Gewäsch und Gewimmel (Brigitte Kronauer)

kronauer gewaesch

Klett-Cotta, 2013
Gebunden, 612 Seiten
€ 26,95 [D] | € 27,70 [A] | CHF 38,90
ISBN: 978-3-608-98006-6

Genre: Belletristik


Umschlagtext

Im Wartezimmer der mitfühlenden Krankentherapeutin Elsa hinterlassen alle ihre unsichtbaren Spuren: Ob jung oder alt, reich oder arm, deprimiert oder verliebt, hier kreuzen sich Lebensgeschichten, Sehnsüchte und Zeitungslektüren. Doch nachts bedrängen die Geständnisse der Patienten die wachliegende Elsa ...


Rezension

Stellen wir uns eine Bühne vor, auf ihr eine Vielzahl von Menschen, die miteinander und durcheinander reden, alleine, zu zweit oder mehreren. Jemand mit einem Aufnahmegerät geht auf dieser Bühne umher, hält mal hier, mal da, um zu dokumentieren, was irgendwo gerade gesagt wird. Was käme dabei heraus?

Gewäsch und Gewimmel sind die beiden Randstücke eines dreigeteilten Werkes mit dreimal rund 200 Seiten Umfang. Der erste Teil, der mit dem Gewäsch, ist überschrieben mit „Elsas Klientel“ und bietet eine Unmenge Tratsch und Anekdoten über Leute, die anfangs scheinbar nichts miteinander zu schaffen haben. Sie sind Patienten der Krankentherapeutin Elsa Gerlach, ihr Tratsch die Geschichten, die sie Elsa während der Behandlung erzählen. Einschätzungen von Ereignissen und Sachverhalten, Gehässigkeiten über Dritte, persönliche Beichten. Wie zwischengeschnitten finden sich darin Rätsel und Abfragen. Man wundert sich bei der Lektüre, wie eine einzelne Person sich das ganze Zeugs merken kann. Vielleicht ist Elsa in ihrem Behandlungsraum so auf die Patienten konzentriert, das all das Gewäsch ungefiltert Zugang in ihr Gehirn findet und sie dort zu anderen Gelegenheiten, so nach Feierabend, erfreut, nervt, belastet oder entlastet. Vielleicht ist es aber auch alles von Frau Kronauer, und Elsa wird nur vorgeschoben. Nach und nach werden in diesen Texten Verbindungen hergestellt, so zwischen verschiedenen Patienten. Wir lernen Leute kennen, die wir mögen oder nicht leiden können, stellen fest, dass das ganze Gewäsch nur teilweise solches und fein abgestimmt aufeinander ist und uns ein Kompendium modernen Seins, körperlicher und geistiger Befindlichkeiten, Stärken und Unzulänglichkeiten von Menschen liefert.

Der zweite Teil, das Mittelstück mit dem Titel „Luise Wäns“, erzählt eine zusammenhängende Geschichte. Luise, eine alte Frau, lebt in der Nähe eines Naturschutzgebiets, in dem sie gerne lange Wanderungen unternimmt. Sie erzählt während zwölf dieser Wanderungen – im dritten Teil findet sich noch eine letzte, die 13. Wanderung - aus der Ich-Perspektive von einem Landschaftspfleger, Hans Scheffer, und einer Gruppe Naturfreunde, die diesen Pfleger geliebt haben, erzählt vom Untergang der Gruppe. Ohne ihn fühlen die Naturfreunde sich nichtig. Im Mittelstück werden, wen wundert es, Vernetzungen mit den Tratschstücken vorgenommen. Das zweite Randstück bietet statt Gewäsch Gewimmel, ein Gewirr von aus dem Vorhergehenden bekannten Leuten, deren Leben bestimmt ist oder war durch Zufälle, Einbildungen, Sehnsüchte und, über allem, ein Großprojekt, das sie weder in Anlage noch Sinn verstanden haben, an dem sie aber alle teilhaben wollen. Manches im Buch ist albern, manches witzig, anderes komisch. Es gibt pompöse und lächerliche Momente, Gespräche über vieles, worüber Menschen so sprechen, darunter Natur und BSE und die Bankenkrise.

Kronauers Roman Gewäsch und Gewimmel hat einen hohen Personalbestand. Alex erzählt über seine vielen Jobs, darunter Rettungssanitäter, Pauschalkraft in einer Drogeriefiliale, Securitymitarbeiter, Kleinunternehmer, und sein Verhältnis zu Arbeit und Leben. Studentin Katja begibt sich auf den Verführungspfad, mal als lebensgroße Orchidee, mal mit hälftig schwarz und blond gefärbten Haaren. Herta aus dem Leipziger Zoo und ihre Freundin Ruth schreiben sich Briefe, kommunizieren, missverstehen sich dann im dritten Teil des Romans, bis die eine der anderen auf mehrmalige Nachfrage nicht antwortet. Der erfolgreiche Schriftsteller Pratz schleicht durch den Roman, anfangs unauffällig, ein eitler Mann, der seinen Ruhm nicht zerstören kann, weil der Literaturbetrieb ihn braucht. Parfümerieinhaberin Müllmann verkauft irrsinnig teure Kosmetika, aber über sie selbst wird gesagt, sie „welke an allen Fronten dahin.“

„Wenn man bedenkt, wie viele Verbrechen und Scheußlichkeiten an den Tieren im Namen der Verlängerung des Menschenlebens begangen werden und wie dann das menschliche Alter in Wahrheit verachtet wird! Es ist doch eine große Heuchelei.“

Und worum geht es in Gewäsch und Gewimmel? Schwer zu sagen. Vordergründig um alles, das Leben, die Menschen, die sich in ihm behaupten wollen oder einfach nur aufhalten. Das bunte Treiben des Menschengeschlechts im sozialen Ameisenhaufen. Der Roman gibt einige Anhaltspunkte zur Sinnkonstruktion. Das Leben ist absurd, weil die Menschen es dazu machen, zu nichts anderem in der Lage scheinen, obgleich sie einen hohen Anspruch an sich und andere haben. Herr Holterhoff stellt einmal fest, die Menschheit hätte einen Anspruch auf 2000 Jahre Hochkultur gehabt, die nun vorbei seien. Von nun an geht es abwärts. Diesen Pfad beschreiten Figuren mit teils pubertären Namen und Handlungen, von Kronauer mit liebevollem Spott präsentiert. Gelegentlich wähnt man sich in einem Sketch von Loriot. Und wenn es denn doch nicht abwärts gehen soll, so befinden wir uns zumindest in einer „WiW“, einer Welt im Wandel. Wie auch immer, im Zuge der Sinngebung gilt, was Herta einmal sagt: „(...) man stirbt so schnell. Laß uns vorher wieder Vernunft annehmen.“


Fazit

Brigitte Kronauer präsentiert in Gewäsch und Gewimmel auf sehr unterhaltsame Weise ein Panoptikum an Alltagsmenschen, die sich zu Karikaturen ihres eigenen Lebens machen und sich zwischendurch der Ernsthaftigkeit ihrer Existenz ausgesetzt sehen. Das Buch lebt von der „Lust an der Vernetzung“, die Kronauer zum Gestaltungsprinzip erhebt. Die Kommunikationsfragmente sind auf vielfältige Weise verbunden, die drei Teile sowieso.


Pro und Contra

+ die Lust am Text bleibt durchgehend erhalten

o man verliert leicht und schnell den Überblick über die vielen Figuren
o nichts für Liebhaber ausschließlich linearer Erzählweise

Wertung: sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5