Wild (Lena Klassen)

wild

Drachenmond Verlag (Mai 2013)
Taschenbuch, 384 Seiten, 14,90 EUR
ISBN: 978-3-931989-79-8

Genre: Dystopie /Jugendbuch


Klappentext

Gezähmte Gefühle.
Eine Welt ohne Krankheit und Kummer.
Kein Leid und keine Leidenschaft.

Einmal wöchentlich bekommt jeder in “Neustadt” seine Glücksinjektion. Trotzdem ist die siebzehnjährige Pi nicht so glücklich wie alle anderen. Stimmt etwas nicht mit ihr? Oder warum darf sie nicht mit Lucky zusammen sein, ihrem besten Freund? Anders zu sein ist gefährlich, denn hinter dem Zaun, der “Neustadt” umgibt, liegt die Wildnis. Dort herrschen noch Krankheit und Gewalt – und dorthin werden alle verbannt, die aus der Reihe tanzen.
Dann geschieht etwas Unfassbares: Die Glücksdroge versagt. Und plötzlich steht Pi vor der Entscheidung ihres Lebens: Liebe oder Freiheit?


Rezension

Während in Neustadt alle auf einer rosaroten Wolke schweben, die sie gleichermaßen glücklich wie gleichgültig macht, schwirrt um Pis Gedanken nur grauer Nebel. Ihre Gefühle sind gedämpft, sie ist tollpatschig und nimmt ihre kuriose Welt mit einem Schulterzucken hin. So schlecht ist diese auf den ersten Blick auch nicht: Alle schwimmen im Glücksstrom, es gibt keine Krankheiten, keinen Hunger – und keine gefährliche Leidenschaft. Die Menschen leben geschützt hinter einer Mauer, in einer sterilen Stadt ohne ekelhaftes Getier oder Gestrüpp. Pi scheint die einzige zu sein, die nicht gänzlich zufrieden ist. Obwohl sie jede Woche ihre Welle bekommt, bleibt alles taub und dumpf. Bis eines Tages die Glücksdroge versagt. Pi lernt wilde Gefühle und klare Gedanken kennen. Aus dem schusseligen Mädchen wir eine scharfsinnige junge Frau, die erkennt, wie krank ihre Gesellschaft ist, und der letztlich nur die Flucht in die Wildnis bleibt …

Die erste Hälfte von „Wild“ liest sich seltsam, denn die Geschichte wird aus Pis Sicht erzählt – und diese schwebt zu Beginn noch in ihrer grauen Wolke. Ihrer besten Freundin Moon wurde ausgerechnet Lucky als Freund zugeteilt, der einzige Junge, den Pi auf ihrer Liste stehen hatte. Aber zunächst ist das für Pi schon okay. Als ein Arbeiter vom Gerüst stürzt und stirbt, ist es ihr fast ebenso gleichgültig wie all den anderen. So richtig glücklich ist Pi allerdings nie. Sie kann sich schlecht konzentrieren und fällt ständig hin, sie fühlt sich meistens müde und ausgelaugt. Doch als die Glücksdroge bei ihr versagt, lernt man eine ganz andere Pi kennen. Ein intelligentes Mädchen, das für ihre Liebe kämpft, das Angst hat und weint und sich immer wieder selbst überwindet. Die Nebencharaktere kommen dabei etwas zu kurz: Die meisten sind interessant und haben ihre großen Momente, doch insgesamt bleiben sie blass. Der Roman konzentriert sich einfach zu stark auf Pi. Einzig Orion, ein Schulkamerad, macht eine spannende Wandlung durch.

Neustadt ist ein utopisches Paradies, das einen hohen Preis verlangt: Die normalen Bürger werden mit Hilfe der Glücksdroge in rosa Watte gepackt. Jedem wird ein Partner zugeteilt und jedes Paar darf zwei Kinder bekommen, ein Junge und ein Mädchen. Bei diesen Kindern kann man sich, je nach finanziellen Möglichkeiten, auch noch aussuchen, welche Eigenschaften sie haben sollen. Schönheitsoperationen erledigen dann den Rest und so hat fast jeder ein auf seine Bedürfnisse abgestimmtes Kind. Damit auch keiner das System hinterfragt, wird Angst verbreitet: Vor der Wildnis mit ihren Krankheitserregern. Vor den gefährlichen Emotionen, die Menschen in Monster verwandeln. Man kann sich als Leser kaum erklären, warum so viele Menschen diesen offensichtlichen Schwachsinn schlucken. Allerdings muss man bedenken, dass die meisten Menschen in Neustadt im Glücksstrom schwimmen – sprich, fast alle stehen unter Drogen. Sie sind zwar „glücklich“, doch gleichzeitig betäubt und klein gehalten.

