Liebe Mutter, es geht mir gut … (Margaret Millar)

millar liebemutter

Zürich, Diogenes 28.1.2015 (Neuausgabe, 17. Auflage insgesamt)
Originaltitel: Beast in View (1955)
Übersetzung von Elizabeth Gilbert
Gebunden, 240 Seiten
€ 11,90 [D] | € 12,30 [A] | CHF 18,90
ISBN 987-3-257-20226-7

Genre: Kriminalroman

Die Rezension basiert auf der englischen ebook-Ausgabe von Syndicate Books (datiert 2016, erschienen 8.12.2015), aus der auch Passagen übersetzt wurden.


Rezension

Margaret Millar wurde 1915 im kanadischen Kitchener, Ontario, geboren, lebte aber den Großteil ihres Lebens mit ihrem Ehemann Ken Millar, besser bekannt unter seinem Pseudonym Ross MacDonald, in Santa Barbara. Sie war eine Pionierin des psychologischen Mystery-Romans und Thrillers. Insgesamt schrieb sie 27 Bücher. Ihr 1956 erschienener Roman Beast in View wurde mit dem Edgar Allan Poe Award als Bester Roman ausgezeichnet. 1965 wurde sie von der Los Angeles Times zur Frau des Jahres gewählt. 1983 erhielt sie von den Mystery Writers of America den Grand Master Award für ihr Lebenswerk. Psychologischer Sachverstand, intelligente Erzähltechnik und beißender Witz machen sie zu einem der wichtigsten Krimiautoren. Von ihr stammen Klassiker wie Die Süßholzraspler, Ein Fremder liegt in meinem Grab, Die Feindin oder Wie Du mir. Millar starb 1994.

Die 30-jährige Helen Clarvoe führt eine einsame Existenz in einer Suite des zweitklassigen Monica Hotel im Herzen von Hollywood. Sie lebt vom Erbe ihres vor einem Jahr verstorbenen Vaters. Die Verbindung zu ihrer Mutter Verna ist nach einem heftigen Streit nahezu abgebrochen, zu ihrem 25-jährigen Bruder Douglas, der noch daheim bei der Mutter in Beverly Hills lebt, hat sie ebenfalls kaum Kontakt.

Eines Tages erhält sie einen Anruf von ihrer ehemaligen Freundin Evelyn Merrick, die ihr bei den Finanzen helfen und in ihrer Kristallkugel gesehen haben will, dass Helen sich an Stirn und Mund verletzen wird. Helen kann sich nicht an eine Evelyn Merrick erinnern und glaubt an einen Scherz. Als sie bald darauf stürzt und Evelyns Prophezeiung eintrifft, außerdem ein größerer Geldbetrag aus ihrer Suite fehlt, sendet sie einen Hilfeschrei an Paul Blackshear. Blackshear („nennt man Sie mitunter auch Blacksheep?“ wird er gefragt) ist der ehemalige Broker ihres Vaters, ihr Investmentberater und der einzige Mensch, mit dem sie, abgesehen vom Hotelpersonal, noch in regelmäßiger Verbindung steht. Er soll Evelyn Merrick, die Anruferin und vermeintliche Diebin, finden.

Eigentlich kann Blackshear die reizlose, uncharmante und geizige Helen gar nicht leiden. Doch ihre Geschichte macht ihn neugierig. Zeit genug hat er auch, seit er sich praktisch aus dem Arbeitsleben zurückgezogen hat. Seine Frau ist tot, seine Söhne sind ausgezogen. Evelyn hat sich eine Karriere als Künstlermodell prophezeit, weshalb Blackshear seine Suche bei Lydia Hudson und ihrer „School of Charm and Modelling“ beginnt. Diese Spur führt ihn weiter zu den Fotografen Jack Terola und Harley Moore. Dabei entdeckt er, dass Evelyn nicht nur Helen terrorisiert, sondern auch andere Menschen, wobei sie deren Ängste anspricht und verstärkt.

Als Blackshear Helens Mutter Verna bittet, ihrer Tochter vorübergehend Zuflucht zu gewähren, erfährt er, dass Evelyn Merrick eine alte Schulfreundin Helens und die Exfrau von Douglas ist. Evelyn ließ die Ehe nur wenige Wochen nach der Hochzeit annullieren. Kurz darauf erhält Verna einen Anruf von Evelyn, die sie darüber aufklärt, dass Douglas homosexuell sei und mit seinem Fotografie-Lehrer Terola gewisse Dinge im Hinterzimmer treibe. Verna stellt Douglas zur Rede. Als sie Terola konfrontieren will, begeht Douglas Selbstmord. Kurz darauf findet Blackshear Terola, erstochen mit einer Schere.

