Upload (Cory Doctorow)

Originaltitel: Eastern Standard Tribe
Wilhelm Heyne Verlag, München, 2008
320 Seiten, Taschenbuch, Preis: 7,95 € (D)
ISBN: 978-3-453-52413-2

Genre: Science-Fiction


Stammesfehden

Ich hatte einmal einen Tai-Chi-Lehrer, der mir den Unterschied zwischen chinesischer und westlicher Medizin so erklärte: „Die westliche Medizin basiert auf Leichen, auf Dingen, die man entdeckt, wenn man tote Körper aufschneidet und zerlegt. Dagegen beruht die chinesische Medizin auf lebenden Körpern, auf Dingen, die man an vitalen, aktiven Menschen beobachten kann.“
Wie jede gute Werbung ist diese Erklärung plakativ und übertrieben, außerdem auch nicht sonderlich genau, aber sie bleibt hängen. Bleibt so hängen wie die eingängige Melodie eines Top-40-Songs, die einem in den Mittagsstunden, wenn die Welt aufgrund des eigenen Schlafmangels eine täuschend hyperreale Klarheit annimmt, durch den Kopf geistert. So wie jetzt, wo ich in Unterwäsche auf dem Dach einer Nervenheilanstalt am Arsch der Welt, jenseits der Route 128 hocke. [...] So wie jetzt, wo ich mit einem Bleistift in der Nase dasitze, über eigenhändig durchgeführte Lobotomien nachdenke und mich frage, ob es nicht nett wäre, einen solchen Eingriff in meinem Schädel durchzuführen.

- aus dem Beginn des Romans


Das Umfeld: In dieser Zukunft haben Menschen über das Internet derart weitreichende Interessensgemeinschaften gebildet, dass sie als „Stämme“ bezeichnet und nach Zeitzonen organisiert werden, ganz unabhängig von den tatsächlichen Aufenthaltsorten der Einzelpersonen. Und wie so oft sind auch Konflikt und Konkurrenz zwischen diesen Gemeinschaften nicht weit.
Der Protagonist: Art Berry, „Agent provocateur des Eastern Standard Tribe“, des Stamms der Östlichen Zeitzone. Sein Job ist es, für die Benutzerfreundlichkeit von Produkten zu sorgen – oder, wie im Moment, feindliche Stämme zu sabotieren. Bei einem Beinahe-Autounfall lernt er die eigenwillige Linda kennen, die ihn immer wieder aus dem Konzept bringt; und das ist nur die erste von vielen Veränderungen in seinem unsteten Leben, die schließlich auf dem Dach der Nervenheilanstalt einen Höhepunkt erreichen ...

Was wärst du lieber ...

„... klug oder glücklich?“, so definiert der Erzähler zu Beginn das Thema der Geschichte. Für Art jedoch scheint das nicht unbedingt die Frage zu sein: Zielstrebig, selbstbewusst und nicht selten kämpferisch-aggressiv tut er, was er für richtig hält, ohne zu reflektieren. Auch die anderen Figuren scheinen ohne groß nachzudenken für sich die Entscheidung zwischen Loyalität und dem eigenen Vorteil zu treffen, beinahe, als würde nur eine Möglichkeit existieren.
Bei diesen dominierenden Interessenkonflikten treten die Elemente der Science Fiction in den Hintergrund und sind auch nicht sonderlich zahlreich vertreten, wenngleich durchaus interessante Ideen dabei sind. Ein Beispiel: Nachdem sie Touristen ausgeraubt haben, werden Verbrecher freigesprochen, da sie sich auf „kulturelle Missverständnisse“ ausreden können – das wiederum hat eine ganz neue Art des Überfalls zur Folge, denn wer arbeitet nicht gern mit neuen Methoden, wenn ihm dadurch die Strafe erspart bleibt?

Missklänge

Andere Sci-Fi-Bausteine wirken weniger originell: „Ein Handy wird einfach Komset genannt und als neu präsentiert“, beschwert sich ein Leser, dem ich hier zustimmen muss – ganz abgesehen davon, dass die Geschichte stellenweise zu verwirrend wird, sich nicht mehr nachvollziehen lässt, da Cory Doctorow seinen Protagonisten nicht lang damit aufhält, für den Leser neue Umstände zu erklären, und sei es nur ansatzweise. Viel Geduld ist notwendig, bis enthüllt wird, was es eigentlich mit den Stämmen, den Zeitzonen, Arts Job etc. auf sich hat. Auch das Ende hinterlässt das eine oder andere Fragezeichen.
Die Sprache des Romans ist sehr slangorientiert, das kann sowohl ge- als auch missfallen, ist jedoch konsequent umgesetzt, anders als der Spannungsaufbau, der manchmal den roten Faden sehr vermissen lässt. Ausgiebiger Austausch von Körperflüssigkeiten soll vielleicht über dieses Manko hinwegtäuschen, was allerdings nicht gelingt: Die Handlung ist unspektakulärer, als der Anfang vermuten lässt, und wirkt zusammengewürfelt.

Fazit

Nach einem gelungenen Einstieg sackt der Roman sehr schnell ab und verliert an Spannung, die auch durch permanentes Hin- und Herschalten zwischen Gegenwart (auf dem Dach der Nervenheilanstalt) und Vergangenheit nicht wieder hergestellt werden kann, eher beginnt der Wechsel zu nerven. Weder Handlung noch Ideen vermögen anhaltend zu überzeugen, auch die Figuren sind flach, überzeichnet und nur auf einen Charakterzug hin orientiert. Alles in allem ist Doctorow zu mehr fähig, davon bin ich überzeugt – hier allerdings scheitert er. Dieses Buch ist höchstens für eingefleischte Sci-Fi-Leser zu empfehlen, die sich für einen neuen Zukunftsentwurf interessieren und dabei die Geschichte selbst vernachlässigen können. Punkte gibt es am ehesten noch für den Beginn des Romans.


Pro und Contra

+ Interessante Zukunftsversatzstücke
+ Gelungener Einstieg

o Sprachlich sehr an Slang orientiert
o Ausreichender Austausch von Körperflüssigkeiten

- Überzeichnete, unreflektierte Charaktere
- Teilweise verwirrend und nicht mehr nachvollziehbar
- Konsequenter Spannungsaufbau fehlt
- Handlung ist unspektakulär und wirkt zusammengewürfelt

Bewertung:

Handlung: 1,5/5
Charaktere: 1/5
Lesespaß: 1,5/5
Preis/Leistung: 1/5

Rezension zu "Backup"