Ein dunkler Wille - Das Schicksal der Brüder Frankenstein (Kenneth Oppel)

ein dunkler wille

Beltz & Gelberg (Januar 2013)
Übersetzt aus dem Englischen von Gerold Anrich
384 Seiten, 16,95 EUR
ISBN 978-3-407-81133-2

Genre: Phantastik / Jugendbuch


Klappentext

Soll man die Toten wirklich ruhen lassen?

Nach dem Tod seines Zwillingsbruders Konrad lässt Victor Frankenstein alle Hoffnungen fahren. Alchemistische Weisheit, das Elixier des Lebens? – Abscheuliche Lügen und falsche Versprechungen! Nun will ihn auch noch seine große Liebe Elizabeth verlassen. Verzweifelt verbrennt Victor die Bestände der Dunklen Bibliothek. Allein ein metallenes Buch widersteht dem Feuer – und verheißt Zugang zur Welt der Toten. Victor ist elektrisiert: Wird er dort seinen Bruder wiederfinden? Ihn vielleicht ins Leben zurückholen können? Vergessen sind alle Vorsätze: Zusammen mit Elizabeth wagt Victor den Schritt in die Totenwelt. Viel zu spät merken sie, dass eine uralte Macht ihr Kommen bereits hungrig erwartet …


Rezension

Mit Abscheu im Herzen schaut Victor zu, wie die Bücher aus der Dunklen Bibliothek verbrennen. Diese sollten seinen Zwillingsbruder retten, doch obwohl er das Elixier des Lebens fertig gestellt hat, ist Konrad gestorben. Victor ist nur das schmerzhafte Pochen seiner rechten Hand geblieben, dort wo er sich hat zwei Finger abschneiden lassen, um seinen Bruder zu heilen. Seine vermeintliche Schuld und das Gefühl des Versagens kapseln ihn von seiner Familie ab. Er sieht gar nicht, wie sehr auch seine Eltern und Geschwister leiden. Und insbesondere Konrads große Liebe Elizabeth, die nach seinem Tod wieder frei ist und die Victor für sich gewinnen will – noch mehr will er jedoch seinen toten Bruder zurückholen. In der noch glühenden Asche entdeckt er ein Werk aus der Dunklen Bibliothek, das dem Feuer getrotzt hat: Ein Buch aus Metall, in dem sich der Schlüssel zur Totenwelt befindet …

Mit „Düsteres Verlangen“ gelang Kenneth Oppel eine stimmungsvolle und mitreißende Vorgeschichte zu Mary Shelleys „Frankenstein“, die hohe Erwartungen für eine Fortsetzung schürte. Der unerwartete Tod Konrads verlangte geradezu nach einem Roman, der ihn zurück ins Leben brachte, auch wenn die Geschichte damit vom Original abweicht. „Ein dunkler Wille“ nimmt sich genau dieser Problematik an, denn Victor kann seinen Bruder nicht loslassen – und er kann sein Versagen nicht akzeptieren. Er liebt seinen Zwillingsbruder über alles, doch gleichzeitig wollte er auch unbedingt der sein, der ihn heilt. Er wollte das Unmögliche schaffen und Bewunderung erfahren. Und Elizabeths Liebe gewinnen, die den besonnenen Konrad bevorzugt hat. Überhaupt war sein Zwilling ihm Zeit seines Lebens immer ein Stück voraus, in allem ein bisschen besser. Und so will Victor ihn nicht nur aus Liebe zurückholen, sondern auch, um zu beweisen, dass er der bessere Bruder ist.

Victors Zwiespalt wird dabei glaubhaft vermittelt: die lebenslange Konkurrenzsituation zwischen Konrad und ihm ist die Grundlage für sein Streben nach mehr. Mehr Wissen, mehr Kraft, mehr Bewunderung. Victor ist ein wacher Geist, der dem wissenschaftlichen Denken folgt, aber auch den dunklen Geheimnissen der Alchemie und des Okkulten nicht abgeneigt ist. Sein Ehrgeiz ist schier grenzenlos, doch die Gefühle seinem Bruder gegenüber sind aufrichtig. Auch wenn er dessen Liebe Elizabeth begehrt, die ebenfalls eine wilde Seite besitzt, diese jedoch ablehnt. Nach Konrads Tod plant sie, ins Kloster zu gehen und von Victors Entdeckung der Totenwelt will sie zunächst nichts wissen. Doch letztlich lässt sie sich ebenso wie ihr gemeinsamer Freund Henry hinreißen, die Welt der Geister zu betreten. Tatsächlich begegnen sie dort Konrad, dessen Seele darauf wartet, weiter zu ziehen.

