The Quiet is Loud (Samantha Garner)

the quiet is loud

Piper (August 2023)
Hardcover mit Schutzumschlag
übersetzt von Diana Bürgel
ca. 400 Seiten, 22,00 EUR
ISBN 978-3-492-70659-9

Genre: Contemporary Fantasy / Urban Fantasy / Mystery


Klappentext

Freya hat die Gabe, in ihren Träumen die Zukunft zu sehen. Sie ist eine Veker, eine Person mit erweiterten mentalen Fähigkeiten. Bis ins Erwachsenenalter hat Freya ihr wahres Ich vor allen verborgen gehalten, aus Angst vor Ausgrenzung und Gewalt. Als Tarotkarten-Leserin in einem Online-Chatroom kann sie ihre Fähigkeiten nutzen, ohne ihre Identität preiszugeben. Doch plötzlich schlagen Freyas prophetische Träume eine gefährliche Richtung ein, und sie muss die fragile Sicherheit ihrer Anonymität aufgeben, um für sich selbst einzustehen – und um diejenigen zu schützen, die sie liebt.


Rezension

In ihrer Kindheit träumte Freya, dass sie mit Leichtigkeit über Zäune springen kann - am nächsten Tag ist ihr dies tatsächlich geglückt. Und sie träumte, dass ihre Mutter tot ist - kurz darauf ist ihre Mutter tatsächlich gestorben. Freya war verängstigt und glaubte, ihre Mutter sei wegen ihrem Traum gestorben. Ihr war klar, dass etwas mit ihr nicht stimmt, dass sie eine Veker ist, ein Mensch mit mentalen Fähigkeiten, vor denen sich andere Menschen fürchten. Ihr eigener Vater spricht verächtlich über Veker, bezeichnet sie als Gefahr, sagt, dass sie weggesperrt gehören. Also traut sich Freya nicht, über ihre prophetischen Träume zu sprechen. Einzig ihre Cousine und beste Freundin Mary weiß davon und diese bewahrt Freyas Geheimnis. Als junge Erwachsene versteckt sich Freya noch immer und nutzt ihre Fähigkeit im Verborgenen. Sie arbeitet als Online-Tarotkartenleserin, begleitet Chats und gibt dort private Lesungen, bei denen ihr ihre Träume manchmal nutzen. Eines Tages trifft sie im Chat einen Mann, der weiß, dass sie eine Veker ist - weil er selbst mentale Fähigkeiten hat und andere sogenannte paradextrische Menschen spüren kann. Er lädt sie zu einer Selbsthilfegruppe ein und Freya öffnet sich zum ersten Mal anderen Menschen, die wie sie sind und ihr helfen, ihre prophetischen Träume besser zu verstehen. Doch dann wird sie gezwungen, den Schutz ihrer mühsam gewahrten Anonymität aufzugeben ...

"The Quiet is Loud" von Samantha Garner ist vor allem "quiet" - ein sehr ruhiger Contemporary-Fantasy-Roman über Menschen mit mentalen Fähigkeiten, die ausgegrenzt und angefeindet werden. Es gab solche Menschen schon immer und während sie in manchen Kulturen durchaus akzeptiert waren, kippte die Stimmung in der westlichen Welt, als ein Kind, das in den Medien Alan Y genannt wird, Menschen in einen katatonischen Zustand versetzte. Alan Y wurde gefürchtet und in ein Forschungslabor gesperrt. In Folge bemühten sich andere paradextrische Menschen noch mehr darum, nicht aufzufallen und ihre Fähigkeiten zu verbergen. Entsprechend haben die meisten von ihnen niemanden, der ihnen hilft, ihre mentalen Fähigkeiten zu verstehen und zu kontrollieren. Viele halten sich selbst für Monster, so wie Freya, die lange glaubt, eine Mitschuld am Tod ihrer Mutter zu tragen. Danach ist sie in einem Klima der Angst aufgewachsen: Angst vor ihren Träumen. Angst, von ihrem Vater abgelehnt zu werden, sollte er erfahren, dass sie eine Veker ist. Angst davor, ausgegrenzt zu werden. Angst vor Gewalt, die sie nicht am eigenen Leib erlebt, jedoch mitbekommt. Hinzu kommt die Angst, erkannt zu werden, denn ihr Vater hat ein Buch geschrieben, in dem es eindeutig um seine Familie, vor allem um seine Schwester geht, mit der er seitdem zerstritten ist. Das Buch war ein großer Erfolg und wenn Menschen Freya erkennen, überschreiten sie die Grenzen der sensiblen jungen Frau, glauben sie zu kennen, obwohl sie nichts von ihr wissen und sie nur ihre Ruhe haben will.

