Anna Kuschnarowa (06.04.2015)

Interview mit Anna Kuschnarowa

anna kuschnarowa15Literatopia: Hallo, Anna! Schön, wieder einmal mit Dir zu plaudern. Kürzlich ist Dein historischer Jugendroman „Das Herz von Libertalia“ erschienen – was erwartet die Leser?

Anna Kuschnarowa: Ein Roman in der Tradition des Roadmovies, allerdings in historischem Gewand, über eine starke Frau, die auszog und Piratin wurde.

Literatopia: Deine Protagonistin, Anne Cormac alias Anne Bonny, gab es wirklich. Wie bist Du auf sie aufmerksam geworden und was fasziniert Dich persönlich an ihr?

Anna Kuschnarowa: Ich war schon als Kind von Abenteurern und Sozialrebellen aller Art fasziniert, am meisten aber von Piraten. Besonders interessant finde ich, dass es eine ganze Reihe von namentlich bekannten Piratinnen wie beispielsweise Charlotte de Berry, Grace O’Malley, Zheng Yisao, Mary Read und Anne Bonny gab.

Es scheint gar nicht so selten gewesen zu sein, dass Frauen in Männerkleider schlüpften, um Piratin zu werden, denn in der Piratensatzung von Bartholomew Roberts widmet sich ein Paragraph ausdrücklich dem Umstand, dass Weibsvolk in Männerkleidern hart bestraft werden soll. Auch was das Militär betrifft, so tauchen dort immer wieder Frauen auf. Mary Read beispielsweise machte Karriere bei der Kavallerie, ehe sie dort ihren späteren Ehemann kennenlernte, mit dem sie nach ihrer aktiven Dienstzeit ein Wirtshaus eröffnete. Nach dessen Tod schlüpfte sie wieder in Männerkleider, doch diesmal heuerte sie auf einem Schiff an.

Was mich an Anne besonders fasziniert, ist ihr unbedingter Freiheitsdrang. Sie hätte bereits in jungen Jahren ein bequemes Leben als reiche Gattin eines Plantagenbesitzers führen können, doch dies schien ihr zu langweilig gewesen sein, sodass sie dies alles fortwarf, um zumindest eine Zeit lang ein entbehrungsreiches, aber abenteuerliches Leben zu führen.

Literatopia: Anne ist das Kind der Geliebten ihres Vaters, was damals hochskandalös war und einem Mann den Ruin bringen konnte. Welche Schwierigkeiten ergeben sich für Anne aus dieser ungünstigen Konstellation?  Wie verläuft ihre Kindheit?

Anna Kuschnarowa: Das Skandalöseste an der Affäre war vor allem, dass Annes Vater sie nicht beendet hat, sondern sich ein paar Jahre später offen zu seiner Geliebten und Anne bekannte, was sehr mutig und progressiv war. Aber natürlich konnte Anne deshalb nicht in einer intakten Familie großwerden. Da ihr Vater sie, als sie in etwa im Grundschulalter war, um sich haben wollte, hat er sie als einen entfernten männlichen Verwandten ausgegeben und sie als Jungen erzogen. Ich denke, dass Anne aber davon sehr profitiert hat und dass es ihr später sehr geholfen haben dürfte, sich auf einem Piratenschiff durchzusetzen. Ihre Mutter scheint jedoch sehr unter dieser Konstellation gelitten haben, da ein uneheliches Verhältnis aus kirchlicher Sicht eine sündhafte Verfehlung ist.

Literatopia: Was hat es mit dem sagenumwobenen Piratenreich Libertalia auf sich? Und wie erfährt Anne davon?

Anna Kuschnarowa: Libertalia, im englischsprachigen Raum auch gelegentlich als Libertatia bezeichnet, soll eine Piratenrepublik auf Madagaskar gewesen sein, die nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie funktionierte. Ob es Libertalia wirklich gegeben hat, ist unklar. Es wird zweimal in der „General History of the most notorious Pyrates“, erwähnt, die als Autor einen gewissen Captain Charles Johnson nennt. Heute wird als Urheber dieser Texte meist der berühmte Daniel Defoe angegeben, was aber in der Geschichtswissenschaft  umstritten ist. Gerne wird auch der oppositionelle Journalist Nathaniel Mist ins Feld geführt. Doch wie auch immer, höchstwahrscheinlich hat es Libertalia nicht wirklich gegeben, wahrscheinlich handelt es sich eher um eine aufklärerische politische Schrift, die unter dem Deckmantel des Reiseberichts verbreitet wurde.

