Bettina Balbutis (10.09.2014)

Interview mit Bettina Balbutis

simpsons syndromLiteratopia: Hallo, Bettina! Kürzlich ist mit „Das Simpsons-Syndrom“ ein humorvoller Überblick über skurrile Krankheiten erschienen. Wie bist Du dazu gekommen, medizinische Fälle der seltsamen Art in einem Buch zu sammeln?

Bettina Balbutis: Oh, die Idee dazu hatte ich schon im Studium. Mich hat umgehauen, dass Patienten mit seltenen und merkwürdigen Symptomen oft zehn Jahre auf ihre Diagnosen warten müssen! Wo wir doch in einer Zeit leben, in der Prominente ihre Darmspiegelung ins Netz stellen oder sich mit der Ice Bucket Challenge karitativ in Szene setzen.
Wer eine seltene Krankheit hat (die aktuell nicht ALS heißt), hat einfach Pech. Zum Beispiel, weil er die Veränderungen am eigenen Körper nicht als medizinisches Problem einstuft. Und weil Ärzte seltene Erkrankungen oft übersehen. Man sagt, dass ein Hausarzt nur einmal im Berufsleben einen Patienten mit Akromegalie zu sehen bekommt – und die Krankheit zu allem Überfluss auch noch übersieht.  

Ich wollte die seltenen Krankheiten von ihrem Nischendasein befreien. Zuerst habe ich versucht, Arztkollegen dazu zu bringen, darüber zu schreiben. Die meisten hatten null Zeit übrig. Also musste ich es selbst tun. Und erst mal das Schreiben lernen, was gar nicht so einfach war …

Literatopia: Die einzelnen Fälle werden von persönlichen Geschichten begleitet. Wie viel Wahrheit steckt in Deinem Buch? Sind Dir alle erwähnten Krankheiten im Klinikalltag begegnet?

Bettina Balbutis: Beim Schreiben muss man manchmal etwas zuspitzen oder Dinge vereinfachen. Die betreffenden Personen habe ich komplett anonymisiert, damit niemand auch nur entfernt wiedererkannt wird. Einige der schrägsten Geschichten waren in Wirklichkeit noch schräger, die musste ich sogar noch abschwächen, sonst hätte mir das kein Mensch geglaubt.

Im Buch wird ja deutlich, welche Krankheiten ich selbst gesehen habe, welche von Kollegen behandelt wurden und welche Erkrankungen ich nur diagnostisch in Erwägung gezogen habe. Mein Mann zum Beispiel ist gar kein „Gewaltschläfer“, dafür aber ein nächtlicher Herumwühler und Klammerkuschler. Dadurch hatte ich einen super Aufhänger, um die Krankheit „Gewaltschläfer/REM-Schlaf-Verhaltensstörung“ zu erklären.

Literatopia: Mancher findet eine humorvolle Betrachtung bestimmter Krankheiten vielleicht unangebracht. Doch wer Freunde hat, die in einer Klinik arbeiten, kennt den derben Humor. Lässt sich der Klinik-Alltag auch gar nichts anders ertragen?

Bettina Balbutis: Der Krankenhausalltag ist oft schwer zu ertragen, viele Mitarbeiter aus Ärzteschaft und Pflege werden irgendwann selber krank daran. Und im Medizinstudium wird man nicht einmal ansatzweise darauf vorbereitet. Berufsanfänger orientieren sich meist an erfahreneren Vorbildern aus der Klinik. Doch viele der älteren Kollegen sind ausgebrannt, resigniert oder zynisch, manche auch depressiv oder voller Wut auf sich selbst, die Patienten und das Gesundheitssystem. Jeder Arzt muss seinen eigenen Weg aus diesen Schwierigkeiten finden. Humor hilft nicht immer, aber er macht es allen leichter, den Patienten und den Helfern. Auf Palliativstationen, wo unheilbar Kranke gepflegt werden, herrscht oft eine überraschend angenehme Stimmung mit einem herzhaften Humor.

Literatopia: Mit welcher Krankheit würdest Du Dich nicht zum Arzt trauen?

Bettina Balbutis: Oh, das ist mir schon oft passiert. Gerade als Mediziner denkt man gleich an das Schlimmste. Im ersten Semester bin ich mal mit furchtbaren Schmerzen in der linken Brust aufgewacht. Natürlich akuter Herzinfarktalarm! Der Hausarzt hat mir dann nicht nur die Rippe wieder eingerenkt, sondern auch meinem medizinischen Selbstbewusstsein einen kleinen Knacks versetzt.

Als mir im achten Semester häufig das Bein einschlief, bekam ich von der Neurologin nicht nur einen Test zur Nervenleitgeschwindigkeit, sondern auch ein wissenschaftliches Paper in die Hand gedrückt, wo der Zusammenhang zwischen Neurologie-Vorlesungen und Studentenhypochondrie untersucht wurde. Seitdem weiß ich, dass Mediziner schwierige Patienten sind. Sie wissen alles besser und hinterfragen jeden kleinen Pups. Fazit: Ehe ich mich zum Arzt traue, überlege ich dreimal, ob ich wirklich zum Arzt muss oder doch besser zu Hause bleibe.

Literatopia: Welche Störung oder welches Syndrom findest Du persönlich am skurrilsten?

Bettina Balbutis: Eine Erkrankung ist skurril, wenn sie zunächst medizinisch irrelevant daherkommt. Wer Schmerzen hat oder Würmer im Stuhlgang, findet beim Hausarzt eher Gehör. Was ist aber mit den Menschen, die den Verdacht haben, ihre Ohren würden langsam immer größer? Oder die einen Hass auf ihr rechtes Bein hegen und es gern amputiert hätten?

