Wem erzähle ich das? (Ali Smith)

smith wemerzhle

Luchterhand, 6.3.2017
Originaltitel: Artful (2012)
Übersetzung von Silvia Morawetz
Gebunden, 224 Seiten zzgl. 16 Farbseiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,90
ISBN 978-3-630-87436-4

Genre: Belletristik, Mystery, Sachbuch


Rezension

Ali Smiths Wem erzähle ich das? basiert auf vier Vorlesungen, die die Schriftstellerin im Januar und Februar 2012 am St. Anne’s College in Oxford gehalten hat. Nach einem Jahr und einem Tag der Trauer über den Tod ihrer Geliebten, steht die Ich-Erzählerin im Zimmer der Toten vor dem Bücherregal und beschreibt Dickens‘ Oliver Twist, die dreißig Jahre alte Penguin-Ausgabe aus ihrer Studienzeit, die vielleicht noch eine Lektüre überleben dürfte, bevor sie auseinanderfällt. Dann verschiebt sie einen Sessel, damit sie beim Lesen einen günstigeren Lichteinfall nutzen kann. Sie ist allein in dem Haus, das sie mit ihrer Geliebten geteilt hat, und erinnert sich, sieht den Geist der Toten und spricht mit ihm. Sie sieht die letzten Aufzeichnungen durch, an denen die Geliebte für eine Vorlesung gearbeitet hatte. Der Geist stibitzt Haushaltsgegenstände und möchte Fernsehprogramme schauen. Die Ich-Erzählerin besucht das Seebad Brighton, einen von beiden bevorzugten Urlaubsort.

Smith erklärt nichts wirklich, es liest sich bisweilen nur so. Tatsächlich lässt sie uns das Erzählte primär sinnlich erfahren. Überrascht nehmen wir irgendwann zur Kenntnis, das Literatur nicht die große Leidenschaft der Ich-Erzählerin ist, sondern Bäume. Bäume liefern aber den Grundstoff für Bücher. Wir erinnern uns an die anfänglichen Gedanken über Oliver Twist. Aber Bäume sind auch eine Leidenschaft von Ali Smith, man lese nur mehrere ihrer Bücher. Die Ich-Erzählerin erzeugt Verbindungen nicht nur zwischen Tod und Leben in Form ihrer Geliebten, sondern auch in einer kleinen Geschichte über den Maler Cezanne und ein Gemälde mit Äpfeln.

Struktur geben dem Buch die Titel der von Smith gehaltenen vier Vorlesungen: „Zeit“, „Form“, „Ränder“, „Angebot und Widerspiegelung“. Jede dieser Vorlesungen ist ähnlich organisiert. Smith beginnt jeweils mit einem Gedicht, fährt fort mit Gedanken an die Tote und die Trauer, spricht mit dem Geist, bezieht sich auf die Aufzeichnungen der Geliebten und diskutiert diese. Die Struktur des Buchs sagt sehr wenig aus über den erzählerischen Ton, die Stimmungen, die Smith einfängt. Der Ton ist bei aller Trauer von einer Leichtigkeit, die kaum Hinweise darauf gibt, wie durchdacht der Text als Essay, als Fiktion und in der Verbindung ist. Smith macht dabei keine Zugeständnisse an die Leser. Das Buch erfordert eine aufmerksame Lektüre. Besonders die literarischen Verweise und deren Verknüpfung über unmittelbaren Bezug zum Fiktionalen sind vielfältig und komplex.

Wem erzähle ich das? wendet sich an Leser, die an Literatur interessiert sind, aber sich nicht durch die Abwesenheit einer traditionellen Erzählung gestört fühlen. Leser, die eine Buchlektüre (auch) begreifen können als eine langsame Reise, auf der die kleinen Dinge am Wegesrand mindestens so reizvoll sind wie die sattsam bekannten touristischen Attraktionen. Der anspielungsreiche Text weist eine hohe gedankliche Dichte auf. Die Ich-Erzählerin findet Worte und Phrasen, dekonstruiert diese, hinterfragt ihren Gehalt und Sinn, vergleicht fiktionale mit realen Formen (Bäume, Vögel), Roman und Erzählung. Die Lektüre von Oliver Twist durchzieht den Text, angereichert durch Gedanken über José Saramago, Alfred Hitchcock, Javier Marías, Juan Pablo Villalobos, William Carlos Williams, Katherine Mansfield, Shakespeare, W.G. Sebald, um nur ein paar Namen zu nennen.

Wem erzähle ich das? erzählt von Kunst und Literatur, von einer Frau, die verzaubert ist von ihrer verstorbenen Geliebten, der Verfasserin einer Vorlesungsreihe über Kunst und Literatur. Eine Reihe von Essays, die verortet sind in und verwoben sind mit einer fiktionalen Geschichte über Liebe und Tod, Verlust und Selbstheilung. Smith versucht nicht, die Fiktion dem Essay zu öffnen, oder andersherum, sie scheint als Programm so etwas wie eine „genetische Rekombination“ zu beabsichtigen, hier weitergetrieben als in früheren Texten. Es liest sich hervorragend, eine Bereicherung des literarischen Feldes. Die Lektüre kann den Text in seiner Gesamtheit erfassen – gleichwohl nur durch wiederholtes Lesen. Möglich ist auch die Wahl einer Ausgangsposition, beginnend mit der Rekonstruktion der fiktionalen Geschichte oder der essayistischen Argumentation, um sich in der Folge den jeweils anderen Part zu erschließen und am Ende beides miteinander zu vereinen.

Die ersten Seiten lesen sich wie ein autobiographischer Text, was von Smith wohl auch beabsichtigt war, um ihre Zuhörerschaft während der Vorlesung auf ein Gleis zu bringen, das im Weiteren brüchig wird, wenn fiktionale Momente aufscheinen, das Auditorium langsam zu erfassen beginnt, dass das erzählende Ich eine andere Person ist. Am Ende glaubt man vielleicht, dass allem Erzählen eine fiktionale Qualität innewohnt.

Im Teil über die „Ränder“ klärt Smith auch die Frage, ob man tatsächlich schon psychologisch oder medikamentös behandelt werden muss, wenn man über den Verlust eines geliebten Menschen länger als zwei Wochen trauert. Die zwei Wochen, die das DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) für gesunde Trauer heute vorsieht. Immerhin ist die Grenze zwischen Trauer und Depression nicht schon zwingend nach diesen zwei Wochen überschritten. Die Ich-Erzählerin in Smiths Buch überschreitet mit einem Jahr und einem Tag den von 1980 bis 2000 zugestandenen Trauerzeitraum des DSM-3 um einen Tag. Dann lässt sie sich von ihrem Arzt sechsmal psychologische Beratung als Trauerhilfe verschreiben.

Das Buch enthält eine Übersicht mit für die Vorlesungen benutzten Quellen und Bildnachweisen, darüber hinaus einen speziell für die deutsche Ausgabe erstellten Anhang.


Fazit

Ali Smiths Wem erzähle ich das? ist eine vielschichtige Verbindung aus Fiktion und Essay, Geistergeschichte und Liebesgeschichte, auch eine Meditation über die Dinge des Lebens, die, obwohl es sich beim Ausgangstext um eine Vorlesungsreihe handelt, tief berührt.


Pro und Kontra

+ in der Form ein cleverer und einfallsreicher Hybrid
+ im Inhalt ein intelligenter Dialog über Form und Inhalt, Kunst und Leben
+ Regelbruch verändert die Form und lässt die Frage nach dem Genre obsolet werden

Wertung: sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5