Aber auch, wenn Libertalia als Republik nicht existierte, so lag der Gedanke an eine freiere und gerechtere Gesellschaft in der Luft. Zwar war die Monarchie die bestehende Regierungsform in den europäischen Ländern, aber gleichzeitig gab es die Vordenker der Frühaufklärung, die diese Herrschaftsform und die Macht der Kirche in Frage stellten. Deshalb habe ich Libertalia als Leitmotiv für eine bessere Gesellschaft verwendet, von der Anne bereits als kleines Mädchen durch den Freund ihres Großonkels, den Leuchtfeuerwärter Ian, hört, der früher selbst zur See gefahren ist, und der in Anne diese Sehnsucht nach Libertalia entfacht.

Literatopia: Wie hast Du für „Das Herz von Libertalia“ recherchiert? Und wie stark hast Du Dich an die historischen Fakten gehalten?

Anna Kuschnarowa: Nun, das, was man im Hinblick auf Anne Bonny als echte historische Quellen bezeichnen kann, sind gar nicht so dicht gesät, da Anne ja nur eine „Bürgerliche“ war. Die stichhaltigsten Dokumente sind tatsächlich die Prozessakten, die beweisen, dass es Anne, Jack Rackham und Mary Read tatsächlich gegeben hat und dass sie gemeinsam zur See fuhren. Einer Zeugenaussage nach soll Anne „das Zeug zum Anführer gehabt haben“. Es gibt zwar eine ganze Reihe von weiteren Aussagen zu Anne, aber sie divergieren sehr stark, so gibt es Angaben zu Annes Geburtsjahr, die von 1690 bis 1702 schwanken, mal soll sie in Kinsale, mal in Cork geboren worden sein. Auch was ihr Ende nach ihrer Zeit im Kerker in Spanish Town betrifft, gibt es reichlich widersprüchliche Spekulationen, die von Kloster bis Rückkehr zur Piraterie reichen. Wenn man dem Oxford Dictionary of National Biography folgt, dann soll Anne von ihrem Vater freigekauft worden sein, Ende 1721 einen reichen Mann in South Carolina geheiratet haben, mit dem sie acht Kinder bekam und als geachtete Frau 1782 gestorben sein.

Ehrlich gesagt ist es mir schwergefallen, mir Anne als reiche Matrone vorzustellen, allerdings wollte ich auch nicht einfach über diese Möglichkeit hinwegbügeln. Aus diesem Grund habe ich den Roman im Frühjahr 1721 enden lassen. Eine weitere Quelle, in der unter anderem auch recht ausführlich über Annes Leben, ehe sie Piratin wird, berichtet wird, ist die schon oben erwähnte „General History“.

Allerdings entstehen im 18. Jahrhundert auch die Frühformen der Massenmedien und Reise- und Schauerliteratur sind groß in Mode. Die Autoren wurden nach Seiten bezahlt, und so muss man wohl damit rechnen, dass auch noch die eine oder andere Ausschmückung ihren Weg in den Text gefunden hat. Besonders interessant fand ich aber auch die Geistesgeschichte. Das 17./18. Jahrhundert ist eine Zeit des Umbruchs, teilweise sehr grausam, zugleich auch eine Zeit des Aufbruchs, in der sich letztlich die politische, ökonomische und geistesgeschichtliche „westliche Welt“, wie wir sie heute für selbstverständlich halten, nach und nach herausgebildet hat. Aber natürlich gibt es auch eine Reihe von erfundenen Figuren. Jonathan zum Beispiel oder Ian und Uncle Grandpa Jack.

djihad paradiseLiteratopia: Denkst Du, historische Romane haben es bei jungen Lesern schwerer als beispielsweise Fantasy? Und konntest Du Dich selbst als Jugendliche für Historik begeistern?  