„Ein dunkler Wille“ entwickelt die gleiche finstere Dynamik wie „Düsteres Verlangen“ und bietet dennoch eine vollkommen neue Geschichte, die die des Vorgängers nahtlos fortführt. Statt Alchemie stehen nun der Okkultismus und ein uralter Kult im Vordergrund. Kurz nachdem Victor die Geisterwelt betreten hat, wird unter dem Anwesen der Frankensteins ein altes Höhlensystem voll seltsamer lebendiger Malereien entdeckt. Die Inschriften sind in unbekannten Zeichen verfasst, doch in der Welt der Toten entdeckt Victor, dass diese alte Kultur Tote wiederauferstehen lassen konnte. Victor sieht seine Chance, seinen Bruder zurückzuholen und erschafft einen neuen Körper für Konrad. Frankensteins Monster scheint hier Gestalt anzunehmen, doch die Geschichte entwickelt sich anders als gedacht. Auch wenn man immer wieder böse Vorahnungen hat, überrascht Kenneth Oppel mit unerwarteten Wendungen.

Der Kontakt mit der Totenwelt verändert zudem die Charaktere, in dem er ihre innersten Sehnsüchte verstärkt. So verliert Victors ohnehin extremer Ehrgeiz jedes Maß und seine unterschwellige Überheblichkeit wird zu Ignoranz. Elizabeth benimmt sich hingegen auffallen aggressiv und auch ein wenig schamlos, während der stille Henry seinen Mut entdeckt. Die Welt der Geister treibt sie ein Stück weit in den Wahnsinn – ebenso wie die Verzweiflung um Konrads Tod und die irrsinnige Hoffnung, ihn zurückzugewinnen. Die Handlungen der Charaktere sind meist nachvollziehbar, auch wenn man manchmal schier verzweifelt, dass sie mehr gegeneinander als miteinander arbeiten. „Ein dunkler Wille“ erfüllt schließlich die Erwartungen und gelingt dabei ein Ende, dass es zu einer passenden Vorgeschichte des Literaturklassikers macht. Übrigens lässt sich der Roman auch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen, da wichtige Details Erwähnung finden.

Wie schon der Vorgänger ist auch „Ein dunkler Wille“ als Hardcover mit Spotlackprägung erschienen. Dem schwarzen Schmetterling kommt eine besondere Bedeutung in der Geschichte zu und passt damit hervorragend. Zudem bildet er wieder ein Rorschach-Motiv, das die innere Zerrissenheit und den Größenwahn Victors symbolisiert. Ein schön gestaltetes Buch zu einem guten Preis.


Fazit

„Ein dunkler Wille“ setzt die Geschichte um die Brüder Frankenstein nahtlos fort und bietet dabei eine stimmungsvoll inszenierte, neue Idee, die den Weg Victor Frankensteins auf erschreckende Weise vorzeichnet. Die unbändige Liebe zu seinem Zwilling und sein Größenwahn treiben ihn in den Abgrund okkulter Machenschaften, die ihm seinen Bruder kurzfristig näher bringen. Eine unheimliche Geschichte, die mitreißt und einen finsteren Charme versprüht.


Pro & Contra

+ innovativ und mitreißend
+ Victors innere Konflikte
+ authentische, facettenreiche Charaktere
+ erschreckende und passende Vorgeschichte zu „Frankenstein“
+ dichte, unheimliche Atmosphäre
+ stimmungsvoll inszeniertes, historisches Setting

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5

Rezension zu "Düsteres Verlangen - Die wahre Geschichte des jungen Victor Frankenstein"