Sleeping Beauties (Stephen King, Owen King)

sleepingbeauties

Heyne Verlag, 2017
Originaltitel: Sleeping Beauties (2017)
Übersetzt von Bernhard Kleinschmidt
Gebunden, 960 Seiten
€ 28,00 [D] | € 28,80 [A] | CHF 39,90
ISBN 978-3-453-27144-9

Genre: Horror, Fantasy


Rezension

Lila Norcross, Sheriff in der Gemeinde Dooling in den Appalachen, nimmt eine Herumtreiberin, die sich Evie Black nennt, wegen zweifachen Mordes fest. Da Evie sich selbst verletzt, überstellt Lila sie zur Untersuchung in das Frauengefängnis, in dem ihr Mann Clinton als Psychiater und Therapeut arbeitet.

Ein Aurora genanntes Virus verursacht eine Pandämie und umgibt alle Frauen und Mädchen, die einschlafen, mit einem Kokon aus einer klebrigen organischen Substanz. Die Frauen in ihrem Kokon stellen solange keine Gefahr dar, wie man sie in Ruhe lässt. Befreit man sie hingegen aus diesem seltsamen Gewebe oder weckt sie auf, werden sie zu mordenden Furien. Gewebeproben irritieren vor allem, weil in ihnen keine DNS nachweisbar ist. Evie hält das Grauen für eine kosmische Rechnung, die zu begleichen ist. Während es seinen Lauf nimmt, zitiert sie Shakespeare, sondert kryptische Gedanken ab und spielt auf dem Smart Phone. Evie wacht als einzige Frau aus dem Schlaf wieder auf und scheint gegen das Virus immun zu sein.

Clinton kämpft um seine Ehe und beobachtet besorgt Lila, die sich mit Unmengen Koffein und Kokain wachzuhalten versucht. Als es sie dann doch erwischt, wird ihre Position als Sheriff formell eingenommen von Terry Coombs, ihrem entscheidungsschwachem Deputy, faktisch jedoch von Frank Geary, einem amtlichen Tierfänger mit aufbrausendem Gemüt, der Terry ohne Schwierigkeiten beeinflussen kann. Frank wird gegenüber Frau und Tochter gelegentlich laut und körperlich gewalttätig gegen Menschen, die Tiere quälen. Er will seine Tochter retten und ist überzeugt davon, dass Evie der Schlüssel zu allem ist.

Die Haupthandlung ereignet sich in Dooling, während das Ereignis globale Ausmaße hat. Dooling ist eine typische Kleinstadt, wie sie aus dem Werk Stephen Kings bekannt sind. Die zeitweilige fokale Verengung auf das Frauengefängnis ist ein gelungener Einfall, weil die Autoren so sehr viel stärker das herausschälen können, was im sozialen Alltag nicht nur Doolings der Normalfall ist.

Der Roman vereint eine große Anzahl Charaktere und ist in epischer Breite erzählt, wodurch sich Raum für eine Vielzahl Nebenhandlungen ergibt. Die Apokalypse ereignet sich nicht als Ergebnis eines nachvollziehbaren Pfades. Auch gibt es keinen großen Knall. Vielmehr ist sie mit einer gewissen Beiläufigkeit irgendwann einfach da und schickt den weiblichen Teil der Bevölkerung schlafen. Der Kokon ist ein Verweis auf Horrorfilme wie Don Siegels Die Dämonischen und dessen Romanvorlage Die Körperfresser kommen von Jack Finney.

Die Männer lässt die Entwicklung erst ratlos zurück, dann verfallen einige von ihnen aus der Überforderung und der Unfähigkeit im Umgang mit der neuen Situation in archaische Verhaltensmuster. Eine Zeitlang spielt folgerichtig der Kampf ums Überleben eine Rolle. Nicht, weil es zwingend wäre, sondern weil das Denken supendiert wird zugunsten dieses primitiven Musters - aus einer impliziten Entscheidung heraus. Das aus dem Menschen, oder enger gefasst: dem Mann erwachsende Böse droht die Oberhand zu gewinnen. Staatliche Institutionen brechen zusammen, vielleicht eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der persönliche Einsatz für das Gute überhaupt erst möglich, weil sinnvoll, ist.

