Die dunkelste Vorstellung (Ella Smoke)

ohne ohren (2023)
Taschenbuch, ca. 150 Seiten, 10,49 EUR
ISBN: 978-3-903296-62-6

Genre: Dark Fantasy / Horror / historische Fantasy / Steamfantasy


Klappentext

Ein Zirkus.
Schatten.
Und etwas Hoffnung.

Ein Wanderzirkus gastiert in London. Weder drehen Tiere hier ihre Runden im Scheinwerferlicht, noch sind es Clowns, die das Publikum unterhalten. Es sind Menschen, die als Freaks bezeichnet werden - Gefangene einer finsteren Show.

Grace verliert alles. Ihr Zuhause, geliebte Menschen und ihre Hoffnung in die Zukunft. Wegen ihrer kleinen Größe ist sie ihrem machtgierigen Onkel ein Dorn im Auge. Und ehe sie sich versieht, findet sie sich mitten in Direktor Lambs Show wieder, als Attraktion. Ihre Erinnerungen an schönere Zeiten, wie ihr treues mechanisches Hündchen Klick-Luck, sind alles, was ihr noch bleibt. Sie gibt nicht auf und plant ihre Flucht.

Welche Geheimnisse warten im Schatten des Zeltes? Ein Gang aus Spiegeln, groteske Auftritte, Zeltwände, die zu flüstern scheinen. Was ist echt, was ist Illusion und kann sie dem ungezügelten Hass der Menge entkommen?

Aber eines ist klar, ihr erster Auftritt steht kurz bevor.

Düster. Beklemmend, bewusst unbequem und magisch.


Rezension

Als junge Frau ist Grace immer noch klein und zart wie ein Kind. Ihr Vater hat sie über alles geliebt, ebenso ihre Mutter, auch wenn diese es nicht zeigen konnte und Grace stets bevormundete und einengte. Doch sie bestand darauf, dass Grace lernt, sich zu verteidigen. Der Vater starb viel zu früh und als auch die Mutter stirbt, schlägt sich Grace allein durch, argwöhnisch beobachtet von ihrem Onkel, der sich schon immer über ihre Größe lustig gemacht hat. Er strebt eine Karriere in der Politik an und sieht Grace als Schandfleck seiner Familie. Als ihr Zuhause dem Feuer zum Opfer fällt, ist Grace schnell klar, wer dahintersteckt. Sie flüchtet zusammen mit ihrem mechanischen Dackel Klick-Luck nach London, wo sie sich kurze Zeit wohl fühlt und plant, zu studieren. Doch ihr Onkel findet sie und Grace gelingt es nicht, sich gegen ihn zu wehren. Er bedroht sie mit einer Waffe und schleift sie zu einem finsteren Zirkus, wo er sie an eine Freakshow verkauft. Grace ist zutiefst verängstigt und fürchtet den grausamen Zirkusdirektor, der Menschen dem Spott und der Aggression der feinen, zutiefst ableistischen und rassistischen Gesellschaft ausliefert. In der Freakshow werden Menschen gedemütigt und misshandelt und jeder Fluchtversuch scheitert an den undurchdringbaren Zeltwänden ...

"Die dunkelste Vorstellung" von Ella Smoke widmet sich einem äußerst dunklen Kapitel der Menschheitsgeschichte: den Freakshows, wo Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen, ausgestellt und entwürdigt wurden. Auch Grace als kleinwüchsige Person gilt als "Freak" und sie weiß genau, was ihr in der Manege droht: die Menschen werden sie anstarren, sie auslachen und sie beleidigen. Ihr Gewalt antun. Bevor sie selbst im Zirkus auftreten muss, werden die anderen Freaks vorgeführt und entmenschlicht, sie werden gezwungen, Kunststücke aufzuführen, und müssen sich von den maskierten Zuschauer*innen anfassen, schlagen und mit faulem Obst und Gemüse bewerfen lassen. Die Autorin beschreibt diese Grausamkeiten detailreich und das Lesen ist zwischenzeitlich kaum zu ertragen, denn zuvor lernt man die Zirkusmenschen näher kennen. Sie sind alle einzigartige Personen, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben und berichten, dass es früher wohl noch schlimmer war - was man sich kaum vorstellen kann.

Neben Grace gibt es drei weitere Frauen im Zirkus: Die wunderschöne, rothaarige DeBell, die als Hexe angepriesen wird. Cala mit den zwei Gesichtern, das eine jung, das andere alt, die nicht sprechen kann, weil man ihr die Zunge herausgeschnitten hat. Und Soutaine, die in einem goldenen Käfig lebt und durch viele Operationen mehr Puppe als Mensch ist. Ebenfalls in der Freakshow auftreten müssen Peter, der Wolfsmensch, der eigentlich Erfinder ist. Atsu, der seinen Zwillingsbruder verloren hat und aus Afrika verschleppt wurde. Und der sanftmütige Adam, der "Riese mit dem Teufelsrückgrat". Sie begegnen Grace mit Freundlichkeit und helfen ihr, so gut sie können, doch vor ihrem Auftritt können sie sie nicht bewahren. Der Direktor hat sie alle längst gebrochen - zumindest scheint es lange Zeit so, ehe Grace eine zugleich gruselige und ermutigende Überraschung erlebt.