Über die Hauptfigur Helen Clarvoe heißt es, sie habe in ihrem Leben zu viele Verbindungen abgebrochen und existiere „durch, für und von sich selbst, abgeschottet von der Welt durch eine Mauer aus Geld und die Eisengitter ihres Egotismus“. So sieht Blackshear sie. Helen ist kein angenehmer Mensch, aber man erfährt im Laufe der Romanhandlung, warum sie so ablehnend und unleidlich geworden ist. So erfahren wir von einer Party, zu der sie als Teenager Evelyn begleitete. Während sich Evelyn amüsierte, versteckte sie sich auf dem Klo. Sie belügt ihren Vater, der, als er zufällig die Wahrheit erfährt, enttäuscht reagiert. Ihre Strafe bestünde darin, sie selbst zu sein und mit sich selbst leben zu müssen, sagt der Vater zu ihrer Mutter. Zufällig hört Helen diese Worte, die sich in ihr Gedächtnis brennen. Helen wird gedemütigt und abgelehnt, schottet sich zunehmend gegen die Außenwelt ab aus Schutz vor seelischen Verletzungen. Je mehr man über sie erfährt, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass sie ein Opfer ist.

Zunächst mutmaßt Blackshear nur, die Anruferin ziehe Befriedigung aus dem Schmerz anderer Menschen. Doch als er mit Evelyns Mutter spricht und Evelyn schließlich persönlich kennenlernt, ist er sicher, dass sie unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet. Denn Evelyn ist nett und freundlich. Ihre beste Freundin räumt allerdings ein, dass Evelyn nicht ganz offen sei und anscheinend etwas vor ihr verberge.

Auch die anderen Figuren werden von Millar unters Mikroskop der Psychologie gelegt. So wird Verna als Frau beschrieben, die eine „Rolle spielt, die, wie sie dachte, von ihr erwartet wurde, die Rolle der schönen und frivolen Ehefrau eines Mannes, der sie sich leisten konnte. Sie stand immer noch auf der Bühne, aber sie hatte ihren Text vergessen, Requisiten und Hintergrund waren abgeräumt, die Zuschauer waren längst gegangen.“ Als die Kinder noch klein waren, „quasselte sie endlos auf dem Ich-Mir-Mein-Level“, während die Kinder stumm dabeisaßen, „wie Modellhäftlinge am Tisch des Gefängnisdirektors.“ Millar ist keine Verbalschleiche, ihre Sprache ist eindeutig und klar, ihre Metaphern sind Pistolenschüsse.

Helens Bruder Douglas ist ein Muttersöhnchen, das verhätschelt und verzogen wird. Verna nennt den fast 26-jährigen Mann noch immer „Junge“, hält ihn aus und finanziert seine ständig wechselnden Hobbys. Wie ein Politiker weigert sie sich beharrlich, die Realität zu akzeptieren. Allerdings drängt sich ihr angesichts seines Lebenswandels und der annullierten Ehe dann doch noch das vage Gefühl, mit ihm könne etwas nicht stimmen.

Margaret Millar breitet gekonnt Beziehungsgeflechte aus, entlarvt trügerische Illusionen vom familiären Glück. Sie legt geschickt falsche Fährten, um den Roman im letzten Absatz mit einer überraschenden Auflösung zu beenden.
Der deutsche Titel bezieht sich auf Helens Briefe mit dem immer gleichen Anfang: „Dear Mother: I am well…“ („Liebe Mutter, es geht mir gut.“) Nach Evelyns Anruf ändert sie den Anfang und dabei schleicht sich unbewusst ein falscher Buchstabe hinein. Aus dem w wird ein h. Das ändert alles: „Dear Mother: It has been a long time since I’ve heard from you. I hope that all is hell with you and Douglas.” („Liebe Mutter: es ist lange her, seit ich von Dir gehört habe. Ich hoffe, für Dich und Douglas ist es die Hölle.“).

Der Originaltitel Beast in View bezieht sich auf Helen, die das Gefühl hat, von Evelyn wie ein Tier gejagt und gestellt zu werden. Millars Roman erschien erstmals 1967 in deutscher Übersetzung, bei Diogenes in Zürich. Es folgte 1970 eine Lizenzausgabe als dtv-Taschenbuch 686.


Fazit

Ein intelligenter, spannender Psychothriller, der den Zerfall eines Menschen beschreibt und dabei subversiv und böse das US-amerikanische Ideal der Familie demontiert. Ein Roman aus dem prädigitalen Zeitalter, der aber nichts verliert, weil sein Thema der Mensch ist: die Technologie ändert sich, der Mensch nicht.


Pro und Kontra

+ beklemmende Einsichten in die Welt eines Menschen, der in den Wahn abdriftet
+ psychologisch stimmig, brillant erzählt, dialogstark, düstere Atmosphäre
+ intensiv, knapp und ruhig
+ klare Sprache mit bissigem Witz

Wertungsterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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