An Land gehen (Ben Marcus)

marcus land

Hoffmann und Campe, 11.9.2013
Originaltitel: Leaving the Sea (7.1.2014)
Übersetzt von Gerhard Henschel und Thomas Melle
Gebunden, 400 Seiten
€ 22,99 [D] | € 23,60 [A] | CHF 36,90
ISBN: 978-3-455-40336-7

Genre: Belletristik


Der Autor

Der US-Schriftsteller Ben Marcus hat mehrere Jahre als Mitherausgeber für die Literaturzeitschrift Fence gearbeitet, Essays und Short Storys u.a. in „The New Yorker“, „The New York Times“, „Harper’s“ und „Time“ veröffentlicht, und er ist Dozent für Creative Writing an der New Yorker Columbia University. Sein erstes Buch mit Short Storys, The Age of Wire and String, kam 1995 heraus, gefolgt von den Romanen Notable American Women (2002) und The Flame Alphabet (2012). Nach dem Roman Flammenalphabet ist An Land gehen das zweite Buch von Marcus, das in deutscher Übersetzung vorliegt.


Inhalt

Was hast du getan? | Das Treueprotokoll | Willst du bei mir sein? | Ich kann viele nette Dinge sagen | Rollingwood | Krimis mit meiner Mutter | Über das Nichterwachsenwerden | Meine Ansichten zur Dunkelheit | Die Vormittagsrunde | Das Vaterkostüm | Kinder, haltet euch die Augen zu | Erste Liebe | Knochen | An Land gehen | Die Moore


Rezension

Der vierzigjährige Paul Berger besucht ein Familientreffen bei seinen Eltern in Cleveland/Ohio (Was hast du getan?). Seine Eltern, Schwester und Schwager verhalten sich nach den Jahren, als hätten sie einander am Vortag zuletzt gesehen. Die Stimmung ist sehr angespannt. Paul benimmt sich beim Abendessen daneben und wird zunehmend unfreundlich. Einen anderen Eindruck erweckt er, als er seine Frau anruft. In dieser Story haben die Leser mehr Informationen über Pauls Gedanken, während seine Familie mehr über seine Vergangenheit weiß, woraus Spannung erwächst. Paul vergiftet die Atmosphäre, man erfährt jedoch nicht, warum. Verstanden wird er nur auf Grundlage der Erfahrungen. Auch wenn sich Kind und Eltern Jahre nicht gesehen haben, sie sind für einander, was sie immer schon waren. Dass sie nach solch einer langen Zeit als andere Menschen aufeinander treffen, scheint sich außer Paul niemand vorstellen zu können. Paul hat eine Wahrnehmung dafür, dass er als Konstante gesehen wird und entspricht aggressiv den Erwartungen der Familie, ohne etwas dagegen machen zu können. Darunter leidet er. Er hat seine Frau nicht mitgenommen, weil er von ihr nicht so gesehen werden will. Seine Familie glaubt ihm nicht, dass er nicht mehr alleine lebt.

Marcus verwendet in seinen Geschichten keine etablierenden Szenen, in denen es so etwas wie einen Überblick über grundlegende Fragen und Zusammenhänge gäbe. Er stellt nicht einmal seine Hauptfiguren vor oder beschreibt eine Ausgangssituation. Er zieht uns unmittelbar ins Geschehen: „Als Pauls Flug in Cleveland landete, warteten sie bereits auf ihn.“ (Was hast du getan?); „Beim Anruf hatte es geheißen, er solle alleine kommen,...“ (Das Treueprotokoll); „Fleming wachte in der Dunkelheit auf, und sein Zimmer fühlte sich lose an und schaukelte so schlimm, dass er sich am Bett festhielt.“ (Ich kann viele nette Dinge sagen); „Es ist noch dunkel, als das Heulen ausbricht, und so weiß Mather, dass es noch früh ist.“ (Rollingwood).

In Das Treueprotokoll führen Menschen ständig Katastrophenübungen durch. Sie werden in dieser düsteren und komischen Geschichte auf funktionierende und asoziale, ihre Nächsten verleugnende Wesen reduziert. In Willst du bei mir sein? kommt ein Amerikaner nach Düsseldorf, um sich behandeln zu lassen, erfährt, dass er vermutlich einen Hirntumor hat und wird zur weiteren Untersuchung wieder nach Hause geschickt. Während der Tage in Düsseldorf wartet er auf seine Freundin, von der er sich nach ihrer Ankunft trennt. Dinge, die ihm einfallen, erweisen sich als mögliche Grabinschriften. Der Anwendungsbereich der Sprache verengt sich zunehmend. Marcus’ Protagonisten können oft nicht einmal (mehr) mit den Menschen kommunizieren, die sie lieben.

Ein Literaturdozent verdient sich mit einem Kurs über kreatives Schreiben während einer Kreuzfahrt Geld dazu (Ich kann viele nette Dinge sagen). Im Kurs wie auch den Telefonaten mit seiner Frau zeigt sich, dass Interaktion von Menschen mittels Sprache aus vielerlei Gründen unaufrichtig sein kann. Man findet nicht zueinander, weiß nie, was das Gegenüber meint, hört nicht wirklich zu.

Rollingwood erzählt von dem passiven Mather, der in seinen sozialen Beziehungen ein Opfer ist, dafür aber anscheinend keine Wahrnehmung besitzt. Er stößt ständig auf Hindernisse, seine Frau verschwindet, die Fahrgemeinschaft holt ihn nicht zur Arbeit ab, die Kindertagesstätte ist geschlossen. Subtext in Dialogen versteht er nicht, nicht einmal, dass sein Arbeitgeber ihn durch billigere Zeitarbeiter ersetzen will. Eine absurde Verkettung von nicht erklärten Ereignissen, die mit seiner Isolation und möglicher Arbeitslosigkeit endet, ihn aber hoffnungsvoll zurücklässt. Menschen denken etwas über andere, sprechen mit anderen, verhalten sich gegenüber anderen Menschen. Alle drei Möglichkeiten haben eins gemeinsam: sie sind toxisch – in den Erzählungen von Ben Marcus.


Fazit

Marcus behandelt in seinem zweiten Erzählungsband moderne Sprache, Kommunikation und die Wirkungen auf die menschliche Psyche. Dies macht er komisch wie auch ernsthaft, bisweilen surreal. Erzählt wird traditionell wie auch experimentell. Marcus verbindet das Mysterium mit der Sprache, die er wörtlich nimmt, auseinanderbaut und auf ihre Bedeutung untersucht. Er lässt sich neue Begriffe und Phrasen für bekannte einfallen, die plötzlich fremdartig wirken. Kaum ein Schriftsteller hat je so die Grenzen dessen ausgelotet, was ein Satz sein kann und zu was Sprache in der Lage ist.


Pro und Contra

+ zweiter Erzählungsband von einem der kreativsten und besten Schriftsteller der Gegenwart
+ brillante Erzählungen über die Desintegration des Individuums und des Gemeinwesens
+ demonstriert intelligent den Zusammenhang von Vieldeutigkeit und Bedeutungsleere menschlicher Kommunikation

Wertung: sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5