Blut und Feuer (Artjom Wesjoly)

wesjoly blutundfeuer

Aufbau Verlag, Berlin, 14.06.2017
Originaltitel: Rossija, krov’ju umytaja (Россия, кровью умытая, 1932)
Übersetzung von Thomas Reschke
Nachwort von Jekatherina Lebedewa
Gebunden, 640 Seiten
€ 28,00 [D] | € 28,80 [A] | CHF 39,90
ISBN 978-3-351-03674-4

Genre: Belletristik


Rezension

Der russische Schriftsteller Nikolai Iwanowitsch Kotschkurow, der sich als Künstler Artjom Wesjoly (Artem Veselyj) nannte, wurde am 29.9.1899 in Samara an der Wolga geboren. Er war mit 14 Jahren Fabrikarbeiter, Matrose der Schwarzmeerflotte, wurde mit 18 Jahren Agitator für die Bolschewiki an der Westfront, war Rotarmist während des Russischen Bürgerkrieges, arbeitete nach seiner Verwundung und Demobilisierung als Journalist. 1920 begann er die Arbeit an dem Roman, der zwischen 1932 und 1936 in verschiedenen Fassungen unter dem Titel Rossija, krov’ju umytaja (Russland in Blut gewaschen) als Fragment veröffentlicht wurde. Am 28.10.1937 wurde Wesjoly als Opfer des stalinistischen Terrors unter dem konstruierten Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation verhaftet und am 08.04.1938 im Alter von 39 Jahren hingerichtet.

Im Jahr 1956 wurde Wesjoly rehabilitiert, zwei Jahre später wurden Teile seines Werkes veröffentlicht. Russland in Blut gewaschen erschien in den Folgejahren in verschiedenen Ländern des Ostblocks, darunter 1987 bei Gustav Kiepenheuer in Leipzig/Weimar und in Lizenz und mit einem Nachwort von Karlheinz Kasper bei Pahl-Rugenstein in Köln. Im hundertsten Jubiläumsjahr der beiden russischen Revolutionen hat nun der Aufbau-Verlag die vollständige Fassung veröffentlicht, ermöglicht durch Wesjolys Töchter Gaira und Sajara.  Artjom Wesjoly erzählt in Blut und Feuer über die Russische Revolution und den auf sie folgenden Bürgerkrieg.

Der Roman besteht aus drei Teilen. Der erste Teil (Anfang bis Seite 326) thematisiert in sieben Kapiteln die Zeit von Ende 1916 bis zur Russischen Revolution, der dritte Teil (Seite 439 bis Ende) in drei Kapiteln den Raum, die Stadt Kljukwin und auf dem Land das Dorf Chomutowo in ihrer Unterschiedlichkeit während gleicher Ereignisse. In der Stadt führen Partisanen den Übergang in das Sowjetreich durch, auf dem Land der Politkommissar Alexej Saweljewitsch Wanjakin die Enteignung der reichen Bauern, die in der Folge rebellieren. Der Mittelteil (Seite 327 bis 438) besteht aus zwölf Etüden, die Szenen des Bürgerkriegs fokussieren. Dabei steht wechselndes Personal im Vordergrund, Täter wie Opfer.

Während die Revolution durchgehend und allgegenwärtig ist, verfügt der Roman nicht über eine Identifikationsfigur, der die Leser durch die Ereignisse folgen. Figuren treten auf, verschwinden ohne Ankündigung oder Erklärung, tauchen in späteren Kapiteln wieder auf. Dazu gehören der Soldat und Bauer Maxim Kushel, Waska Bucharzew und Iwan Pawlowitsch Kapustin. Die Erzählung verläuft nicht linear. So wird der junge Kommandeur Iwan Tschernojarow am Ende des ersten Teils als Bandit und Feind des russischen Volkes hingerichtet, zählt aber in der ersten Etüde wieder zu den handelnden Figuren. Wesjoly beschreibt einen unglaublichen Strudel aus Gewalt und Gegengewalt, ein Land, das im Prozess der Neufindung vollends im Chaos versinkt.

