Die Tochter des Doktor Moreau (Silvia Moreno-Garcia)

Moreno Garcia Die Tochter des Doktor Moreau

Limes, 24.05.2023
Originaltitel: The Daughter of Doctor Moreau (2022)
Übersetzung von Frauke Meier
Gebunden, 448 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-8090-2762-1

Genre: Horror, Romanze


Rezension

Silvia Moreno-Garcia gehört seit ihrem sechsten Roman, Mexican Gothic, der 2020 in der Bestsellerliste der New York Times war, zu den Hochgeschätzten in der Branche. Der Roman wurde so populär, dass manche ihrer früheren Bücher in Großbritannien in den letzten zwei Jahren als Hardcover neu aufgelegt wurden. Vielleicht vergleichbar mit Quentin Tarantino, hat Moreno-Garcia so etwas wie ein Projekt: Bücher oder Genres, die in irgendeiner Weise für sie von Bedeutung sind, überführt sie in ein eigenes Werk (Moreno-Garcia äußert sich hierzu in einem Podcast). Deshalb hat sie in Romanform Urban Fantasy geschrieben (Signal to Noise, 2015), eine Vampirgeschichte (Certain Dark Things, 2016), eine historische Romanze (The Beautiful Ones, 2017), eine Fantasy Quest (Gods of Jade and Shadow, 2019), Hai-Horror der 1970er (Untamed Shore, 2020), ihr bekanntestes Buch Mexican Gothic (2020; Der mexikanische Fluch, 2022), eine Noir-Story (Velvet Was the Night, 2021).

Die Bücher sind insoweit Metatext, als die Autorin darin (zumindest in den wenigen Titeln, die ich gelesen habe) Reflektionen über und Kommentare zu anderen Büchern und Filmen verarbeitet. Am 18. Juli 2023 wurde Moreno-Garcias neuer Roman veröffentlicht, Silver Nitrate, in dem sie Nazis, Okkultismus, das klassische Hollywoodkino und den mexikanischen Horrorfilm aufgreift und verarbeitet. Kürzlich ist ihre Version der Geschichte Die Insel des Doktor Moreau von H. G. Wells als Die Tochter des Doktor Moreau in ähnlicher Aufmachung wie Der mexikanische Fluch bei Limes erschienen. Und auch hier greift sie die Vorlage auf, um die Prämisse und wichtige Motive in eine eigene Story einzuweben.

Handlungsort ist Yaxactun, ein Anwesen auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán, die zur Zeit der Handlung, das späte 19. Jahrhundert, für eine Insel gehalten wurde. Der Wissenschaftler Doktor Moreau führt im Auftrag seines Geldgebers Hernando Lizalde Experimente an Tieren durch, deren Ergebnis Hybriden aus Mensch und Tier sein sollen, die Lizalde versklaven will, um mit ihnen die indigenen Arbeitskräfte zu ersetzen. Carlota Moreau ist die Tochter des Wissenschaftlers. Montgomery Laughton, ein depressiver Alkoholiker, arbeitet als Majordomo seine Schulden auf dem Anwesen ab. Zu Beginn der Handlung tritt er seine Stelle bei Moreau an. Im Lauf der Zeit entwickelt er Zuneigung zu den Bewohnern, insbesondere zu Carlota und den Hybriden Lupe und Cachito.

Als Hernando Lizalde die Finanzierung der Experimente Moreaus einstellen will, arbeitet der Doktor daran, Carlota mit Hernandos Sohn Eduardo zu verheiraten, um seine Forschungen fortsetzen zu können. Das Leben auf dem Anwesen verläuft in ruhigen Bahnen, obwohl es in Yucatán einen Unabhängigkeitskrieg gibt, den die Maya-Bevölkerung gegen die herrschende weiße Oberschicht führt, zu der Unternehmer Lizalde gehört. Als Eduardo Lizalde mit einigen Männern Aufständische jagt und auf dem Anwesen Halt macht, ist es mit der Ruhe bald vorbei. Schnell ist er sehr viel mehr an Carlota interessiert als an der Fortsetzung der Verfolgungsjagd.

Das Buch hat drei Teile, die nach Zeitabschnitten unterteilt sind (1871 und 1877). Die 31 Kapitel werden in der dritten Person Singular erzählt, wobei die Perspektive regelmäßig wechselt zwischen Montgomery und Carlota. Die Erzählung endet mit einem Epilog Carlotas. Silvia Moreno-Garcia stellt in ihrem Genre-Crossover Bezüge zu Filmen und Literatur her und greift Themen auf, die auch in ihren anderen Texten relevant sind: die Rolle der Frau in einem Patriarchat, Rassismus, Unterdrückung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung in der Kolonialherrschaft, Fragen der Identität.

Der Roman enthält einiges an Redundanz, überzieht mitunter, wenn es um die Folgen der romantischen Konditionierung Carlotas durch uralte Romane geht, auch wenn die dahinter stehende Absicht klar ist, weil sie offen thematisiert wird. Er enthält aber auch einige sehr gut geschriebene Momente. Dazu gehört die Verwischung der Trennlinien zwischen Menschen und Hybriden, auch die zurückhaltend beschriebene Moreausche Vater-Tochter-Beziehung, die einen der Bausteine liefert für den Genderdiskurs. Insgesamt gelingt es Moreno-Garcia, einen Science-Fiction-Klassiker in ein Fahrwasser mit aktueller Wetterlage zu überführen.


Fazit

Ein bekanntes Diktum lautet, jede Generation würde sich einen Textbestand – zumindest in Teilen – neu erschließen und ihn aus ihrer Zeit und ihren Diskursen heraus lesen. Silvia Moreno-Garcia macht mit Die Tochter des Doktor Moreau genau dies, behandelt Themen wie Kolonialismus, Rassismus und Gender. Aber im Kern erzählt der Roman mindestens eine Liebesgeschichte, die einer jungen Frau zu Angehörigen einer anderen Spezies. Die engste Bindung besteht zwischen Montgomery, Carlota, Lupe und Cachito.


Pro und Kontra

+ Demontage patriarchaler Strukturen vor dem Hintergrund des Kastenkrieges in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
+ romantische Abenteuergeschichte im Kontext aktueller Diskurse

- insgesamt einiges an Redundanz und in der zweiten Hälfte recht schwülstig

Wertung:sterne3.5

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu Der mexikanische Fluch

Rezension zu Certain Dark Things

Tags: Rassismus, Silvia Moreno-Garcia, Post-Kolonialismus