Das andere Kind (Charlotte Link)

Blanvalet, August 2009
HC, 672 Seiten, € 24,95
ISBN: 978- 3764502799

Genre: Thriller


Klappentext

In der beschaulichen nordenglischen Küstenstadt Scarborough wird eine Studentin grausam erschlagen aufgefunden. Monatelang tappen die Ermittler im Dunkeln – dann geschieht ein ähnliches Verbrechen. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Opfern ist dennoch kaum herzustellen. Und die ehrgeizige Polizistin Valerie Almond klammert sich an das allzu Offensichtliche: an ein Zerwürfnis innerhalb der Familie des zweiten Opfers. Lange Zeit ist ihr der Blick jedoch verstellt für das Gift, das in dieser Familie wirkt – und dessen Ursprung sie bis weit in die Vergangenheit hinein zurückverfolgen müsste. Bis hin zu einer grausamen Entdeckung an einem kalten Dezembertag vor mehr als dreißig Jahren. Und sogar bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs, als ein Kind auf geheimnisvolle Weise verschwand… Es dauert fast zu lange, bis Valerie Almond begreift, dass ein kranker Täter seinen Hass und seinen Rachedurst noch nicht gestillt hat. Entsetzt erkennt sie, dass es für ihr Eingreifen schon zu spät sein könnte…


Die Autorin

Charlotte Link ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre raffinierten psychologischen Spannungsromane in bester englischer Erzähltradition – zuletzt „Das Echo der Schuld“ und „Die letzte Spur“ – sind internationale Bestseller. Allein in Deutschland begeisterten bereits über 15 Millionen verkaufte Bücher ihre Leserinnen und Leser.
Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt / Main.


Rezension

Fiona Barnes und Chad Beckett lernen sich in den Wirren des Zweiten Weltkriegs kennen, als die zwölfjährige Fiona aus London aufs Land geschickt wird, um den Bombenangriffen zu entgehen. Sie kommt auf die Farm der Becketts, in dessen Sohn Chad sie sich sofort verliebt. Diese Liebe hält zwar ein Leben lang an, wird aber durch eine Schuld, die Fiona und Chad auf sich laden erheblich getrübt.

Was genau diese Schuld und wer das andere Kind ist, erfährt man erst zum Schluß in diesem neuen Roman von Charlotte Link. Wieder einmal gelingt es der Autorin auf ihre unnachahmlich fesselnde Weise den Leser zu entführen, einerseits in die Gegenwart in ein malerisches kleines Küstendörfchen und in die Vergangenheit, in die brutalen Wirren des Zweiten Weltkrieges mit seinen vielen Toten, den Bomben, dem Hunger, der Zerstörung und der Kinderlandverschickung. Geschickt werden die beiden Zeitebenen verwoben, und so erfährt man immer wieder Episoden aus der Vergangenheit, um zu verstehen, warum die Charaktere so geworden sind, wie sie sind.

Zwei Morde passieren in Scarborough, eine junge Studentin und eine alte Frau werden auf ähnliche Art und Weise ermordet. Hängen diese beiden Taten zusammen? Eingespannt in die Ermittlungen geht der Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit, in der schon bereits mögliche Motive gelegt wurden. Die beiden Todesfälle spielen aber nur am Rande eine Rolle, eigentlich geht es in dem Buch um die Lebensgeschichte von Fiona und Chad, ihre Erlebnisse und was daraus entstanden ist. Es ergibt sich alles daraus, und man hat bildlich vor Augen, wie äußere Einflüsse ein Leben verändern können. Manchmal wird auch einfach eine falsche Wahl getroffen, aus einem Augenblick heraus, in dem man meint, nicht anders handeln zu können. So eine Wahl kann einem ein ganzes Leben lang nachhängen.

Gwen, die scheue und unattraktive Tochter von Chad, lernt einen attraktiven Mann kennen, der sie tatsächlich auch heiraten will. Zur Verlobung kommen ihre Freundin Leslie, die Enkelin von Fiona mit ihrer Großmutter und ein befreundetes Ehepaar, Jennifer und Colin, die gerade Urlaub auf dem Beckett Hof machen. Die Feier eskaliert, nachdem Fiona ausspricht, was alle insgeheim denken, warum bloß so ein gut aussehender und welterfahrener Mann wie Dave Tanner ausgerechnet die scheue Gwen heiraten und mit ihr in der Einöde versumpfen will. Diese Frage ist auch eines der Hauptthemen des Buches, immer wieder gibt es Einblicke in Daves Leben, in seine Gedanken und Erlebnisse. Nicht immer ergibt sich daraus ein positives Bild von ihm.

Genau wie es von allen anderen Charakteren auch nicht immer Positives zu berichten gibt. Jeder verheimlicht und versteckt irgendetwas, jeder schleppt seine Probleme mit sich herum und leidet vor sich hin. Einige werden im Laufe des Buches gelöst und aus den anderen ergeben sich noch größere Probleme. Auch hier wird wieder deutlich, dass nicht immer alles so belastend sein muss, wie man selber glaubt. Manchmal sind es auch hier nur kleine Ereignisse, die den Menschen wieder ins normale Leben zurückführen, und man lernt, die Macht des Dialoges nicht zu unterschätzen.

Die Personen bleiben einem seltsam fremd, eigentlich findet man zu keinem einen richtigen Zugang. Alle miteinander sind sie nicht sonderlich sympathisch, sie haben oft mehr schlechte Eigenschaften als Vorzüge, aber das ist auch nicht weiter tragisch. So verliert man als Leser nicht den Blick auf das Wesentliche, man kann der Geschichte mit einem gewissen Abstand folgen, ohne zu sehr mit jemandem mitzufühlen. Trotzdem ist das Buch ungemein spannend, gerade die Vielfältigkeit der Personen und ihren verschiedenen Problemen macht es zu einem richtigen Leseerlebnis.

Am Ende überstürzen sich dann allerdings wieder die Ereignisse. Warum nur müssen Frauen immer alles alleine machen, davon überzeugt, sie sind die Einzigen, die die anderen retten können. Anstatt nachzudenken und Hilfe zu holen wird einfach losgerannt, sinnigerweise immer mit dem Gedanken, dass man auch gleich sterben könnte. Die Frauen des Buches kommen am Ende alle zusammen, die Männer spielen hier eigentlich nur eine untergeordnete Rolle. Aber das ist auch bei anderen Büchern von Charlotte Link so, Frauen sind bei ihr immer die starken Charaktere, das macht auch den Charme der Bücher aus.

Das Cover ist wirklich gut gewählt, ein leerer Strand am Meer spielt eine große Rolle in dem Buch. Man kann sich bildlich vorstellen, was die Personen alles gesehen haben, wenn sie am Strand gesessen und nachgedacht – oder sich zu heimlichen Stelldicheins getroffen haben.


Fazit

Charlotte Link versteht ihr Handwerk. Gewohnt routiniert entführt sie ihre Leser in die Beschaulichkeit des englischen Landlebens. Das Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart passt perfekt, gefesselt in beiden Welten kann man gar nicht schnell genug lesen, um endlich zur Auflösung zu gelangen oder seine Vermutungen bestätigt zu sehen.


Pro und Contra

+ packende Erzählweise
+ gekonntes Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart
+ interessante Charaktere
+ vielschichtige Ereignisse
+ bildhafte Sprache

- man kann sich in keinen Charakter so richtig hineinversetzen

Wertung:

Handlung:4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5