Holly (Stephen King)

King Holly

Heyne, 20.09.2023
Originaltitel: Holly (2023)
Übersetzung von Bernhard Kleinschmidt
Gebunden, 640 Seiten
€ 28,00 [D] | € 28,80 [A] | CHF 37,90
ISBN 978-3-453-27433-4

Genre: Krimi, Horror


Rezension

Im Jahr 2012 wird der Schriftsteller Jorge Castro, der kreatives Schreiben und lateinamerikanische Literatur am Bell College of Arts and Sciences einer im Verfall befindlichen alten Stadt unterrichtet, beim Joggen von zwei Emeriti entführt, Emily und Rodney Harris. Sie halten ihn in einer Zelle in ihrem Keller gefangen und geben ihm rohe Leber zu essen…

Elf Jahre später bekommt Holly Gibney, Miteigentümerin der Privatdetektei Finders Keepers, eine neue Klientin. Penny Dahl bittet sie, ihre vermisste Tochter Bonnie zu suchen. Holly nimmt den Auftrag an, obwohl gerade ihre Mutter beerdigt wurde. Bonnies Verschwinden wurde von der Polizei nicht untersucht, weil an ihrem Fahrrad eine Notiz angebracht war, die auf Suizid oder gewolltes Verlassen ihres persönlichen Umfeldes schließen ließ. Die Untersuchungen in diesem Vermisstenfall führen dazu, dass Holly Auffälligkeiten feststellt, die mehrere Fälle innerhalb eines bestimmten und überschaubaren Areals miteinander verbinden. Mit Unterstützung ihrer Freunde Barbara und Jerome Robinson sucht sie die Teile eines Puzzles, dessen Fertigstellung in eine Sphäre des Grauens führt.

Stephen Kings (wie er sie selbst bezeichnet:) constant readers kennen Holly Gibney seit 2014 aus den Romanen Mr. Mercedes, Finderlohn, Mind Control und Der Outsider, außerdem der Novelle Blutige Nachrichten. Holly widersteht einer einfachen Genrezuweisung, ist ein Horrorroman, in dem der vielleicht übelste Tabubruch die Handlung durchzieht und als bestimmende Größe aus ihr nicht wegzudenken ist. Da es um verschwundene Menschen und prozedurale Ermittlungsarbeit der Detektei Finders Keepers geht, ist Holly auch ein Kriminalroman. Das Wer und das Wie werden relativ schnell und unabhängig von den Ermittlungen klar.

Mit jeder Tat einer Mordserie erfahren die Leser*innen mehr darüber, was mit den Opfern geschieht, teils auch über die Auswirkungen auf Angehörige, wie das Abgleiten der Mutter eines verschwundenen Jungen in den Alkoholismus, oder der innere Kampf einer Veganerin, die ihren Hunger nur stillen könnte, wenn sie rohe Leber isst. So bleibt das Warum aufzuklären, und dieses Warum führt Holly nicht in die Welt des Übernatürlichen, sondern auf die dunkle Seite des Menschseins.

Holly erzählt zwei Geschichten in einem Handlungsraum auf zwei Zeitlinien. Hauptfigur der Gegenwartserzählung ist die titelgebende Holly Gibney. Sie ist mittlerweile 55 Jahre alt. Während der Coronavirus-Pandemie, die kein Hintergrundrauschen in der Erzählung ist, untersucht sie das Verschwinden Bonnie Dahls. Die erste Zeitlinie beginnt am 22.07.2021 und fällt am 28.07.2021 mit der zweiten zusammen, die am 17.10.2012 beginnt und deren Hauptfiguren Rodney und Emily Harris sind. Beide waren am Bell College beschäftigt und sind nun Emeriti. Anglistin Emily war Literaturprofessorin und arbeitet im Ruhestand weiter als Gutachterin bei Literaturwettbewerben. Rodney war Ernährungswissenschaftler und führt, vorsichtig formuliert, ein seltsames Projekt durch.

