Das gestohlene Kind (Keith Donohue)

C. Bertelsmann, 1. Auflage August 2007
Originaltitel: The Stolen Child
Aus dem Amerikanischen von Sabine Herting
HC mit SU, 448 Seiten
€ 19,95 [D] | € 20,60 [A] | CHF 34,90
ISBN: 978-3-570-00936-9
Leseprobe

Genre: Belletristik


Zur Rezension von “Der dunkle Engel”


Klappentext:

“Magisch – im besten Sinne dieses Wortes.”
People Magazine

Der siebenjährige Henry läuft von zu Hause weg, versteckt sich im Wald, wird gefunden und seinen überglücklichen Eltern zurückgebracht. Niemand bemerkt, dass es nicht mehr dasselbe Kind ist. Geheimnisvolle Waldbewohner haben Henry Day ausgetauscht. Ein Kobold wächst in die Menschenwelt hinein, Henry wird zu Aniday und lebt in der Schattenwelt. Lange Zeit bleiben die Veränderungen den Menschen verborgen. Doch dann kommen sich die beiden Welten immer näher. Die Wege von Kind und Kobold kreuzen sich.
Eine mitreißende Geschichte über das Abenteuer, erwachsen zu werden, ein eindringlicher Entwicklungsroman, angesiedelt am Rand unserer Wirklichkeit: ein Märchen für Erwachsene.

Das gestohlene Kind ist unsentimental und wunderbar lebendig geschrieben. Keith Donohue erfüllt das Unheimliche mit Humor und das Alltägliche mit Magie. Ich habe den Roman verschlungen.“ Audrey Niffenegger (Autorin des Bestsellers Die Frau des Zeitreisenden)


Rezension:

Jeder hat ein unaussprechliches Geheimnis, das zu entsetzlich ist, als dass man es einem Freund oder Geliebten, einem Priester oder Psychiater gestehen könnte, und das mit dem Innersten zu verwoben ist, um es ohne Schaden herauszuschneiden. Mancher beschließt, es zu ignorieren; andere versenken es tief in sich und nehmen es unausgesprochen mit ins Grab. Wir tarnen es so gut, dass selbst der Körper manchmal vergisst, dass es dieses Geheimnis gibt. Ich will nicht unser Kind verlieren, und ich will Tess nicht verlieren. Meine Angst, als Wechselbalg entlarvt und von Tess zurückgewiesen zu werden, hat mein restliches Leben zu einem Geheimnis gemacht.
(Henry Day, Seite 396 und 397)


Nach einem Streit mit seiner Mutter flüchtet sich Henry in den Wald, der direkt an das Grundstück seiner Eltern anschließt, und versteckt sich in einem ausgehöhlten Baum. Dort wird er von sogenannten Wechselbälgern entführt, die ihn schon seit Längerem im Auge hatten, und einer der ihren nimmt stattdessen seinen Platz ein, lebt sein Leben, während Henry die nächsten Jahre seines Lebens im Wald fristet und dort als ewig Junger zum Warten verdammt ist, bis die vorgeschriebene Reihenfolge ihm erlaubt, den Wechsel zurück zu vollziehen.
So weit, so gut, das ist nichts, was der Klappentext nicht schon verraten hätte. Doch was Keith Donohue aus dieser Idee gemacht hat, übertrifft die normale Phantasie in vielerlei Hinsicht. Nicht nur sprachlich schafft Donohue es, den Leser zu fesseln, auch mit seinen wunderschönen Bildbeschreibungen und den toll dargestellten Emotionen, die ein Wechselbad der Gefühle innehaben, zieht er den Leser voll ins Geschehen.

”Was das Gedächtnis vergisst, erschafft die Phantasie neu.”
(Chavisory, Seite 440)


Der echte Henry schafft es nie, sein vorheriges Leben ganz zu vergessen, obwohl nach jedem vollzogenen Wechsel eine Art Reinigungsbad zum Ritual gehört. Und auch der falsche Henry erinnert sich an sein Leben im Wald, und auch an das, welches er vorher gelebt hat.
In abwechselnden Sichtweisen geht der Leser mit beiden Henrys auf die Reise durch die Zeiten und entdeckt dabei, wie eng und verwischt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, und dass das eine nicht ohne das andere existieren kann. Viele Dinge, die beide vergessen glaubten, tauchen wieder in ihren Köpfen auf, wenn auch nur verzerrt und nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprechend. Dadurch findet der falsche Henry heraus, woher seine Leidenschaft für die Musik stammt, und macht sich auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit vor seinem Leben als Wechselbalg.

Und auch der echte Henry ist anders als die anderen Wechselbälger, was diese schnell merken. Mit Unterstützung von Speck, die seine engste Vertraute und direkte Bezugsperson in der immer kleiner werdenden Gruppe von anfangs zwölf Wechselbälgern ist, schreibt er seine Geschichte Stück für Stück auf, um nicht zu vergessen. Beide Geschichten ergänzen sich, anfangs sehr leise, aber nach und nach treten beide Leben miteinander in Verbindung und man bekommt einen Eindruck davon, dass Phantasie und Realität manchmal gar nicht so weit auseinander liegen, wie man oft annehmen möchte.

Manchmal sind unsere Gedanken und Träume realer als unser übriges Erleben, und in anderen Momenten überschattet das, was uns geschieht, alles, was wir uns vorstellen.
(Aniday, Seite 413)


Fazit:

Das gestohlene Kind öffnet die Grenzen der normalen Welt und lässt den Leser hinter die Möglichkeiten blicken. Eindrucksvolle Bilder lassen Nachdenklichkeit und Fragen zurück. Ein tolles Debüt!


Wertung:

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5