Das Schneemädchen (Eowyn Ivey)

Kindler (September 2012)
Hardcover, 464 Seiten
ISBN 978-3463406213
€ 19,99 [D]

Genre: Belletristik


Klappentext

Mabel und Jack sind kinderlos geblieben. In dem Wunsch, neu anzufangen, ziehen sie als Siedler nach Alaska. Doch das harte Leben in der Wildnis setzt ihnen zu. Mit dem ersten Schneefall überkommt die beiden ein verloren geglaubter Übermut, und sie bauen zusammen ein Kind aus Schnee. Tags darauf entdecken sie zum ersten Mal das feenhafte blonde Mädchen zwischen den Bäumen am Waldrand.

Eine hinreißend erzählte Geschichte über Einsamkeit und Lebensfreude, Liebe und Freundschaft, einen Kinderwunsch und dessen bittersüße Erfüllung.


Rezension

Mabel und Jack trauern im Stillen, denn es ist ihnen nicht vergönnt, Nachwuchs zu bekommen. Nach nur wenigen Wochen mussten sie ihr Mädchen wieder der Erde übergeben und besonders Mabel kann diesen Schicksalsschlag nicht verarbeiten. Auch die Flucht aus der Großstadt in die beinahe unbewohnte Natur Alaskas einige Zeit später, kann ihnen nicht darüber hinweg helfen. Dabei hatte Mabel so viel Hoffnung in ihre Idee gelegt. Wenn sie erst all die mitleidigen Gesichter ihrer Familienangehörigen und Bekannten mit ihren Kindern nicht mehr sehen muss, würde sich schon alles zum Guten wenden. Jedoch hat sie sich nicht nur geirrt, was das Vergessen ihres Unglücks angeht, sondern hat auch das Überleben in der unerbittlichen Wildnis unterschätzt. Das Land ist erbarmungslos und wenn die Ernte misslingt oder das Brennholz nicht reicht, würden sie erfrieren oder verhungern. Obwohl Jack alles Erdenkliche für sie mitmacht, kann sie ihm nicht die Liebe entgegenbringen, die er verdient. Es scheint kein Entrinnen zu geben, außer dem freiwilligen Tod. Doch dann eines Abends kommt der erste Schnee. In Mengen, die sich Mabel hätte nie träumen lassen, noch weniger hätte sie erwartet, dass ihr Mann und sie noch so viele kindliche Freude empfinden könnten. Gemeinsam bauen sie ein Schneemädchen. Statten es mit Jacke, Schal und Handschuhen aus und schenken ihr blondes Haar und ein bezauberndes Gesicht. Am Morgen danach, als Mabel hinausschaut, ist das Schneemädchen verschwunden, samt der Kleidung, und Mabel könnte schwören ein echtes Mädchen im Wald herumspringen gesehen zu haben …

Eowyn Ivey taucht mir ihrem Debütroman aus dem Nichts auf wie das Schneemädchen in ihrer Geschichte selbst. Jeder sollte nach dem schlicht aber märchenhaft anmutenden Buch greifen und es sich bei den ersten Schneeflocken des Jahres gemütlich machen. „Das Schneemädchen“ ist eines der Bücher, das einen nicht loslässt. Sobald man es weglegt, möchte man weiterlesen und noch lange nach dem Beenden begleitet es einen in Gedanken durch den Tag. Es ist eine Mischung aus Märchen und historischem Auswanderer-Abenteuer. Eine karge Welt erwartet den Leser, in der nicht einmal Platz für Schicklichkeit zu sein scheint. Eine nicht bedachte Tatsache, die Mabel sehr stark zusetzt. Mit ihrer Etikette und sonstige Lebensweise wirkt sie wie ein Fremdkörper in der herben Natur Alaskas. Bereits mit den ersten Seiten offenbart sich eine drückend melancholische Atmosphäre. Mabels Gefühlswelt könnte nicht düsterer sein und die Schwierigkeiten beim Bebauen der Acker machen es nicht besser. Jack und sie sind beinahe fünfzig Jahre alt, ihre besten Jahre sind vorbei. Zwar bemüht sich ihr Mann, aber auch das tägliche, stundenlange Abmühen im Feld wirft sie hinter ihren Zeitplan. Mabel ist sich sicher, dass sie behilflich sein könnte, es macht ihr nichts aus sich schmutzig zu machen, aber Jack möchte seine Rolle als Ernährer nicht teilen. In diesen Passagen sind die Charaktere beklemmend realistisch. Schön ist, dass die Perspektive zwischen Jack und Mabel hin und her wandert, dadurch lernt der Leser beide sehr gut kennen. Die Traurigkeit beider ist beinahe greifbar und steckt an. Nicht selten schleichen sich Tränen in die Augenwinkel und lassen die Wörter auf den Seiten verschwimmen. Neben der Charakterdarstellung ist die Sprache für die Emotionalität des Romans verantwortlich. Fließend variiert Eowyn Ivey ihre Erzählgeschwindigkeit, immer perfekt an den Inhalt angepasst. Ihre Wortwahl ist einfach aber stimmig, ebenso die Satzkonstellationen und Stilmittel.

Die andere Hälfte der Geschichte, wenn die Sonne nicht mehr richtig scheinen mag und der Schnee zu fallen beginnt, handelt vom Schneemädchen. In einem ungewohnten Stimmungshoch haben Mabel und Jack dieses aus Schnee gebaut, es eingekleidet und machten ihr ein Gesicht, nur um am nächsten Tag festzustellen, dass es nicht mehr da ist. Stellt sich die Frage, ob es ein Zufall ist, dass Mabel von da an ein Mädchen aus Fleisch und Blut im Wald herumspringen sieht? Es ist genauso gekleidet wie ihr Ebenbild aus Schnee und es hat einen wilden Fuchs an seiner Seite. Auch Jack hat es gesehen, aber im Gegensatz zu Mabel, redet er nicht darüber. Bis sich Mabel fragt, ob sie nicht doch nur unter Hüttenkoller leidet, vor dem man sie bereits gewarnt hat. So ergreifend der Kampf um Liebe und Überleben ist, wenn das Schneemädchen nicht da ist, so magisch sind die Passagen im Winter. Eowyn Ivey nutzt einen kleinen Kniff, die Gespräche mit dem Schneemädchen ohne Anführungsstriche zu schreiben, stattdessen sind sie kursiv dargestellt, was in der Regel eher für Gedanken verwendet wird. Ein Geniestreich, wie sich herausstellt, mit verblüffender Wirkung. Sehr lange – wenn nicht sogar bis zum Schluss - kann man sich nicht sicher sein, ob das alles nur in den Köpfen des Ehepaares stattfindet. Jedes der wenigen Worte, das das Mädchen spricht, jagt einem einen Schauer über den Rücken, spätestens wenn es seinen Namen endlich offenbart.


Fazit

Das Schneemädchen“ ist schlichtweg wunderschön. Die Mischung aus ergreifenden Darstellungen eines melancholischen Paares, das sich in die Wildnis flüchtet, um ihren Kummer zu vergessen, und den märchenhaft anmutenden Begegnungen mit dem Schneemädchen funktioniert beeindruckend gut. Es handelt sich um ein Buch, das zeitlos ist und dazu verleitet, es immer wieder aus dem Regal zu ziehen und einzutauchen. Uneingeschränkt empfehlenswert.


Pro und Kontra

+ realitätsnahe Charaktere
+ sehr schöner Sprachstil
+ immer wieder lesbar
+ das Schneemädchen …
+ … und die Gespräche mit ihr
+ Märchen für Erwachsene

Beurteilung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5