Während die Mehrheit der Einwohner Doolings sich an die neue Lage eher unauffällig anpasst, bilden sich zwei Fraktionen heraus, die den anstehenden größeren Konflikt bestimmen. Dieser soll von einer Fraktion einer gewalttätigen Lösung zugeführt werden. Diese Fraktion, geführt von Frank, steht bald unter Waffen und will Evie, gerne auch gewaltsam, aus dem Frauengefängnis holen. Die Gruppe überwindet den kulturellen Status quo und begibt sich in den außer-zivilisatorischen Raum, einhergehend mit Begeisterung ob anstehender Gewaltakte und pyrotechnischer Exzesse sowie der Machtausübung gegenüber anderen Menschen.

Eine, durchaus interessante, Stärke des Romans besteht darin, dass er für seine negativen Figuren Verständnis erzeugt, Empathie in einer verrückt spielenden Sozialgemeinschaft. Diese Gemeinschaft besteht im Kern aus siebzig handelnden Figuren und einem Rotfuchs, der eine schöne Rolle spielt, nicht nur, weil er darüber sinniert, welch ein Leckerbissen ihm mit einem Baby entgehen könnte. Das Personal ist mit Namen und persönlichen Angaben zu Beginn des Romans aufgeführt – eine hilfreiche Übersicht.

Sleeping Beauties hat seine besten Momente auf den ersten rund 150 Seiten, beim Ausbruch der Krise, und in der Gestaltung der Charaktere und des Kleinstadtlebens. Mit Dooling sieht es schon während der Exposition nicht rosig aus. Die Gemeinde, ein früheres Kohlenrevier, ist durch die Wirtschaftskrise arg gebeutelt, die Kriminalität auf einem hohen Niveau, ebenso Sexismus und Gewalt in der Familie, der Drogenkonsum ist auf realistische Weise hoch. Der Roman wartet mit einer Schattenwelt auf, in der es ein Dooling gibt, das für die Frauen lebenswerter ist als die von Männern bestimmte und betriebene Realität.

Eine Frage der Qualität “Was wäre, wenn…?” würde vermutlich überwiegend beantwortet mit: Eine Gesellschaft, die nur aus Vertretern der XX-Fraktion besteht, ist wenig lebenswert. Mit der Antwort auf die Frage, wie es im gegenteiligen Fall aussähe, verhält es sich anders. Diese Frage wird von den Frauen in der Schattenwelt diskutiert.


Fazit

Mit ihrem gemeinsam geschriebenen Roman Sleeping Beauties schufen Stephen und Owen King ein Gesellschaftsbild des peripheren Bereichs in den USA, der einst durch eine monoindustrielle Kultur eine Phase des Wohlstands erlebte, die nun vorbei ist. Einziger nennenswerter Arbeitgeber ist das Frauengefängnis, erbaut auf einem ausgekohlten Bergwerk. Der Roman zeigt sehr schön, wie aus Problem-Männern unter Stress Schad-Männer werden können, deren von ihnen selbst gefeierte Männlichkeit toxische Wirkung entfaltet. Knastbeziehungen, Polizeibrutalität und Fake News nehmen viel Raum ein, außerdem ein Ehepaar an einer Klippe, die durch Missverständnisse gepaart mit Kommunikationsdefiziten zunehmend gefährlich gestaltet wird, und eine kaputte Ehe, in der der Mann versucht, die Keimzelle der Gesellschaft zu retten und als Anführer der Gewalt-Fraktion endet.

Die Fantasy-Horror-Geschichte enthält einen stark leuchtenden Beitrag zum Geschlechterdiskurs, mit Brennpunkt auf, wie Evie sagt, der ältesten Geschichte im Universum. Nicht umsonst verwenden die Autoren den Namen Evie, eine Schlange, der Evie nach dem Sündenfall nicht mehr traut, und einen übernatürlichen Baum, der den Zugang zu einem neuen Paradies enthält.


Pro und Kontra

+ hilfreiche Übersicht über die Kleinstadt-Akteure (Stadt Dooling, Frauenhaftanstalt Dooling, Weitere)
+ enthält viele schöne Verweise auf Grimms Märchen mit unmittelbarem inhaltlichen Bezug
+ enthält einen unglaublich miesen Charakter, selbst für Kings Oeuvre
+ aktuelle politische Bezüge, die Welt scheint häppchenweise in Dooling auf

- manche Figuren und Konstellationen sind etwas seifig geraten

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Stephen King, toxische Männlichkeit, Fake News, USA