Das Leben in unruhigen Zeiten erzeugt gehetzte Menschen, denen wenig Zeit zum Nachdenken oder reflektieren bleibt. Für die damalige Zeit kommt die Beschleunigung durch die Bahnfahrt, während der ständig irgendetwas im Zug geschieht. Hinzu kommen die Aufenthalte auf Bahnhöfen, wo nur der Zug kurz zur Ruhe kommt, nicht aber die Menschen, auf die der brutale Wandel in verschiedenen Episoden niederprasselt. Innerhalb von wenigen Minuten entscheidet sich, ob man Anhänger der neuen Zeit, des Sowjetsystems im Gärprozess wird, einem Prozess, über dessen Ausgang und exakte Richtung sich noch so gut wie nichts sagen lässt, außer dass es seinen Befürwortern bessergehen soll und dem Land eine große blutige Reinigung bevorsteht. Die Unruhe und der Terror werden zum vertrauten Alltag und vielleicht auch zur Leitidee der Sowjetrepublik. Aber darüber wissen die Menschen noch nichts, als die Entscheidung dafür oder dagegen ansteht.

Manche möchten nach Hause, dort ihre schicken Uniformen und Orden präsentieren. Aber die Vertreter der neuen Ordnung, die gar nicht erkennbar ist, bestehen darauf, dass Orden und Rangabzeichen nicht zu ihr passen. Also weg damit. Wie mit allem, was nicht passt oder als nicht passend behauptet wird, meist ad hoc und willkürlich. Veränderung ist Transformation, die Nährflüssigkeit ist Blut. Die Versprechen sind genauso leer, wie sie später nicht eingelöst werden. Das Ziel ist irgendwo, verkommt zur politischen Proklamation. Es beginnt ein großes Umherirren im eigenen Leben, dessen Rahmenbedingungen seit je, neuerdings aber auch dessen Verlauf, von anderen bestimmt werden.

Den formalen Kern seiner Prosa macht die polyphone Sprache aus, weshalb Blut und Feuer angefüllt ist mit Hochsprache, Umgangssprache, Jargon, Schimpfwörtern, Auszügen aus Plakaten und Briefen, Reden und Pamphleten. Es gibt Sätze in diesem Buch, die einfach abbrechen oder wie unter Schlägen vor sich hinstolpern, andere treffen auf die Leser, als kämen sie direkt aus dem Lauf eines Gewehrs. Aus dem Glauben an eine bessere und damit gerechtere Welt entwickelt sich der nackte Terror, der nichts als Grausamkeit und Destruktion kennt. Man wird in das Geschehen ohne Exposition hineingezogen und von Szene zu Szene getrieben, ohne eine Hauptfigur als Helden begleiten zu können. Man irrt auf gewisse Weise durch das Geschehen. Wesjoly zeigt auf unbarmherzige Weise, dass eine Revolution nicht ihre Kinder frisst: sie frisst einfach alles, was ihr in den Weg kommt. Der Originaltitel Russland in Blut gewaschen verweist auf einen Erneuerungsprozess, beschrieben als allein durch Gewalt und Blutvergießen betriebenen Reinigungsvorgang. Wesjoly war bereits Schriftsteller und Redakteur der Zeitung Roter Kosak, als er im Jahr 1919 in die Rote Garde eintrat.

Die Polyphonie des Romans kann schnell erschöpfen, will man alles genau verstehen – zumindest während der ersten Lektüre. Man lässt sich besser lesend einfach mittragen und durch das Geschehen treiben. Die große Unordnung, die einen umgibt, spiegelt der Roman auf herausfordernde Weise. Den Bolschewismus beschreibt der Autor aus den Bedingungen seiner Entstehung heraus, nicht als eine dem Land oder den Menschen übergestülpte Ideologie. Das Ganze bekommt eine religiös anmutende Facette durch den Aspekt der großen Reinigung. Ex post muss ein derartiger Sumpf aus Blut und Gewalt natürlich mit Sinn behaftet werden, der in der Behauptung eines großen Ziels für die Gesellschaft der Zukunft besteht.


Fazit

Den ewigen Gesetzmäßigkeiten dieser Welt, wie sie unterschiedlich von Ideologien behauptet werden, setzt Wesjoly in Blut und Feuer einen irrsinnigen Fluss vernunftähnlicher Handlungen entgegen, die weitgehend vorbewusst wirken. Der Roman nähert sich der Möglichkeit, Komplexität wiederzugeben, ohne zu simplifizieren, in beeindruckender Weise an. Nicht einmal ein Übergang im Systemwechsel ist erkennbar, es ist alles in diffuser Bewegung und wo man sich gerade befindet, hängt, in Verwendung eines Romanmotivs, davon ab, an welchem Bahnhof der Zug gerade hält.


Pro und Kontra

+ vielstimmiges Werk in variantenreicher Übersetzung
+ spiegelt die Komplexität der erzählten Welt
+ beeindruckende Irrfahrt durch das Chaos einer Revolution
+ hilfreiche Fußnoten

Wertung: sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5