Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto (Mario Vargas Llosa)

vargasllosa rigoberto

Frankfurt am Main 1999, Suhrkamp
Originaltitel: Los cuadernos de don Rigoberto (1997)
Übersetzt von Elke Wehr
Taschenbuch, 469 Seiten
€ 11,50 [D] | € 11,90 [A] | CHF 16,90
ISBN: 978-3-518-39505-9

Genre: Belletristik


Inhalt (Spoiler, falls Lob der Stiefmutter unbekannt)

Don Rigoberto ist nach wie vor in Lukrezia verliebt, die nun mit ihrer Hausangestellten, der frech-frivolen Justiniana, in einer anderen Wohnung in San Isidro lebt. Sie haben keinerlei Kontakt mit einander, sehnen sich aber jeden Tag nach einander. Rigoberto hat auch seinem Sohn Fonchito, der weiterhin bei ihm wohnt und eine Kunstakademie besucht, jeglichen Umgang mit Lukrezia verboten.

Dennoch steht Fonchito eines Tages bei Lukrezia vor der Tür, unschuldig und engelgleich wie immer. Lukrezia kann seinem Charme nicht widerstehen und so treffen sie sich jeden Nachmittag zum Tee, wobei er ihr von seinem Vorbild Egon Schiele erzählt, dem früh verstorbenen Wiener Maler, als dessen Reinkarnation er sich selbst sieht. Lukrezia, die sich seinen scheinbar unschuldig dahingeworfenen Komplimenten und seinen zufälligen Berührungen erotisch kaum entziehen kann, lässt sich von ihm überreden, die Bilder Schieles nachzustellen - selbstredend bekleidet. Dies reizt ihre erotische Phantasie, ebenso wie die scheinbar unschuldig von Fonchito gewählten Gesprächsthemen über die Liebe.

Auch Justiniana, die ihm nach kurzer Empörung wieder seine Lieblingsspeise serviert und ihm damit ihr Verzeihen signalisiert, wird in dieses phantasievolle Spiel involviert. Obgleich beide Frauen vor Fonchito gewarnt sind, können sie ihm keine seiner harmlos anmutenden Bitten abschlagen. Auch wenn es anfangs so scheint, als wolle Fonchito erneut seine Stiefmutter verführen, verfolgt er doch einen ganz anderen Plan. Derweil verbringt der ahnungslose Rigoberto, der als Jurist für eine Versicherungsgesellschaft arbeitet, seine Abende und Nächte damit, sich seinen erotischen Phantasien über Lukrezia hinzugeben.


Rezension

Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto ist eine Fortsetzung von Lob der Stiefmutter, in dem Vargas Llosa beschreibt, wie der verwitwete Don Rigoberto die schöne Lukrezia heiratet, sein frühreifer Sohn aus erster Ehe, der blonde blauäugige Dämon Fonchito, seine Stiefmutter verführt, das erotische Abenteuer in einem Schulaufsatz enthüllt und wie der Betrogene seine Gattin aus dem Haus wirft.

Der Roman besteht aus neun Kapiteln und einem Epilog. Er ist mit seinen kunstvoll verschachtelten Phantasie- und Realitätsebenen raffiniert konstruiert. Auch Rigoberto verliert sich in seinen Träumen und Wunschbildern. So sieht er beispielsweise Lukrezias hingeworfenen Slip buchstäblich vor seinen eigenen Augen. Er verliert sich jedoch nicht in seinen Träumen, sondern findet immer wieder den Weg in die Realität zurück. Die Phantasie aber ist ihm ein wichtiges Mittel, um die Trennung von Lukrezia zu überleben, denn man hört ihn nicht einen einzigen Moment jammern. Letztlich überwindet er durch seine Phantasie die Trennung - bildlich und buchstäblich. Seine Phantasien sind durchgehend geprägt von einem Bild Lukrezias als willigem Opfer ihrer Leidenschaft - er sieht sie in der Affäre mit Fonchito so, wie sie war: nicht als treibende Kraft, sondern als Frau, die ihren Emotionen ausgeliefert war.

Rigoberto liefert ein vehementes Plädoyer für den radikalen Individualismus außerhalb der gesellschaftlichen Normen, dessen höchste Ausprägung die in der Kunst gebrochene erotische Phantasie ist. Er lehnt alles Natürliche ab. Er hasst das Landleben, mag keine Körperbehaarung bei Frauen, Kaugummi kauende und Obst essende Frauen bewirken Erektionsstörungen. Pornographie ist für ihn phantasielos und mechanistisch. Er hasst Sport, Vereine und Männerclubs, natürlich auch jede Ausprägung von Patriotismus, weil sie wegen der Gruppendynamiken zur Entindividualisierung führen. Dagegen gratuliert er einem verurteilten Spanner, der die Nachbarin wegen ihrer Achselhaare beobachtet hat, dazu, sich als Ausdruck seiner Freiheit zu seinem Fetischismus bekannt zu haben.

Er plädiert für das Ausleben von Phantasien, wenn dies in beiderseitigem Einverständnis zwischen Erwachsenen geschieht. Da die Verbindung von Kunst und Erotik unauflösbar für Rigoberto ist, gibt es in seinen Aufzeichnungen auch zahlreiche Anspielungen auf Künstler. Einige bewundert er, viele lehnt er ab. So bezeichnet er Kafka ohne nähere Erklärung als Heuchler und Versicherungsvertreter - wobei er ironisch bekennt, dies auch selbst zu sein. Musils Mann ohne Eigenschaften findet er langweilig, Oliver Stone und Quentin Tarantino sind für ihn Heuchler. Patricia Highsmith findet er überbewertet, mag aber ihren Roman Ediths Tagebuch, weil sich die Heldin, so wie er, zwischen Traum und Wirklichkeit bewegt. Diese eingestreuten seitenlangen Äußerungen und Kritiken Rigobertos zu bestimmten Themen und Künstlern sind Schwachstellen, weil ihnen nur ein einziges Kriterium als Maßstab zugrunde liegt: der radikale Individualismus als höchstes Gut.


Fazit

Mario Vargas Llosas sinnlicher Roman Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto ist nicht zuletzt durch die beeindruckende Sprache ein Leseerlebnis. Wie Lob der Stiefmutter gehört er wohl nicht zu seinen besten Werken, sicher aber zu seinen prickelndsten.


Pro und Kontra

+ reizvolles intellektuelles Vexierspiel
+ satirisches name dropping

- teils belehrend

Wertungsterne4

Inhalt: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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