Femme fatale (Jiří Kratochvil)

kratochvil femme

Braumüller Literaturverlag 2011
Originaltitel: Femme fatale (2010)
Übersetzt aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve und Christa Rothmeier
Gebunden, 257 Seiten
€ 19,95 [D] | € 19,95 [A] | CHF 28,50
ISBN: 978-3-99200-050-0

Genre: Belletristik


Autor

Der tschechische Schriftsteller Jiří Kratochvil wurde 1940 in Brünn geboren. Von 1968-1989 unterlag er einem Publikationsverbot, veröffentlichte aber in Untergrundverlagen. In den 1990er Jahren gehörte er zu den wichtigsten Autoren der tschechischen Postmoderne. Zu seinen Auszeichnungen gehören der britische „Tom-Stoppard-Preis“ (1991) und Tschechiens bedeutendster Literaturpreis, der „Jaroslav-Seifert-Preis“ (1999). 


Inhalt

Die Zeit in der Tschechoslowakei seit der Samtenen Revolution vom November und Dezember 1989 bedeutet für Kateřina „Katka“ Káníčková nicht nur eine neu gewonnene Freiheit vom Sozialismus, sondern vor allem eine der sexuellen Freiheit. Katka trinkt viel Alkohol, hat häufig wechselnde Liebhaber und benutzt die dabei gewonnenen Einsichten und Erfahrungen für ihre literarische Entwicklung. Bis auf einen Mann, Zdeněk Šťastný, bedeuten ihr alle Bekanntschaften nichts. Katka veröffentlicht die Erzählungssammlung „Fallstricke“, ihren Erstling, der gleich ein internationaler Erfolg wird, weil er wie kein anderes Buch den Geist der Zeit spiegelnd vermarktet wird. Katka wird zur Lichtgestalt der jungen Wendeliteratur erhoben, die Medien fordern nun ihren großen Roman ein. Langsam verschwindet sie in der Bedeutungslosigkeit. Sie verstrickt sich in ein Netz aus Schein, demütigt im Zuge ihrer Materialbeschaffung für den Roman einen gelähmten Mann so grausam, dass der sich das Leben nimmt. Die Mutter des Mannes gibt Katkas Ableben in Auftrag. Überraschend findet Katka sich nach ihrer Ermordung im Brünn des Jahres 1990 wieder.


Rezension

Die Hauptfigur des Romans, Kateřina „Katka“ Káníčková, ist fatalistisch, lebt sexuelle Eskapaden, die quälerische Auswüchse annehmen. Bedingungslos unterwirft sie ihr Leben und das der Menschen, die sie umgeben, ihrem Schreiben. Ihre Vorstellung, die sie von kreativer Freiheit entwickelt, ist selbstzerstörerisch.

Kratochvils Roman besteht aus zwei Teilen mit unterschiedlichen Erzählern. Im ersten Teil erfahren wir die Geschehnisse zu Lebzeiten Katkas aus der Ich-Perspektive des Sportlehrers Zdeněk. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter, einige Liebschaften und ist nicht an Literatur interessiert. Er erkennt den Doppelcharakter Katkas, wenn er die Vorstellung entwickelt, es würden zwei existieren, die beim Sex und, jenseits dessen, „das wundervolle weibliche Wesen“. Gebrochen wird seine Perspektive auf den letzten vier Seiten des Teils, während seines Mallorcaurlaubs, mit einem Zeitsprung in das Jahr 2009. Nach ungefähr der Hälfte des Romans beginnt der zweite Teil, wieder im Januar 1990. Die Ich-Erzählerin hat das Bewusstsein und das Gedächtnis Katkas, weiß aber nicht, was sie ist: Katka selbst, ein Klon? Lange Zeit bleibt dies völlig im Dunkeln, wir akzeptieren die Erzählerin jedoch als eine Repräsentation Katkas. Im vierten Kapitel schrumpft Katka, ab dem fünften gibt es eine andere Erzählinstanz.

Die Teile werden durch wenige Wiederholungen verbunden. So erlebt der zwölfjährige Vasěk in beiden Teilen eine Kollision mit einem Auto. Vasěks Bedeutung ist im ersten Teil unklar, im zweiten wird seine Beziehung zu Katka einsichtig. Beide Katkas existieren gleichzeitig, können sich sehen, aber nicht treffen. Versuche der einen Katka, mit der anderen Kontakt aufzunehmen, scheitern nicht nur, sondern haben unschöne Folgen für Dritte. Katka reflektiert diese Folgen im Zusammenhang von Überlegungen, welches ihrer beiden sehr unterschiedlichen Leben für welches die Strafe sei. Diese Gedanken führen zu der Frage, was die Hölle sei. Einmal wird gefragt, ob man den Papst erkennt, wenn man ihn als Tankwart im Blaumann sieht. In Katkas zweitem Leben springt ein Mann in den Tod, den Katka in ihrem ersten Leben schon einmal tot im Schnee liegen sah.

Die beiden parallelen Leben von Katka sind ein freies, rücksichtsloses und ein Restriktionen unterworfenes. Zwar werden sie in zwei hintereinander geschalteten Teilen erzählt, laufen aber offenbar zeitgleich ab und werden dadurch zur Doppelgängerexistenz, nicht zur Wiederholung in der Variation. Leben Eins folgt Vorstellungen von Realismus, Leben Zwei von Phantastik. Hier begegnet Katka einer Repräsentation Rudolfs II., der von 1576-1611 König von Böhmen war, und einem Mann, der zugleich Löwe und Greif ist und damit das Wappentier aus dem kleinen Wappen der tschechischen Republik repräsentiert.

Kratochvil gelingt es mit Leichtigkeit, in seinem Roman die Wandlung des Realistischen in das Phantastische zu vollziehen. Er entwickelt das Phantastische des zweiten Teils gleichsam aus der Wirklichkeit des ersten Teils. Dadurch wird das Zeichenhafte der Erzählwirklichkeit des ersten Teils deutlich, der seinen Realismus durch die Verbindung zum zweiten Teil verliert. Um Teil Eins zu verstehen, muss man Teil Zwei gelesen haben, den man nur verstehen kann, wenn man Teil Eins gelesen hat.


Fazit

Kratochvil hat mit Femme fatale einen Roman über Kreativität und Systemgrenzen, über Leben und Literatur, Liebe und Ausbeutung, Konstruktionen und Repräsentationen geschrieben, der keine leichte, aber dennoch eine hedonistische Lektüre erlaubt, zudem sprachlich sehr klar und schön ist.


Wertung: sterne5
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lektüreertrag: 5/5
Preis/Leistung: 5/5