Wofür sitzen Sie eigentlich hier? (Andreas Schorsch)

wofuer sitzen sie eigentlich hier

Goldmann (März 2015)
In Zusammenarbeit mit Oliver Uschmann, Sylvia Witt
Taschenbuch, 256 Seiten, 8,99 EUR
ISBN: 978-3-442-15845-4

Genre: humorvolle Bahnhofsgeschichten


Klappentext

Du bist nicht du selbst, wenn du einen Zug erwischen musst ...

Das Irrenhaus Deutsche Bahn kennen wir als leidgeprüfte Zugreisende alle – doch wie ein Angestellter am Service Point die Chaoswirtschaft erlebt, darüber konnten wir bislang nur mutmaßen. Fakt ist, im Herzen des Bahnhofs treffen sie alle aufeinander: die Verrückten, die Verwöhnten, die Verzweifelten. Fußballfans, die am Wochenende die Bahnsteige zerlegen. Alte Damen, die Süßigkeiten vorbeibringen, seit ihnen 1998 der Koffer gerettet wurde. Hobbyjuristen, die ihre Fahrpreiserstattung bereits einklagen, bevor sie überhaupt in den Regional-Express steigen. In der zugigen Vorhalle ist Andreas Schorsch der Fels in der Brandung. Nur „der kleine Prinz“, sein durchsetzungsschwacher Chef, hat bei ihm niemals was zu lachen ...


Rezension

„Wofür sitzen Sie eigentlich hier?“ – Diesen Satz bekommt Andreas Schorsch, Mitarbeiter am DB-Service-Point (der inzwischen wieder DB Information heißt), täglich zu hören. Gestresste Reisende bombardieren ihn mit Vorwürfen und Androhungen von Klagen, Studenten wollen Bescheinigungen für etwas, das ihnen mit ihrem Studi-Ticket einfach nicht zusteht (auch wenn der Gemüsehändler der Cousine einer Kommilitonin etwas anderes behauptet), Kinder werden am Gleis vergessen und manchmal tobt auch ein Sturm faschistischer Fußballfans durch den Bahnhof, vorzugsweise am Japan-Tag und wenn ein Kamerateam dabei ist, um die grölende Menge fürs Ausland festzuhalten. Selbst wenn nachts Gott persönlich nackt durch die Bahnhofshalle rennt und verkündet, Jesus und Satan seien hinter ihm her, lässt sich Andreas Schorsch nicht aus der Ruhe bringen – und auch wenn seine Erzählungen auf die Spitze getrieben scheinen, kann man sich den alltäglichen Wahnsinn am Düsseldorfer Hauptbahnhof gut vorstellen.

Ihren humorvollen Ton verdanken die Bahnhofsgeschichten Oliver Uschmann und Sylvia Witt, die laut Andreas Schorsch seine Erzählungen „so schön in Form gebürstet“ haben. Die einzelnen Erlebnisse, die sich teilweise auch mit anderen verbinden, sind in die Kapitel „Frühschicht“, „Spätschicht“ und „Nachtschicht“ unterteilt – schließlich bietet jede Schicht ihre ganz eigenen Menschenspezies. Am Anfang stehen die Bescheinigungen, von denen Andreas Schorsch jedem welche für alle Lebenslagen ausstellt, dafür hat er sogar extra einen wichtig aussehenden Fake-Stempel. Bescheinigungen für die Benutzung des ICE mit dem Studiticket gibt es allerdings nicht. Der Student, der sich erst verarscht fühlt und letztlich zum Homie mutiert, wird während des Faschistenansturms dazu beitragen, dass die ganze japanische Welt erfährt, dass Herr Schorsch „credits just for free“ verteilt.  