Der Horror hängt eng zusammen mit einer extremen Liebesgeschichte. Rodney und Emily sind von Alterskrankheiten geplagt und versuchen deren Symptome abzumildern. Im Fortgang der Handlung erfahren wir, wie es um das Paar tatsächlich bestellt ist. Da gibt es noch einiges mehr als Liebe, Zärtlichkeit und Fürsorge.

Alles in Holly unterliegt dem Wandel - über die Zeit und in ihr. Die Nation, die Menschen, die Körper, die Lebensbedingungen. Insoweit vom Werden und Vergehen erzählt wird, kommt der Erhaltung große Bedeutung bei. Der Erhaltung der Gesundheit der, eine wichtige Trope in heutigen Diskursen, Handlungsfähigkeit durch Eigenleistung, schließlich dem Hinauszögern des Unvermeidlichen. Die Erhaltung hat einen Preis, der ein Stück weit in ihrer Spiegelung besteht: Machtausübung über andere Menschen bis in die letzte Konsequenz und, je nach Perspektive, darüber hinaus. Wie King dies gestaltet, ist sehr böse.

King verwendet Corona und Donald Trump, um - mit satirischem Ton - ein gesellschaftliches Stimmungs- und Verhaltensklima zu beschreiben. Dabei halten sich seine Figuren mit ihren politischen Ansichten nicht zurück. Holly mutmaßt einmal über sich, sie sei Hypochonderin, weil sie direkten Kontakt scheut, am liebsten ständig ihre FFP2-Maske tragen würde und häufig Handschuhe überzieht. Hollys Mutter war Trump-Unterstützerin, Corona-Leugnerin, und sie starb an dem Virus. Dadurch wird Hollys von vielen Menschen als übervorsichtig bis lächerlich angesehenes Verhalten verständlicher. An der Trauerfeier für ihre Mutter hat Holly via Zoom teilgenommen. In manchen Szenen gibt es Reaktionen auf Hollys Verhalten, bis hin zur Verachtung.

Emily als Vertreterin der Akademia ist Trump-Unterstützerin, Rassistin, queerfeindlich, was sich alles in ihrem Verhalten gegenüber Kollegen und Kolleginnen äußert, aber auch in der Bewertung von literarischen Texten. Das Schreiben spielt über Literaturwettbewerbe hinaus eine Rolle. Jorge Castro lehrt kreatives Schreiben, Jerome Robinson hat für sein Sachbuch über das Gangsterleben seines Großvaters gerade einen Verlag gefunden, seine jüngere Schwester Barbara schreibt Lyrik, die bekannte alte Lyrikerin Olivia Kingsbury wird ihre Mentorin.

Anders als Emily ist Rodney ein Wissenschaftler, der die Bezeichnung mad scientist verdient hat. Dazu soll hier aber nichts verraten werden. Nur vielleicht, dass es sich dennoch keinesfalls um Wissenschaftsfiktion handelt, es sei denn, die Leugnung der Evolution wird als Trope der Science Fiction verstanden.


Fazit

Holly ist ein vielschichtiger Roman, Krimi, Thriller, Horror, Sozialsatire, eine Reflexion über (Un-)Menschlichkeit, Verletzlichkeit und die Fähigkeit zum Wandel in Zeiten von Coronavirus-Pandemie, Trump und Black Lives Matter. Die Story wird getrieben durch Hollys Suche nach Wahrheit. Stephen King erzählt seine Geschichte, als sei sie ein Beitrag zum Resilienztraining: Annehmen, was geschieht, die Dinge sind, wie sie sind.


Pro und Kontra

+ gelungenes Zeitbild
+ innovativer Umgang mit dem Serienkiller-Motiv
+ Trauerfeier via Zoom
+ Kings bislang politischster Roman
+ Nennung des Impfstoffs als Bestandteil der Begrüßung
+ differenzierte Figurencharakterisierung

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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Tags: Stephen King, Corona, Serienmord, Rassismus, Body Horror, Akademia, Queerfeindlichkeit, Sozialsatire, Kannibalismus