Anna Kuschnarowa: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Wahrscheinlich schon. Dabei gibt es ja durchaus Überschneidungen zwischen beiden Genres. Beides spielt in fernen Welten, nur dass es die Welten der Historienschmöker tatsächlich so oder so ähnlich gegeben hat. Und viele Fantasyromane spielen ja in Welten, die sich an historischen Welten inspirieren. Und ja, ich war schon als Kind ein Nerd. Am liebsten habe ich mir Burgen angeschaut und Museen und von den Ritterrüstungen haben mich meine Eltern irgendwann regelrecht wegzerren müssen, obwohl sie ihren Bildungsauftrag durchaus sehr ernst genommen haben. Aber wahrscheinlich habe ich deshalb später auch prähistorische Archäologie und Ägyptologie studiert.

Literatopia: Dein 2013 erschienener Roman „Djihad Paradiese“ ist in Anbetracht der Gräueltaten des IS brandaktuell. Warum wird dein Protagonist Julian Engelmann alias Abdel Jabbar Shahid zum Gotteskrieger?

Anna Kuschnarowa: Julian hat es nicht leicht. Sein Vater ist alkoholkrank und seine Mutter hat die Familie verlassen. Er selbst ist im kleinkriminellen Milieu verstrickt und rutscht immer tiefer hinein, was ihn schließlich auch in den Knast bringt. Julian fehlt sowohl Halt als auch Perspektive. Zwar hat er eine Freundin, Romea, die er wirklich liebt, die aber aus einer ganz anderen Welt stammt. Doch Julian hält sich Romeas nicht für würdig, was ihn paradoxerweise von ihr entfremdet.

Im Gefängnis greift er nach jedem Strohhalm und das ist Murat, der, im Gegensatz zu Julian, immer genau zu wissen scheint, was richtig und was falsch ist. Zunächst stößt ihn das ab, aber zugleich fasziniert es ihn. Murat führt ihn in seine sehr strenge Auffassung des Islam ein, schließlich konvertiert Julian. Obwohl Murat einer salafistischen Gruppierung angehört, macht ihn dies noch nicht sofort zum Gotteskrieger. Erst als er nach Alexandria geht, um eine Sprachschule zu besuchen, gerät er in Kontakt mit Djihadisten und nun, da er dort nur von Menschen umgeben ist, die sich kollektiv via Internet in die Schlechtigkeit des Westens hineinsteigern, fühlt auch Julian sich angegriffen und beschließt, eine Ausbildung zum Gotteskrieger zu absolvieren.

Natürlich kann man mit einem Roman nicht alle Facetten eines komplexen Themas ausleuchten und auch nicht alle Beweggründe von Individuen, die sich einer Terrorgruppe anschließen, ausloten, aber es ist tatsächlich so, dass ein großer Teil der vor allem jungen Männer ebenfalls perspektivlos ist. Menschen, die glauben, nichts zu verlieren zu haben, können gefährlich werden. Natürlich entschuldigt dies nichts, aber ich denke, dass eine Ursache des IS unter anderem auch auf die ungerechte Verteilung von Ressourcen zurückzuführen ist.

Literatopia: Wie geht Julians große Liebe Romea mit seiner Radikalisierung um? Unterstützt sie ihn? Oder versucht sie, ihn aufzuhalten?

Anna Kuschnarowa: Romea ist zunächst einmal geschockt, als Julian ihr eröffnet, dass er in den „Heiligen Krieg“ ziehen will. Sie streitet mit Julian und als er sie daraufhin schlägt, verlässt sie ihn. Julians Wandlung geht ihr so nahe, dass sie erst einmal Zeit braucht, um wieder zu sich selbst zu finden. Es ist auch das einzig Kluge, was sie tun kann, denn es bringt nichts, mit Fanatikern zu diskutieren. Und wenn ein Mann eine Frau schlägt, dann gibt es wirklich keinen Grund, zu ihm zurückzukehren. Allerdings, als sie sich wieder gefangen hat, nimmt sie Kontakt zu Julians Vater auf, doch sie kommt nicht mehr wirklich an Julian heran, denn er ist mittlerweile in Pakistan in einem Terrorcamp.

