180°Meer (Sarah Kuttner)

Kuttner S 180 Grad Meer

Fischer Verlag, 1. Auflage, Januar 2016
Gebundene Ausgabe, 272 Seiten,
18,99 Euro [D] | 19,60 Euro [A]
ISBN-13: 978-3-100-02494-7

Genre: Belletristik


Klappentext

Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat, ist Jule mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter aufgewachsen. Als Erwachsene hat sie sich einen Alltag geschaffen, in dem sie alles nur noch irgendwie erträgt: ihren Job als Sängerin, die unzähligen Anrufe ihrer Mutter, den ganzen Hass in ihr, der sie fast verschwinden lässt. Als auch ihre Beziehung zu bröckeln beginnt, flieht sie zu ihrem Bruder nach England, auf der Suche nach Ruhe und Anonymität. Doch dort trifft sie auf ihren Vater, der im Sterben liegt. Zaghaft beginnt Jule einen letzten Versuch, sich dem Mann anzunähern, von dem sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen gefühlt hat.

Eine tragikomische Road-Novel über das komplizierte Verhältnis zu den eigenen Eltern und den Wunsch, Urlaub von sich selber machen zu können.


Die Autorin

Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen ›Sarah Kuttner – Die Show‹ (VIVA) und ›Kuttner.‹ (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Bei zdf.neo hat sie das Großstadtmagazin ›Bambule‹ moderiert, zurzeit läuft dort ihr erfolgreiches Talkshowformat ›Kuttner plus Zwei‹. Ihre Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. Ihr erster Roman ›Mängelexemplar‹ erschien 2009 und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. 2011 erschien ihr zweiter Roman ›Wachstumsschmerz‹‹. Sarah Kuttner lebt in Berlin.


Rezension

Jule rettet sich von Tag zu Tag. Ihr Job als Sängerin füllt sie nicht aus, sondern zahlt nur die Rechnungen. Gleichzeitig empfindet sie nichts als Verachtung für sich, ihren Kollegen und die Welt. Zusätzlich belastet wird sie durch regelmäßige Anrufe ihrer Mutter, die beständig nach Aufmerksamkeit verlangt. Diese Anrufe bringen sie regelmäßig an den Rand eines Zusammenbruchs. Der einzige Halt ist ihr Freund Tim. Am liebsten würde sie sich mit ihm einigeln und Welt vergessen. Leider stößt auch Tims Verständnis irgendwann an seine Grenzen. Kurzerhand flieht Jule zu ihrem Bruder Jakob – ohne zu ahnen, dass dort nicht nur die ersehnte Ruhe auf sie wartet. Während sie sich glücklich in der Anonymität Londons verliert und zaghaft Kontakt zu Tim aufnimmt, um die Wogen zu glätten, erfährt sie nicht nur, dass ihr Vater ebenfalls in England ist, sondern die Diagnose Krebs sein Leben bedroht. Nun muss sich Jule mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Einer Vergangenheit, die durch die Flucht des Vaters und die Depressionen der Mutter geprägt wurde. Trotz ihrer Wut wagt Jule einen vorsichtigen Annäherungsversuch.

Sarah Kuttner ist mittlerweile in der Literaturszene ein Begriff. Zwei erfolgreiche Romane hat sie bereits geschrieben. Thema sind immer junge Frauen, die scheinbar mitten im Leben stehen, aber ordentlich Probleme im Gepäck haben. Bereits der Anfang von 180° Meer zeigt, dass die Protagonistin ebenfalls keine 08/15 Figur ist.

