Einer nach dem anderen (Luigi Pirandello)

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Berlin 2006, Wagenbach (Reihe Salto)
Originaltitel: Il turno (1902)
Übersetzt von Sabine Schneider
Leinen, 120 Seiten
€ 14,90 [D] | € 15,40 [A] | CHF 21,90
ISBN: 978-3-8031-1234-7

Genre: Belletristik


Rezension

Der Sizilianer Luigi Pirandello (1867-1936) zählt zu den Wegbereitern der literarischen Moderne und zu den wichtigsten Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts. Er gründete 1925 das Teatro d’Arte in Rom, erhielt 1934 den Literaturnobelpreis und ist auch heute noch einer der populärsten italienischen Autoren. Pirandello ist bei uns insbesondere durch seine Theaterstücke bekannt geworden, deren berühmtestes das Drama Sechs Personen suchen einen Autor sein dürfte.

In seiner Novelle Einer nach dem anderen springt Pirandello mit den ersten Worten mitten ins (theaterhaft inszenierte) Geschehen, ein Gespräch über eine soziale und finanzielle Notwendigkeit: die junge und schöne Stellina soll heiraten. Kandidaten gibt es grundsätzlich genug, weil aber Marcantonio Ravì, Stellinas Vater, der Tochter nur eine geringe Mitgift zur Verfügung stellen kann, sind keine zugleich jungen und reichen darunter. Sein erstplatzierter Kandidat ist der angesehene und finanziell gut ausgestattete Don Diego Alcozér.

Marcantonio sieht für Stellina nur zwei Optionen auf dem Weg zu einer eventuellen Heirat mit einem jüngeren Mann: warten bei den Eltern, eigentlich inakzeptabel, weil die grundlegende Situation nicht verändernd, und Heirat mit Don Diego. Dieser ist bereits 72 Jahre alt und stellt damit keine sexuelle Gefahr für das Mädchen dar. Die Ehe käme Marcantonio zufolge eher einer Adoption gleich, und Stellina müsse nur drei oder vier Jahre bis zum Ableben Don Diegos warten, um als wohlhabende junge Witwe eine attraktive Partie für jüngere Männer mit Geld zu sein.

In der Werbephase um Stellina gibt Don Diego, der als sich mit kurzen leichten Rebhuhnschrittchen fortbewegend beschrieben wird, Marcantonio viele kleine und wertvolle Geschenke, Schmuck, der zuvor einer seiner vier verstorbenen Gattinnen gehört hat. Stellina nimmt die Geschenke mit vordergründigem Widerwillen gerne an, will Don Diego aber keinesfalls sehen. Schließlich jedoch kommt es zur Ehe und einigen erheblichen Aufregungen in äußerst unruhigem Fahrwasser.

Einer nach dem anderen ist ein liebevoll-ironisches Sittenbild der (nicht nur) sizilianischen Gesellschaft im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Er greift Motive des Liebesromans auf, kehrt diese ins Absurde, gelegentlich ins Groteske, indem er zeigt, welche Absichten hinter den expressiv gelebten Gefühlen verborgen sind und welche ökonomische Ratio die Abwägungen des Vaters bestimmt.


„Ja, ja…“ schluchzte Stellina. „Dass du mein Wohl bedacht hast, werden die Leute schon merken, wenn sie mich eines Tages zerschmettert von der Straße auflesen!“ (S.69)

 

Pirandello gibt der Beschreibung von Gefühlswelten viel Raum. Ein Hauptbestandteil seiner Ästhetik ist der ihm eigene Humor, mit dem er sich in einer umfangreichen Arbeit befasst hat. Das Leben der Figuren und die auf sie einwirkenden Geschehnisse sind für die Leser, nicht hingegen die Figuren komisch.


„Ich bin eigentlich ein Juwel von Vater.“ (S.74f.)

 

Die Handlung benutzt Pirandello, um Charakterporträts zu entwickeln. Don Pepè Alletto, einer der Kandidaten, die sich als um die Gunst Stellinas Werbende aufreihen, wohnt bei seiner 70-jährigen Mutter Donna Bettina. Er benutzt einen Trauerfall, um sich in Stellinas Augen interessanter zu machen. Bettina träumt einmal, Don Diego halte um ihre Hand an, damit Stellina für ihren Sohn verfügbar wird. Sie ist primär daran interessiert, nicht alleine leben zu müssen. Die Mutter freut sich, wenn der Sohn keine Frau abbekommt, sie vertröstet ihn auf später, bei seinen Qualitäten werde er schon noch eine passende Frau finden, lässt ihn dabei aber immer wieder das Versprechen erneuern, bei Mama zu bleiben.