Grace ist eine sehr empathische, reflektierte Frau, die in ihrem jungen Leben bereits viel Diskriminierung erleben musste. Sie wird belächelt und angefeindet, doch sie ist entschlossen, ihren Weg zu gehen. Einzig ihr Onkel vermag es, ihr allen Mut zu rauben. Die Freaks unterstützen Grace, einzig Peter verhält sich ihr gegenüber abweisend, da Grace jemanden ersetzen soll, der die Freakshow nicht überlebt hat. Grace gelingt es dennoch, Peter für sich einzunehmen. In der Geschichte ist viel Potential für wunderbare Freundschaften enthalten, die in der Kürze nicht aufblühen können. Immerhin erhascht man kleine, meist schmerzliche Einblicke in die Vergangenheit der Freaks, die sie zu interessanten Figuren machen.

Der mechanische Hund Klick-Luck bringt ein bisschen Steampunk in die Geschichte, ebenso wie Peters Erfindungen, die im Zirkus für Spezialeffekte sorgen. Ella Smoke schildert die erste Begegnung von Grace und Klick-Luck liebevoll und die beiden wachsen langsam zu einem tollen Team zusammen. Leider spielt Klick-Luck im Zirkus dann kaum eine Rolle und dient nur noch dazu, die Bösartigkeit des Direktors zu unterstreichen. Dieser ist ebenso wie der Onkel ein durch und durch fieser Antagonist, wobei auch hier noch eine Überraschung auf die Leser*innen wartet. Der Onkel dagegen bleibt der klischeehafte Bösewicht, der seine Nichte aus purem Egoismus verkauft und ein zutiefst ableistischer Mensch ist. 

"Die dunkelste Vorstellung" ist atmosphärisch geschrieben, hat jedoch einige Schwächen im Handlungsaufbau. Die Geschichte beginnt, als Grace sich an der Universität einschreiben will und von ihrem Onkel entführt wird. In diversen Rückblenden erfährt man mehr über Grace' Kindheit und Jugend. Im Zirkus selbst passiert dann sehr viel - das meiste an einem einzigen Tag, dem Tag von Grace' erster Vorstellung. Die Kapitel sind mit Zeitangaben wie "Zwei Stunden vor Mitternacht" versehen und es passiert dabei viel zu viel in zu kurzer Zeit. Mit den Zeitangaben hat sich die Autorin keinen Gefallen hat, denn sie verstärken das Gefühl, dass das alles so nicht an einem Zirkusabend passieren kann. Zwischenzeitlich gibt es dann wieder einen kleinen Zeitsprung, ehe die große Wendung kommt, die die Geschichte Richtung Horror kippen lässt und zugleich Hoffnung bringt.

Leider finden sich auch einige Fehler im Text. Die meisten davon sind auf nachträgliche Änderungen zurückzuführen. Es liest sich, als wäre nach dem Lektorat und Korrektorat nochmals einiges geändert worden. "Die dunkelste Vorstellung" ist aus einer Kurzgeschichte entstanden, die zu einem Kurzroman ausgebaut wurde. Das merkt man stellenweise deutlich und es hätten gerne noch mehr Seiten sein dürfen, vor allem um die Freaks besser kennenzulernen. Hervorzuheben ist das großartige, düstere Cover, das ein echter Blickfang ist und sehr gut zur Story passt.


Fazit

"Die dunkelste Vorstellung" ist finstere Fantasy mit Steampunkelementen, die von menschlicher Grausamkeit, insbesondere Ableismus und Rassismus, erzählt. Die "Freaks" werden bloßgestellt, entwürdigt und misshandelt und zwischenzeitlich will man gar nicht weiter lesen - doch es lohnt sich, denn Ella Smoke überrascht mit einer gruseligen Wendung, die Hoffnung birgt.


Pro & Contra

+ düstere Steamfantasy mit Zirkussetting
+ Grace ist empathich und reflektiert
+ Nebenfiguren mit individuellen Schicksalen
+ der mechanische Dackel Klick-Luck
+ gelungene Wendung, die für vieles entschädigt
+ großartiges, stimmungsvolles Cover

- stereotype, sehr böse Antagonisten
- zwischenzeitlich zu starker Fokus auf den Grausamkeiten
- der Umgang mit Klick-Luck in der zweiten Romanhälfte
- zu viele Fehler im Text

Wertung: sterne3

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesspaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3/5


Interview mit Ella Smoke (2023)

Tags: Dark Fantasy, Steamfantasy, historische Fantasy, Zirkus