Die paradextrischen Fähigkeiten sind das einzige Fantasy-/Mystery-Element und eine Metapher für all das, was zu Diskriminierung und Feindseligkeit führt. Im Roman gibt es kaum offene Gewalt gegen paradextrische Personen, was vor allem daran liegt, dass die meisten sich verstecken. Doch die Gesellschaft spricht abfällig über sie, wird doch mal jemand in der Öffentlichkeit erkannt, kommt es zu übertriebenen Panikreaktionen und Beschuldigungen. Ereignisse werden beim Weitererzählen verdreht und die Paradextrischen zu Monstern stilisiert. In manchen Ländern gibt es gruselige Gesetze, dass Paradextrische registriert werden müssen. Die Hysterie ist groß und die Forschung steckt in den Kinderschuhen, weil sie überwiegend im Verborgenen stattfindet. Zusätzlich erlebt Freya Alltagsrassismus in ihrer Familie, weil ihr Vater von den Philippinen stammt. Da Freyas Mutter Norwegerin war und sie eher ihr ähnlich sieht, erlebt sie selbst weniger Rassismus, dafür jedoch ihr Vater und ihre Tante, worüber die beiden kaum sprechen, und ihre Cousine Mary, die sich zu Recht wütend darüber äußert, dass sie mit Chinesen verglichen wird.

Getragen wird die Geschichte von den Figuren, allen voran natürlich Freya, die dem Titel entsprechend seine sehr ruhige, introvertierte Person ist. Man lernt sie als junge Erwachsene kennen, die nach ihrem Studium nicht richtig wusste, wohin und als Online-Tarotkartenleserin endlich einen für sie passenden Beruf gefunden hat. Die Geschichte spielt im Jahr 2015, jedes zweite Kapitel gibt jedoch Einblicke in Freyas Vergangenheit, vor allem ihre Kindheit, aber auch ihre Jugend und Studienzeit. Dabei erfährt man, wie diverse Ereignisse, in denen sie Feindseligkeit gegenüber Paradextrischen erlebt hat, zu mehr Abschottung ihrerseits geführt haben. Viele dieser Ereignisse sind auf den ersten Blick kaum bedeutend, doch sie hinterlassen Spuren. Andere Ereignisse sind schwerwiegend und hinterlassen tiefe Narben. So ist sich Freya der Ablehnung anderer so sicher, dass sie gar nicht mehr versucht, Beziehungen aufzubauen. Träume, in denen sie als Jugendliche gesehen hat, wie sie verraten wird, trugen ihr Übriges dazu bei. Ihr einziger Halt ist Cousine Mary, die mit ihrem Mann glücklicherweise in der Nähe lebt und die Freya ermutigt, die Selbsthilfegruppe zu besuchen, wo sie erstmals in Kontakt mit anderen Paradextrischen kommt.

Zwischen Freya und Javi, dem Mann, der sie im Chat angesprochen hat, entsteht schnell eine enge Freundschaft, deren Intensität Freya überrascht. Es fühlt sich für sie an, als würden sie sich schon ewig kennen. Javi akzeptiert sie, wie sie ist, drängt sie nie zu etwas und spürt, was sie gerade braucht. Seine Familie weiß von seinen Fähigkeiten und akzeptiert ihn. Er hatte das Glück, in einem liebevollen und offenen Umfeld aufzuwachsen und strahlt regelrecht Freundlichkeit und Geborgenheit aus. Auch Gruppenleiterin Cassandra ist eine empathische Frau, die sehr behutsam mit Freya umgeht und ihr schnell Hilfe zukommen lässt, als ihre Träume außer Kontrolle geraten und sich im Wachzustand als Halluzinationen manifestieren. Und dann gibt es da noch Shaun, einen sehr charmanten jungen Mann, zu dem sich Freya hingezogen führt und der ihre Gefühle erwidert. Die beiden kommen sich näher, doch Shaun entwickelt sich zu einer Bedrohung, da er Freyas Grenzen nicht akzeptiert. Er will für die Rechte der Paradextrischen kämpfen und sich der Presse offenbaren. Für Freya ist das zu viel, doch Shaun bedrängt sie zunehmend, sich seinem Kampf anzuschließen. Man kann beide Positionen gut nachvollziehen, sowohl Freyas Bedürfnis nach Anonymität und Sicherheit als auch Shauns Wut auf die Diskriminierung, die er erfährt und die er beenden will. Samantha Garner erzählt einfühlsam, wie diese beiden Positionen kollidieren und arbeitet heraus, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse und Grenzen anderer zu respektieren.     