Als Leser wird man durch die Erzählung getrieben und scheint ständig irgendwo Türen knallen zu hören, Türen, durch die Figuren auftreten und abtreten, zwischendrin oft genug sich der Lächerlichkeit preisgebend. Das Ganze liest sich sehr flott, mit Tiefgang, ist unterhaltsam, voller Komik und Absurditäten.

In Zügen der Figuren äußern sich gegensätzliche gesellschaftliche Strömungen. Man erahnt eine Zeit im Umbruch, den Wandel von sozialen Konventionen und Rollenmodellen. Ein konservatives Klassenbild und ein ebensolches Frauenbild treffen auf Entwürfe, die mit Heftigkeit bereits an die Tür klopfen und sich den Zugang nicht mehr verwehren lassen. Im Privaten gibt es die Erosion von Konventionen schon lange.

Pirandello bezieht in seine gesellschaftskritische Komödie die Dummheit von Männern im Angesicht weiblicher Jugend und Schönheit ein, den Nichtvollzug der „ehelichen Pflichten“, das Wahren von Maskeraden und im Nachgang eines Gerichtsverfahrens die Verhöhnung Marcantonios durch ordentliche Bürger, die bösartig schadenfroh sind. Verletzte Ehre spielt eine Rolle, man duelliert und prügelt sich, verschiedene Qualitäten von Hahnenkämpfen um Stellina werden ausgefochten.

Stellina ist keine Märtyrerin, die einem überkommenen Frauenbild genügen muss, sondern eine Rebellin, die nicht einmal vor ihrem Vater zurückschreckt. Sie lässt sich auf die Ehe ein, rächt sich aber nicht, indem sie sie bricht, sondern indem sie die physische Seite konsequent ausspart. Am Ende fühlen sich drei Männer auf je eigene Weise hintergangen, und Stellina entscheidet sich ganz anders. Während der rund zwei Jahre beanspruchenden Handlungszeit gibt es zwei Todesfälle, zwei Eheschließungen und jede Menge Aufregungen.

Pirandello führt in Einer nach dem anderen nicht den engen Diskurs Liebe versus Vernunft fort. Er begibt sich in den Vorraum dieser Problemstellung. Es gibt keinen Menschen, den Stellina liebt und heiraten möchte. Vielmehr will Marcantonio die materielle Verantwortung für seine Tochter in andere Hände geben und verhindern, dass durch die falsche Partnerwahl soziale – und darüber für ihn persönliche - Probleme entstehen. Er bezieht gar in sein Kalkül die spätere Liebesheirat als Möglichkeit ein, wenn er das Für und Wider des fortgeschrittenen Alters Don Diegos zu einem der beiden zentralen Parameter macht. Die Abwägung von Jugend gegen Geld beschreibt für Marcantonio den „vernünftigen“ Zugang zur Problematik der Heirat. Gleichwohl stellt sich für Stellina, auch wenn es keine Kandidaten für eine Liebesheirat gibt, die Frage nach der Liebe insoweit, als Don Diego ihr zu alt ist und sie ihn keinesfalls liebt noch lieben könnte, wie dies in der Vernunftehe als Möglichkeit angenommen werden könnte.


Fazit

In Luigi Pirandellos Gesellschaftssatire Einer nach dem anderen versucht ein Vater in einem Kompromiss seine Tochter unter die Haube zu bringen, was zu krassen Rückkopplungen und Verwicklungen führt, bei denen beinahe jeder Beteiligte irgendwie auf der Strecke bleibt.


Pro und Kontra

+ absurde Komödie über das Verhältnis von Mann und Frau, über Rollenbilder im Umbruch
+ schnell und pointiert erzählt
+ sehr unterhaltsam
+ glänzende Dialoge
+ schöne Aufmachung (rotes Leinen und Vorsatzpapier, Fadenheftung, aufgeklebtes Coverbild, farbige Prägung)

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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