Der zweite Teil des Romans, der hauptsächlich in der Wildnis spielt, stellt ein gelungenes Kontrastprogramm dar: Kein Überfluss, keine bunte, glückliche Welt. Stattdessen Natur, Entbehrungen und Freiheit. Und vor allem: Man darf man selbst sein. Solange, bis ein Jäger kommt. Denn die Oberschicht der zivilisierten Städte hat es sich zum Freizeitvergnügen gemacht, die Wilden zu jagen. Nach der rosa Wolke der ersten Buchhälfte kommt eine bittere Wahrheit nach der anderen ans Licht. Dabei werden auch Logiklöcher relativiert und für die meisten offenen Fragen findet Lena Klassen zufriedenstellende Antworten. „Wild“ entpuppt sich als beklemmende Dystopie, die eine Welt illustriert, in der fast alles schief gegangen ist. Einige Szenen sind dermaßen menschenverachtend, dass einem beim Lesen ganz flau im Magen wird. Bis zum Ende werden dabei Überraschungen geboten, auch eine ziemlich böse. Nicht jedes Buch muss ein Happy End haben, aber ob man ausgerechnet im Jugendbuchbereich ein solches Ende wählen muss, ist fraglich.

Die Idee und auch das Setting sind unheimlich spannend, doch an der Umsetzung hapert es stellenweise. Es fällt einem als Leser schwer, in die Geschichte hineinzukommen, weil die Welt, in der alle unter einer Glücksdroge stehen, weit von unserer alltäglichen Gefühlserfahrung entfernt ist. Obwohl alle glücklich sind, hat man ständig ein ungutes Gefühl und kann nicht fassen, wie gleichgültig und dümmlich diese Menschen reagieren. Und dass ein solches System tatsächlich funktioniert. Auch Pis Gefühlswelt ist schwer nachzuvollziehen, immerhin wird ihr eine Dröhnung verpasst, die sie zu einer tollpatschigen grauen Maus macht. Erst als Pi ihre wilden Gefühle entdeckt, wird man warm mit ihr. Und ihre Wandlung wird von Lena Klassen glaubhaft geschildert. Es macht Spaß, mit Pi zusammen ihre Ängste, Hoffnungen und Träume zu entdecken. Sie ist auch nicht die typische Jugendbuchheldin, die von allen begehrt wird und außergewöhnlich stark ist. Sie ist ein sympathisches Mädchen, das mit dem Mut der Verzweiflung kämpft und Fehler macht, das von ihren neuen Emotionen überfordert ist und diese gleichzeitig nicht mehr missen will.

„Wild“ sieht man auf den ersten Blick gar nicht an, dass das Buch aus einem Kleinverlag stammt. Das professionelle Cover sieht wunderschön aus und das Taschenbuch hat eine gute Qualität. Die Druckgröße liest sich angenehm und jede Seite mit Kapitelanfang wurde am oberen Rand mit Blättern illustriert. Den Preis ist für die Seitenzahl und Ausstattung absolut okay.   


Fazit

„Wild“ beginnt in einer bunten und verdrehten Welt, in der alle Menschen glücklich sind und dümmlich vor sich hinlächeln – sogar, wenn das eigene Kind stirbt. Die rosarote Fassade bröckelt im Laufe des Romans ab und enthüllt eine menschenverachtende Dystopie, in der die Protagonistin Pi nicht die große Weltenverbesserin ist, sondern einfach ein Mädchen, dass seine Gefühle kennenlernt und um das Recht zu fühlen kämpft. Im Detail ist „Wild“ nicht wirklich rund und die meisten Nebencharaktere bleiben blass – doch der Roman hat einige starke Momente, die berühren und nachdenklich stimmen.


Pro & Contra

+ interessantes Setting
+ glaubhafte Schilderung von Pis innerer Wandlung
+ stimmungsvolle zweite Hälfte
+ spannender Kontrast zwischen Neustadt und der Wildnis
+ einige herausragende Formulierungen
+ wunderschönes Cover

- zu blasse Nebencharaktere
- Logikschwächen, die erst spät relativiert werden
- überstürztes und unnötig bitteres Ende

Wertung:

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5


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Tags: Jugenddystopie