»Ich bin kein schöner Mensch.
Meine Aura ist irgendwie zahnfarben. Nicht offwhite, nicht creme. Nicht einmal neutral beige. Das diffus Unangenehme, das zahnfarben heißt, nehme ich ganz für mich in Anspruch.« (Zitat S. 11)

Jeden Tag kämpft Jule mit einem brodelnden Hass – auf sich, auf die Welt. Dieser Hass höhlt sie aus und lässt kaum Raum für anderes. Permanent hadert sie mit ihrer Vergangenheit und kann weder ihrem Vater noch ihrer Mutter verzeihen. Ihr Vater hat die Familie verlassen, als sie ein Kind war, und sie mit einer depressiven, schwangeren Mutter alleingelassen. Während die Mutter sich von Tag zu Tag rettete, ab und an Selbstmordversuche unternahm, musste Jule Mutter und Vater für ihren kleinen Bruder werden. Als Kind träumte sie nicht von Ponys oder Piraten, sondern stellte sich vor, die Mutter würde sterben, damit sie mit ihrem Bruder in Frieden bei der Großmutter leben kann. Diese lebte damals am Meer und das Meer ist auch im Erwachsenenalter ein Fixpunkt in Jules Leben. Als Tim Abstand sucht und die Zeit in der WG ihres Bruders zu einem Ende kommen muss, sucht Jule daher Zuflucht an der Küste Englands, wo das Meer sie 180° umschließt und sie in seiner Weite verschwinden kann.

»Ich fühle mich diffus traurig und überfordert. Als würde ich von imaginären Massen bedrängt, und gleichzeitig fühle ich mich merkwürdig zurückgelassen. Ich habe außerdem ein permanentes Bedürfnis nach Meer.« (Zitat, S. 145)

Auch die anderen Figuren sind wunderbar lebendig und dreidimensional. Bruder Jakob ist ein Fels, der seine Schwester ohne zu Fragen aufnimmt und versucht, ihr eine Stütze zu sein, obwohl er selbst auch unter der Situation leidet. Die Mitbewohner in seiner WG sind zugleich schrill, wie aus dem Leben gegriffen. Besonders spannend ist der ausgeliehene Hund, der ebenso kaputt ist, wie Jule.

Trotz der anderen Figuren liegt der Schwerpunkt aber eindeutig auf Jule, und hier zeigt Kuttner einmal mehr, dass sie zu Recht auf den Bestsellerlisten stand. Bereits in ihren ersten beiden Romanen zeigte Kuttner ein unheimliches Gespür für Emotionen und Sprache. Treffend formuliert führt sie den Leser in der Ich-Perspektive durch die Höhen und Tiefen ihrer Protagonistin. Unterhaltsam, aber nicht oberflächlich schafft sie bedrückende Bilder und zustände, dass man als Leser mit Jule leidet und sowohl die Mutter als auch den Vater einfach nur schütteln möchte. Der Schreibstil besticht dabei immer wieder durch kreative Kunstfertigkeit, die trotz des schweren Themas eine gewisse Leichtigkeit beim Lesen aufkommen lassen. Dabei bleibt sie immer auf dem Punkt und nah bei ihrer Protagonistin und im Leben, ohne sich in Nichtigkeiten zu verlieren. Wie im wahren Leben ist am Ende nicht alles eitel Sonnenschein, aber ihr Jule ist gewachsen und kann sich ein wenig besser leiden.

»Ich habe schon wieder kein Ziel, aber ein bisschen Bock auf einen Weg.« (Zitat, S.61)


Fazit

Sarah Kuttner greift in ihrem Romanen gerne moderne Probleme auf, ist zugleich lustig und traurig mit einer emotionalen Einsicht, die an einen Psychologen erinnert. In ihrem aktuellen Roman 180° Meer schickt sie ihre Protagonistin auf einen Road-Trip in die Vergangenheit. Wie geht man damit um, wenn der eigene Vater Krebs hat? Der Vater, der einen als Kind verlassen hat und der einem immer wieder das Gefühl gab, eine einzige Enttäuschung zu sein? Diese komplexe Thematik wird von Kuttner ernst und unterhaltsam zugleich erzählt. Dabei punktet Kuttner nicht nur mit Inhalt, sondern auch mit virtuoser Sprache.


Pro/Contra

+ Kuttners einmaliger Sprachstil
+ einfühlsame, berührende Geschichte
+ herrlich verkorkste Protagonistin
+schräge Nebenfiguren

o offenes Ende

Bewertung: sterne4.5

Charaktere: 5/5
Handlung: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5

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