Genau das ist das Problem bei der Body Identity Integrity Disorder (BIID). Betroffene wünschen sich nichts sehnlicher, als dass ihnen ihr Bein abstirbt oder sie morgens blind oder gelähmt aufwachen. An der Ursache für BIID rätseln Wissenschaftler immer noch herum. Manche Studien weisen auf eine neurologische Ursache hin, manche auf eine psychiatrische. Die Betroffenen wünschen sich oft eine Amputation, was in Deutschland allerdings verboten ist. Und wer es trotzdem macht, steht mit einem Bein vor dem Richter: Was, wenn demnächst ein Heilmittel gegen BIID gefunden wird und ein Heer von Lahmen und Blinden vor die Gerichte zieht und ihre Operateure verklagt?

Literatopia: Im Buch nerven Dich regelmäßig Deine Freunde mit ihren gesundheitlichen Problemen. Wie ist das im echten Leben? Erwarten Familie und Freunde tatsächlich, dass Du für sie den Hausarzt spielst?  

Bettina Balbutis: Eigentlich ist es eher anders herum. Manchmal frage ich mich, ob ich meine Freunde und Familie nerve. Hier ein Beispiel:

Bettina: „Wusstest du, dass gerade die roten Tattoofarbstoffe im Verdacht stehen, krebserregend zu sein?“
Tätowierter Kumpel: „Ich habe das Tattoo bereits, danke.“
Bettina: „Wie wäre es, du fragst mich vor dem nächsten Tätowieren?“
Tätowierter Kumpel: „Wie wäre es, du wartest mit fiesen Medizinerinfos, bis ich dich frage?“

Ich habe großes Glück mit meinen Freunden, sie sind sehr geduldig mit mir.

Literatopia: Wie lange hast Du an dem Buch gearbeitet und wie bist Du dabei vorgegangen? Und gab es Krankheiten, die es letztlich nicht ins Buch geschafft haben?  

Bettina Balbutis: Es hat mehrere Jahre gedauert, bis die Idee Gestalt annahm – ein Buch zu schreiben, das Menschen auf merkwürdige Erkrankungen aufmerksam macht. Ich wollte kein belehrendes, „betroffenes“ Buch schreiben, sondern eines, das nicht so trocken daher kommt und trotzdem einen guten wissenschaftlichen Einblick gibt. Neben meiner eigentlichen Arbeit habe ich insgesamt ein gutes Jahr gebraucht, mit weitgehendem Verzicht auf Hobbies, Sport und Ausschlafen.

Eine Menge Krankheiten haben es nicht ins Buch geschafft. Was nicht allein daran lag, dass es auf 33 Krankheiten begrenzt war. Sondern daran, dass es grausame Krankheiten gibt, über die ich nichts Lustiges hätte schreiben können. Alien-Hand-Syndrom, familiäre Insomnie, Neurolues – ein Blick in Wikipedia zeigt, dass dahinter schlimme Schicksale stellen. Da hat bei mir der Spaß aufgehört.

Literatopia: Jedes Kapitel wird von einem literarischen oder musikalischen Zitat eingeleitet. Hat es lange gedauert, bis jede Krankheit einen passenden Slogan gefunden hat?

Bettina Balbutis: Nein, das war fast schon zu einfach. Mein Mann ist ein Zitateverrückter. Ich brauche ihm beim Kürbissuppenessen bloß einen Löffel hinzulegen, dann sieht er mich mit so einem schrägen Blick an und sagt: „Es ist nicht der Löffel, der sich biegt, sondern du selbst.“ [Matrix] Da musste ich meinem Mann bloß ein Stichwort geben, und das Problem war sofort gegessen.

Literatopia: Du interessierst Dich besonders für die Schnittstellen zwischen innerer Medizin und Psychiatrie. Was können wir uns darunter vorstellen? Organische Ursachen für psychische Erkrankungen?

Bettina Balbutis: Ziemlich genau das.

Körper, Seele und Geist gehören zusammen, das weiß eigentlich jeder, spätestens seit „Darm mit Charme“. Nur der Facharztkatalog, den jeder Mediziner abarbeiten muss, um an den Facharzttitel zu kommen, der weiß es nicht so richtig. Schon im Medizinstudium wird viel zu oft jedes Organ getrennt von den anderen betrachtet. Am Ende sieht das oft so aus:

Patient: „Können Sie mir endlich sagen, was ich habe?“
Arzt: „Waren Sie schon mal beim Psychologen?“

Gerade in psychiatrischen Kliniken sieht man Patienten, hinter deren Probleme eben nicht nur „die Psyche“ steckt, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus seelischen Problemen, körperlichen Symptomen, Medikamentennebenwirkungen und sozialen Faktoren. Wichtig ist: Nicht jeder depressive Patient muss zum Psychologen. Oft sind es andere Sachen, die die Menschen einsam und krank machen: Hormonelle Störungen, eine unpassende Ernährung, Unverträglichkeiten und Allergien oder chronischer Mundgeruch …

Literatopia: Was erwartet uns in Zukunft von Dir? Bleibt „Das Simpsons-Syndrom“ ein einmaliger Ausflug in die Bücherwelt? Oder schreibst Du schon fleißig am nächsten Werk?

Bettina Balbutis: Das Schreiben hat mir irre viel Spaß gemacht, viel mehr, als ich je erwartet hätte. Bastei Lübbe und ich basteln gerade an einem zweiten Buch, wieder was mit Medizin. Wenn ich daran denke, meine Leser mit altklugen Sachen vollzutexten, frohlocke ich schon richtig ...

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!


Rezension zu "Das Simpsons-Syndrom"


Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia.de geführt. Alle Rechte vorbehalten.