Für viele Mystery- und Urban-Fantasy-Fans dürfte "The Quiet is Loud" zu ruhig sein, denn es dauert sehr lange, bis Freya ihre Ängste stückchenweise abbaut und "laut" wird. Auch gibt es hier keine wirkliche Action und die Paradextrischen nutzen ihre Kräfte nicht wie Superheld*innen, sondern verbergen diese. Viel mehr erzählt der Roman vom Leid der Ausgegrenzten und davon, wie selbst kleinste Gemeinheiten im Alltag Menschen in zunehmende Isolation treiben. Die Autorin widmet sich mit Freya der Perspektive der stillen Menschen, die wenig auffallen und dabei sehr viel wahrnehmen. Die darunter leiden, wenn andere ausgegrenzt werden und sich so davor fürchten, dass es ihnen genauso ergeht - oft zu Recht. Freya hat sich mit ihrer Wohnung einen sicheren Rückzugsort geschaffen, sie hat ihr ganzes Leben auf Ruhe und Schutz ausgerichtet, vermeidet Situationen, die sie entlarven oder überfordern könnten. Es ist schön zu lesen, wie sie vor allem in Gegenwart von Javi aufblüht, wie sie sich öffnen kann und dabei die gleiche introvertierte, ruhige Frau bleibt. In der Figureninteraktion ist "The Quiet is Loud" überwiegend wholesome und zeigt, dass nicht jede Revolution eine laut, zerstörerische ist, sondern dass auch Empathie und Freundlichkeit revolutionär sein können. 

Die Tarotkarten dienen Freya vor allem als Anregung zum Nachdenken und sie nutzt sie nicht dazu, Menschen die Zukunft vorherzusagen, sondern um ihnen bei Entscheidungen zu helfen. Dass es nicht zu esoterisch wird, ist dabei angenehm. Für sie persönlich haben die Tarotkarten eine tiefe Bedeutung, da sie das Deck von ihrer Mutter geschenkt bekommen hat. Insofern geben ihr die Karten auch Halt. Eine besondere Bedeutung hat auch Essen für Freya, vor allem in der Gemeinschaft, die hier eine kleine, aber sehr liebevolle ist. Beim Essen geht es auch um kulturelle Identität, ein Thema, das Samantha Garner beiläufig behandelt, immerhin haben mehrere Figuren einen Migrationshintergrund und versuchen, ihren Platz zwischen den Welten zu finden. Dabei zeigt die Autorin auch die innere Zerrissenheit von Menschen, deren Eltern aus unterschiedlichen Kulturen stammen - und sie zeigt, wie diese unterschiedlichen Einflüsse Menschen bereichern können.


Fazit

"The Quiet is Loud" ist ruhige Contemporary Fantasy, die sich den stillen Kämpfen verängstigter Menschen widmet. Protagonistin Freya hat sich von der Welt, die Menschen wie ihr zu oft mit Feinseligkeit begegnet, abgewandt und führt ein Leben voller Geheimnisse. Samantha Garner erzählt einfühlsam, wie sich Freya erstmals Gleichgesinnten öffnet und es ist schön zu lesen, dass sie dabei meistens nicht überfordert wird und ihre Grenzen respektiert werden - und dass sie Hilfe hat, als doch jemand ihre Grenzen überschreitet.


Pro und Contra

+ thematisiert Diskriminierung und Grenzüberschreitungen
+ Freya als introvertierte Protagonistin voller Angst, die sie langsam überwindet
+ Mary und Javi sind supergute, unterstützende Freunde
+ Tarotkarten als Anregung zum Nachdenken / Reflektieren
+ ruhige, einfühlsame Erzählweise
+ Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen zu einer stimmigen Geschichte

o man hätte sich gewünscht, dass Freya "lauter" ist, doch sie bleibt authentisch

- zum Ende hin wirkt die Handlung zurechtgebogen

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Mystery, Rassismus, Kanada, Tarot