit Jayne, auch wenn man ihre Entscheidungen nicht immer gutheißen mag. Das Hin und Her mit Shane dauert zu lange, ihn mit zu ihrer Mutter zu nehmen war schon merkwürdig. Ihre Selbstironie hilft ihr durch manch schwierige Situation, einerseits ist sie ein modernes, motorradfahrendes Mädchen, andererseits lebt sie vor der Ehe enthaltsam. Ihre drei Freundinnen helfen ihr, wo sie können und relativieren einiges mit ihrer ganz eigenen Sichtweise. Mit kleinen Schritten nähert sich Jayne auch wieder ihrer eigenen Familie an, das Quilten, was sie ansatzweise bei den Amish gelernt hat, hilft ihr dabei. Ihre Wandlung ist authentisch, ihre Entscheidungen realistisch. Selbst die kleinsten Nebencharaktere sind noch hervorragend herausgearbeitet, angefangen bei Jaynes Freundinnen und Levis Mitarbeiter und Familie. Sie alle haben ihre ganz eigenen Eigenschaften, die oft ein Schmunzeln erzeugen. Es passiert einiges in der Geschichte, Langeweile existiert beim Lesen nicht. Der Schreibstil ist mit viel Ironie versehen, Jayne akzeptiert jederzeit die ihr fremden Gewohnheiten und versucht nicht, zu bekehren.

Natürlich ist Gott und die Bibel ein permanentes Thema, der Verlag Francke ist bekannt für seine christlich angehauchten Romane. Unterschwellig immer wieder vorhanden, aber nicht missionierend und auch nicht aufdringlich. Jayne glaubt halt an Gott und geht in die Kirche – aber das machen andere Protagonisten auch. Geschichten über und mit Amishen gehen untrennbar von dem Glauben an Gott, als Leser weiß man schon vorher, was einen erwartet. Störend ist es nicht sondern fügt sich harmonisch in das Gesamtkunstwerk ein. Dazu zählen auch das atmosphärisch schöne Cover und die gute Qualität des Francke Verlages.


Fazit

Witzig aber doch mit viel Feingefühl entdecken wir mit Jayne eine uns unbekannte Welt. Diese völlig andere Lebensweise fordert ein Auseinandersetzen mit den eigenen Werten, ein Überdenken der eigenen Situation. Hervorragend gespiegelt die innere Zerrissenheit und die Suche nach dem richtigen Weg. Es werden dem Leser keine allgemeingültigen Lösungen vorgesetzt, sondern er nimmt an einem diffizilen Entscheidungsprozess teil, den nicht nur Jayne durchlaufen muss. Die überaus gelungenen Charaktere verschmelzen zur eigenen Familie, die man nur sehr unwillig wieder aus der Hand gibt.


Pro und Contra

+ lockerer und lebendiger Erzählstil
+ Spannung durchgehend gehalten
+ interessante und vielschichtige Charaktere
+ stimmige Lokalitäten
+ gut recherchiert
+ Witz, Ironie und Situationskomik
+ Eindringen in unbekannte Welten

o Christliches wird unaufdringlich erwähnt

Wertung

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3/5