Der talentierte Mr. Ripley (Patricia Highsmith)

highsmith-ripley

Zürich, Diogenes 2003
Originaltitel: The Talented Mr. Ripley (1955)
Übersetzt von Melanie Walz
Nachwort von Paul Ingendaay
Taschenbuch, 428 Seiten
€ 11,90 [D] | € 12,30 [A] | CHF 21,90
ISBN: 978-3-257-23404-6

Genre: Kriminalroman


Inhalt

Der junge Amerikaner Tom Ripley hält sich mit kleinen Schecks seiner Tante und schlechtbezahlten Jobs und Schwindeleien notdürftig über Wasser, als der New Yorker Werftbesitzer Greenleaf ihn beauftragt, seinen Sohn Richard „Dickie“ zur Heimkehr zu bewegen. Dickie lebt im italienischen Mongibello bei Neapel, wo er ein müßiges Leben als Künstler führt. Greenleaf hält Tom für einen Freund Dickies. Tom verheimlicht ihm, nur ein Bekannter zu sein. Er sieht in der Reise die Chance, seinem tristen Dasein zu entfliehen und ein neues Leben zu beginnen.

In Mongibello gewinnt Tom schnell Dickies Vertrauen, zieht bei ihm ein und wird sein Freund. Bald mag er nicht mehr auf Dickies Gesellschaft verzichten. Als Dickies Freundin Marge behauptet, Tom sei homosexuell, bekommt die Freundschaft einen Riss. Außerdem kündigt Greenleaf ihm den Vertrag, wodurch Tom erneut in Geldnot gerät. Tom überredet Dickie zu einer Reise nach San Remo. Unterwegs begreift er, dass Dickie ihn loswerden will. Er fühlt sich verraten und schmiedet einen Mordplan. Bei einer Bootsfahrt auf dem Mittelmeer erschlägt er Dickie und wirft die beschwerte Leiche ins Meer. Das Boot versenkt er in einer Bucht unweit des Ufers.

Zurück in Mongibello packt er Dickies Sachen und leitet den Verkauf des Hauses in die Wege. Marge erzählt er, Dickie wolle sich in Rom niederlassen. In Rom nimmt er Dickies Identität an, mietet eine Wohnung, lebt von Dickies monatlichen Schecks der Treuhandgesellschaft. Mögliche Verdächtigungen versucht er zu zerstreuen, indem er als Dickie den Greenleafs und Marge regelmäßig schreibt. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen steht eines Tages Dickies Freund Freddie Miles vor der Tür. Freddie ist misstrauisch. Wieder sind Toms Talente gefragt, damit sein Schwindel nicht auffliegt.  


Rezension

Der Antiheld Tom Ripley ist Highsmiths Lieblingsfigur, ein amoralischer, aber charmanter Psychopath mit einem Talent fürs Morden. Tom ist ein verunsicherter, gehetzter, verängstigter junger Mann, doch seine Taten führt er kaltblütig, skrupellos und ohne Zögern aus, mit erschreckender Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit. Der Mord ist konsequentes Ergebnis einer irreversiblen Entwicklung und Ausdruck dafür, dass Tom zur Erreichung seiner Ziele buchstäblich über Leichen geht. Tom hat die Phantasie, sich ein anderes Leben und höhere Ziele vorzustellen; und er besitzt den Mut, die Ziele auch mit kriminellen Methoden durchzusetzen. Highsmith charakterisiert ihn als Mann mit einem Lebensideal, das bestimmt ist von einem ungeheuren Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er will sich nicht mit seinem miesen kleinen Leben zufrieden geben, in das ihn äußere Umstände hineingeworfen haben. Er will seine Identität auslöschen und „sich selbst neu erfinden“.

Highsmith erzählt die Geschichte, die Parallelen zu Henry James’ Die Gesandten aufweist, aus der Perspektive Tom Ripleys, eines zu Romanbeginn kleinen Betrügers, der zum Hochstapler und mehrfachen Mörder wird. Dabei legt Highsmith die Motive, Neigungen, Schwächen und Bedürfnisse ihres Antihelden mit psychologischer Präzision bloß, so dass der Leser Toms Gedanken, Gefühle und Taten mühelos nachvollziehen kann und Tom zur Identifikationsfigur wird. Der Leser sorgt sich, wenn Tom in eine brenzlige Lage gerät; er freut sich, wenn Tom einen, wenn auch blutigen Ausweg findet; und er hofft, dass Tom am Ende nicht bestraft wird, sondern davonkommt.

Tom nutzt seine Talente, seine präzise Beobachtungsgabe, seine Gabe für das Geschichtenerfinden und Schauspielern. Schon vor seiner Reise nach Mongibello (als Modell für den Ort hat Highsmith Positano gewählt) arbeitet er als Betrüger und Fälscher, indem er als angeblicher Finanzbeamter unter einem Pseudonym gefälschte Forderungen an Steuerzahler verschickt. Später verliebt er sich in Dickies Lebensstil und ein wenig auch in Dickie selbst. Er ist so fasziniert von Dickie, dass er dessen Kleidung anprobiert und Verhalten imitiert. Er malt sogar die gleichen schlechten Bilder und schreibt Briefe im ungelenken Stil seines Vorbilds. Nach Dickies Ermordung gerät die Identifikation mit seinem Idol so perfekt, dass Tom nur mit großem Bedauern und Selbstmitleid in seine alte Identität zurückschlüpft.

Highsmiths Roman wurde 1960 von René Clément als Plein soleil verfilmt. Die deutsche Synchronfassung lief als Nur die Sonne war Zeuge in den Kinos. Unter diesem Titel erschien der Roman in einer Übersetzung von Barbara Bortfeldt 1961 im Rowohlt-Verlag. Als Der talentierte Mr. Ripley wurde Bortfeldts Fassung 1971 bei Diogenes und 1974 im Deutschen Taschenbuchverlag veröffentlicht. Die Neuübersetzung von Melanie Walz erschien erstmals 2002 bei Diogenes.


Fazit

Ein Psychothriller über einen modernen Antihelden, unverschämt und kühn, der mühelos von einer Rolle in die nächste schlüpft, Identitäten abstreift wie eine alte Haut und für den Moral eine unbekannte Größe ist.


Pro und Kontra

+ Highsmith gelingt es, eine Atmosphäre permanenter Anspannung und Bedrohung zu schaffen
+ beklemmende Einsichten in die Welt eines psychotischen Antihelden  
+ eine spannende, intelligente Geschichte über Homoerotik, die Faszination für den Doppelgänger und die Auslöschung von Identitäten
+ thematisch modern, eindringlich erzählt
+ in neuer, vollständiger Übersetzung erschienen

Wertung:sterne5

Handlung 5/5
Charaktere 5/5
Lesespaß 5/5
Preis/Leistung 4/5


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