Neben zahlreichen Reisenden, die Andreas Schorsch mal wütend, mal panisch und manchmal sogar freundlich gegenübertreten, treten Service-Point-Kollegin Annika sowie der kleine Prinz alias sein Chef, der stets viel möchte und alles für möglich hält, auf. Letzterer ist nicht gerade begeistert davon, dass Herr Schorsch ab und an vor dem Bahnhof raucht und – schlimmer noch! – so viel Kaffee trinkt, vor den Kunden, in patriotischen Bechern. Trotzdem erlangt der kleine Prinz schnell Kultstatus, ebenso wie Annika, die ebenfalls die Ruhe weg hat. Anders hält man es am Service Point, ähm, der Information, nämlich nicht aus. Denn da gibt es Leute, die wollen von Düsseldorf nach Bonn fahren, aber bitte nicht über Köln! Da die einzige Verbindung, die keine Reisezeit von acht Stunden und mehr bedeutet, allerdings dicht an Köln vorbeiführt, fällt diese auch flach und Andreas Schorsch hat ein Problem. Letztlich weckt dieser Reisende jedoch seinen Sportsgeist und bald sucht auch Kollegin Annika nach abstrusen Reisewegen.

Das obligatorische Schimpfen auf die Bahn darf dabei natürlich nicht fehlen, schließlich ist die DB ja ein Saftladen voll fauler Beamten. Dass diese inzwischen größtenteils Angestellte sind und die DB eine AG ist, interessiert dabei keinen. Auch nicht, dass Andreas und Annika nichts dafür können, wenn Bäume auf die Gleise stürzen und Züge ausfallen. Als Leser wird man sich wahrscheinlich dabei ertappen, dass man selbst schon auf die Bahn geschimpft hat – ja, vielleicht sogar schon seinen Frust an einem DB-Service-Mitarbeiter ausgelassen hat. Wenn man nun dieses Buch liest, bekommt man zumindest ein wenig Verständnis für die uniformierten Leute, die täglich mit der Wut gestresster Reisender sowie mit randalierenden Alkoholikern zu kämpfen haben. Sicher ist hier mancher Dialog übertrieben, aber lässt man den humorvollen Schreibstil beiseite, fällt auf, dass die Erzählungen größtenteils den ganz normalen Bahnhofswahnsinn spiegeln.

Inmitten dieser abstrusen Stories ist Andreas Schorsch genau das, was der Klappentext verspricht: Ein Fels in der Brandung. Ein kräftiger Mann, der gerne Leute auf den Arm nimmt, vor allem, wenn sie bereits unfreundlich an seinen Tresen treten, und der seine Statur dazu einsetzt, aggressive Trinker in ihre Schranken zu verweisen. Doch er ist auch ein Mann, der alten Damen den Koffer trägt, Rollstuhlfahrern aus dem Zug hilft und sich um verstörte Kinder, die am Gleis vergessen wurden, kümmert. Seine Art ist äußerst eigenwillig und man fragt sich, ob es bei der Bahn tatsächlich Mitarbeiter mit einem solch derben Humor und einer so beeindruckenden Schlagfertigkeit gibt (und solche, die ihrem Chef auf eine so nette Art Kontra geben). Allerdings härtet die Arbeit am Service Point auch ab und nach der Lektüre dieses Buches wäre man als Bahnreisender wohl froh, einem lustigen Bahn-Angestellten wie Andreas Schorsch an der DB Information zu begegnen (und vielleicht eine Fortsetzung dieses Buches zu lesen, Material gäbe es sicher genug).  


Fazit

„Wofür sitzen Sie eigentlich hier?“ treibt den alltäglichen Bahnhofswahnsinn auf die Spitze und serviert dem Leser kuriose Geschichten mit derbem Humor und einem schlagfertigen Bahn-Angestellten, der unhöfliche Kunden in ihre Schranken verweist, dabei jedoch vor allem menschlich und hilfsbereit wirkt. Auch wenn hier so manch Reisender durch den Kakao gezogen wird, wirkt es, als hätte Andreas Schorsch Spaß an seinem Beruf – die Leser dürften jedenfalls großen Spaß mit diesem Buch haben!


Pro & Contra

+ alltäglicher Bahnhofswahnsinn
+ deckt Tag- und Nachtschichten ab
+ Andreas Schorsch wirkt schlagfertig und menschlich
+ herrlich komische Dialoge
+ der kleine Prinz erlangt schnell Kultstatus
+ humorvolle Unterhaltung für zwischendurch (im Zug)

Wertung: sterne4.5

Geschichten: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Nicht weit vom Stamm" (von Oliver Uschmann)

Interview mit Oliver Uschmann