Lebwohl, mein Liebling (Raymond Chandler)

chandler lebwohl

Diogenes 2009
Originaltitel: Farewell, My Lovely (1940)
Übersetzt von Wulf Teichmann
Taschenbuch, 304 Seiten
€ 9,90 [D] | € 10,20 [A] | CHF 14,90
ISBN: 978-3-257-20312-7

Genre: Krimi


Inhalt

Privatdetektiv Philip Marlowe ist gerade in der Central Avenue auf der Suche nach einem vermissten Ehemann, als seine Aufmerksamkeit auf einen einmeterfünfundzeunzig großen und zweihundertsechzig Pfund schweren Mann gelenkt wird, der eine Sportjacke „mit weißen Golfbällen anstelle von Knöpfen“ trägt. Der auffällig gekleidete Riese betritt das Florian’s, durch dessen Tür kurz darauf ein junger Mann hinaus auf die Straße fliegt. Marlowe betritt neugierig die Kneipe, als er auch schon von dem Riesen gegriffen wird. Der heißt Moose Malloy und ist auf der Suche nach seiner rothaarigen Freundin Velma Valento, die früher als Tingeltangelmädchen im Florian’s auftrat. Zuletzt hat er sie vor acht Jahren gesehen, als er nach einem Banküberfall verraten wurde und ins Gefängnis kam. Das Florian’s ist schon lange eine Kneipe für Schwarze. Niemand kennt Velma hier, auch der Besitzer nicht, der sich von Malloy bedroht fühlt und seinen Colt ziehen will. Malloy bricht ihm das Genick und verschwindet mit der Waffe. Marlowe verspricht dem ermittelnden Detective Nulty seine kostenlose Hilfe, denn der Fall interessiert ihn.


Rezension

Raymond Chandler begann den Roman unter dem Titel „Law Is Where You Buy It“. Damit sollte das Thema griffig skizziert werden, die Beziehungen zwischen korrupten Polizisten und Gangstern in Bay City, einer zumindest äußerlich sauberen, respektablen kalifornischen Kleinstadt. Beim Schreiben aber trat dieses Thema hinter den anderen Handlungselementen zurück. Im August benannte Chandler den Roman in „The Second Murderer“ um. Der Verlag Knopf kündigte das Buch 1940 auch unter diesem Titel an, der Chandler bereits nicht mehr gefiel. Er setzte Farewell, My Lovely durch, obwohl der Verlag ihn für eine mystery novel ungeeignet hielt. Wie schon bei Der tiefe Schlaf griff Chandler auf einige seiner Storys zurück. Der größte Teil des Romans stammt aus Der Mann, der Hunde liebte (1936), Mandarin-Jade (1937) und Try the Girl (1937), ein kleiner Teil aus Trouble Is My Business (1939).

Der Roman erzählt zwei Geschichten, die von Velma und Malloy sowie die von Brunette. Die erste Geschichte setzt die Handlung in Gang und schließt sie ab, eine Kreisform bildend: Malloy findet mit Marlowes Hilfe, wonach er gesucht hat. Diese Geschichte bildet die Klammer für die Brunette-Geschichte. Beide haben nichts miteinander zu tun, auch wenn Marlowe lange Zeit davon überzeugt ist. Marlowe gerät auf der Suche nach der Bande von Juwelendieben nach Bay City, dem Ort, der Symbol für die neuen gesellschaftlichen Machtverhältnisse ist. Brunette, Herrscher von Bay City, ist kein Eddie Mars aus Der tiefe Schlaf, der noch als Krimineller identifizierbar war, sondern ein ehrbar anmutender Geschäftsmann, der keine Killer beschäftigt und auch sonst nicht in Verbindung mit Kriminellen gebracht werden kann. Seine Methoden sind subtiler, moderner und effektiver: er kauft sich gleich eine ganze Stadt und ist damit ihr uneingeschränkter Herrscher.

Brunette verkörpert eine Weiterentwicklung des Typus Eddie Mars, so wie in Der tiefe Schlaf auch die Grayles sich von den Sternwoods unterscheiden. Zwar sind sie ebenso dekadent, aber bei den Sternwoods ist der Reichtum noch personalisiert, bei den Grayles ist er ein Synonym für Macht. Polizeichef Wax kuscht, als Marlowe seine Kontakte zu Mrs. Grayle erwähnt. Die Tatsache, dass beide Geschichten unabhängig voneinander sind, deutet auf eine unterschiedliche Kategorisierung der Verbrechen durch Chandler hin. Die „kleinen“ Leute wie Velma und Malloy wenden zur Durchsetzung ihrer Ziele Gewalt an. Velma gehört seit ihrer Heirat zwar zur mächtigen High Society, verhält sich aber wie eine unbedeutende Frau. Nicht von ungefähr endet sie wie sie angefangen hat, als Tingeltangelmädchen. Für Leute wie Malloy und Velma gibt es einen Rest Sympathie und Verständnis.

Velma war zwar clever genug, einen Millionär zu heiraten, aber nicht clever genug, ihre erworbene Position auszunutzen. Unbeschränkte Kapitalherrschaft und institutionalisierte Korruption, sorgsam in die vordergründige Handlung integriert und Hauptthema des Romans, werden hingegen als Geschäft betrieben, unter dem die gesamte Gesellschaft leidet. Menschen wie Brunette und Grayle haben Gewalt gar nicht mehr nötig. Sie herrschen mittels ihres Reichtums. Am Ende zeigt sich Marlowe verhalten optimistisch und schließt Veränderungen des Systems nicht aus.

Chandler baut in dem Roman, der in seiner Synthese aus gelungener Struktur und interessantem Inhalt besticht, einige Hinweise ein, die ihn als herausragenden Verfasser von Detektivgeschichten kennzeichnen. So schafft er es, den Leser bis fast zum Schluss im Unklaren über die wahren Hintergründe zu lassen. Und er spielt gekonnt mit zwei wichtigen Verbindungsstücken zwischen den Geschichten, den beiden Visitenkarten.


Fazit

Raymond Chandler ist einer der wichtigsten Vertreter der hardboiled novel. Lebwohl, mein Liebling ist einer seiner besten Romane und der erste filmisch umgesetzte Marlowe, heute ein Klassiker aus Hollywoods Schwarzer Serie.


Pro und Kontra

+ zeigt Marlowe als weniger harten Typen
+ einer der komischeren Noirs Chandlers
+ hervorragende Dialoge
+ herrlich skurrile Charaktere

- enthält ein paar Klischees

Wertung: sterne4.5
Inhalt: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Noir, Hardboiled-Kriminalroman, Raymond Chandler