Literatopia: Wie bist Du an dieses sensible Thema herangegangen? Hast Du mit Menschen, die sich dem Dschihad verschrieben haben, gesprochen?

Anna Kuschnarowa: Ich bin auf das Thema gestoßen, weil einer meiner Freunde eine Zeit lang in Ägypten in einer Madrasa gelebt hat und dort eines Tages einen Rekrutierungsversuch zum Gotteskrieger erlebt hat, woraufhin er sich schnell aus dem Staub gemacht hat. Das war der eigentlich Auslöser für mich, dieses Buch zu schreiben, denn auf einmal war das Thema so nahgerückt und stand mitten in meinem Leben.

kinshasa dreamsEin anderer Freund von mir ist in der Flüchtlingsarbeit tätig und er hat mir von einem Brüderpaar berichtet, die als minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, weil der Vater von den Taliban ermordet wurde, da er seine Söhne nicht als Gotteskrieger sehen wollte. Ansonsten gibt es ziemlich gute Reportagen als Fernsehdokus, aber auch in Buchform, zum Beispiel „Nur der Teufel isst mit links“ oder „Blackbox Djihad“.

Darüberhinaus habe ich mich auch ziemlich oft auf Djihadistenseiten herumgetrieben und mir Nashids angehört, während jemandem auf einem Youtube-Video der Kopf abgeschlagen wurde. Dann habe ich in der Regel schlecht geschlafen und mir am nächsten Tag Rat bei einem befreundeten angehenden Islamwisschenschaftler geholt. Natürlich habe ich mich auch durch eine ganze Reihe Sekundärliteratur zum Thema islamistischer Terrorismus gewühlt und, um überhaupt eine Grundlage zu haben, habe ich auch den Koran und die Hadithen gelesen sowie zahlreiche Schriften dazu.

Literatopia: Hast Du viel Kontakt mit Deinen Lesern? Und gibt es Reaktionen, die Dich sehr berührt oder auch verunsichert haben?  

Anna Kuschnarowa: Ja. Ich mache ziemlich oft Lesungen und mir macht es großen Spaß in unmittelbaren Kontakt zu den Lesern zu treten. Im Netz bin ich weniger aktiv. Wenn man den ganzen Tag vor dem Rechner sitzt, ist jede weitere Sekunde dort, zumindest für mich, zu viel. Ich geh dann lieber raus. Klar, gelegentlich wird man auch mal beschimpft, neulich bei einer „Djihad Paradise“-Lesung rief mir ein älteres Ehepaar zu: „Sie sind ja so ein richtiger Terroristenversteher!“, danach Türenschlagen und weg waren sie. Ich weiß nicht, was sie erwartet hatten. Wahrscheinlich wollten sie ihre Ressentiments bedient gesehen haben. So gesehen, war es für mich letztlich eher ein Kompliment.

Mein schönstes Leseerlebnis hatte ich letztes Jahr an einer Hauptschule. Als der Lehrer schon weg war, kam der Klassenkasper und sagte: „Ich hab ja eigentlich noch nie ein Buch gelesen, aber mit „Kinshasa Dreams“ bin ich schon fast durch.“ Danach streckte er mir die Hand zum Highfive hin. Ich glaube, das war das schönste Kompliment, das ich jemals bekommen habe.

Literatopia: Was wird uns in Zukunft von Dir erwarten? Schreibst Du bereits an einem neuen Roman? Und kannst Du uns vielleicht schon etwas darüber verraten?

Anna Kuschnarowa: Gleich fliege ich nach Russland für eine Lesereise. Dabei komme ich auch an den Don und den Kuban, wo mein Großvater herstammt. Aus diesem Grund werde ich vor Ort ein wenig für mein nächstes Projekt, einen Roman, der angelehnt ist an die Familiengeschichte väterlicherseits recherchieren. Diesmal wird es wohl ein reiner Erwachsenenschmöker. Ich habe auch schon angefangen und wenn ich aus Russland zurück bin, freue ich mich schon wahnsinnig darauf, weiterzuschreiben.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!


Autorenfoto: Copyright by Anna Kuschnarowa

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Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia.de geführt. Alle Rechte vorbehalten.