Die Affaire Moro. Ein Roman (Leonardo Sciascia)

sciascia affaire moro

Edition Converso, 2023
Originaltitel: L’Affaire Moro (1978)
Neu übersetzt von Monika Lustig
Gebunden, 235 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 35,90
ISBN 978-3-949558-18-4

Genre: dokumentarischer Ermittlungsroman, Belletristik


Rezension

Am 16. März 1978 wird der Abgeordnete Aldo Moro, Parteivorsitzender der Democrazia Cristiana (DC), von der linken Terrororganisation Brigate rosse entführt. Dabei werden seine fünf Personenschützer erschossen. Er war auf dem Weg ins Parlament, wo an diesem Tag der Abgeordnete Andreotti die neue Regierung bilden sollte, die erste christdemokratische, die mit den Stimmen der kommunistischen Partito Comunista Italiano (PCI) zustande kommt, ein von Aldo Moro vorangebrachter und von beiden Seiten umstrittener „historischer Kompromiss“.

Noch vor dem Abend findet sich eine Mehrheit für die neue Regierung unter Andreotti. Sie lehnt jegliche Verhandlungen mit den Terroristen ab. Die Brigate rosse erklären in mehreren Verlautbarungen, Aldo Moro den Prozess zu machen, die Liste der Anklagepunkte ist allgemein gehalten. Zwei Wochen nach der Entführung schreibt Moro seinen ersten Brief, gerichtet an Innenminister Cossiga, mit dem Vorschlag eines Gefangenenaustauschs. Das Leben eines Menschen sei wichtiger als die Einhaltung des Prinzips, nicht mit Terroristen zu verhandeln, so sein Argument.

Moro verfolgt die Entwicklung aus den Zeitungen, die ihm die Entführer zu lesen geben. Nach anfänglicher Hoffnung auf Verhandlungen realisiert er, dass die Regierung nicht von ihrem starren Kurs abweicht und ihn fallenlässt. In den folgenden Wochen schreibt er mehr als achtzig Briefe an seine Familie, den Papst und, unter sich verschärfenden Anklagen, an seine vormaligen Parteifreunde. Nach einigem Zögern treten die Sozialisten des Partito Socialista Italiano (PSI) für Gespräche ein, Papst Paul VI. bittet die Brigate rosse, Moro ohne Gegenleistung freizulassen.

Am 15. April erklären die Brigate rosse Aldo Moro für schuldig und verurteilen ihn zum Tod. Der Osservatore romano und Amnesty International, Bischöfe, Parlamentarier, Intellektuelle setzen sich für seine Rettung ein. Die Entführer, mit einem Austausch einverstanden, nennen dreizehn Namen inhaftierter Gesinnungsgenossen, die Regierung von Panama ist bereit, diese Leute aufzunehmen, wäre Rom bereit zu diesem Schritt. Doch Rom ist nicht bereit: Es geht ums Prinzip. Am 9. Mai 1978, vier Tage nach der Ankündigung der Brigate rosse, das Urteil vollstrecken zu wollen, wird nach einem Anruf eines Brigadisten Aldo Moro erschossen im Kofferraum eines Wagens in der Innenstadt Roms aufgefunden.

Leonardo Sciascia schrieb den Roman innerhalb weniger Tage, nur kurz nach die Ermordung Aldo Moros. Das Zentrum bildet eine Auswahl an Dokumenten. Es sind Briefe Moros aus der Gefangenschaft, Verlautbarungen der Brigate rosse, Briefe der Familie Moro und Reaktionen der Politiker, die in den Zeitungen abgedruckt und Aldo Moro zugänglich gemacht wurden, was eine Zweiwegekommunikation ermöglichte. Anhand dieser Dokumente bildet Sciascia den Verlauf der Ereignisse ab, analysiert und kommentiert das Verhalten und mögliche Gedanken der Beteiligten. Im Fokus steht die Sezierung eines politischen Machtsystems: Der Fall Aldo Moro wird zum Dreh- und Angelpunkt einer umfassenden politischen Analyse und eines Diskurses über den Staat.

Gerahmt und immer wieder unterbrochen wird dieser Teil durch Exkurse in die Literatur, Kontexte werden hergestellt etwa zu Pasolini, Pirandello und Borges, Überlegungen angestellt zu dem komplexen Verhältnis von Realität und Dichtung. Sciascia beruft sich insbesondere auf Pasolini, der die DC als Partei beschreibt, die „um keinen Preis die Macht aus den Händen geben wollte“ und sich zu diesem Zweck eine von Aldo Moro entwickelte maßgeblich neue Sprache zulegt habe, bestehend aus Leerformeln, unverständlichen Satzungeheuern, um das hohle Parteiprogramm zu ersetzen, da es der DC nur um eines ginge: den schieren Willen zum Machterhalt. Der von Aldo Moro vorangetriebene „Historische Kompromiss“ der Rechten mit den Linken war nichts anderes als dieses Sich-an-die-Macht-klammern.

Warum wurde ausgerechnet Aldo Moro entführt? So in etwa lautet eine Frage Sciascias, auf die er keine direkte Antwort gibt. Sciascia analysiert, er interpretiert nicht. Ging es darum, den Kompromiss zu verhindern? Wenn ja, wurde dieses Ziel verfehlt. Denn noch am selben Tag kam es zu einer Regierungsbildung aus Rechten und Linken unter Andreotti, einem der wohl korruptesten Politiker des Landes. Es war eine Regierung aus Ministern der DC, aber mit Duldung der PCI (Partito Comunista Italiano).

Warum weigerte sich die Regierung strikt, mit den Brigate rosse zu verhandeln? Stattdessen sprach man von einer Kampfansage an den italienischen Staat, reagierte mit Nationalismus-Rhetorik und behaupteter „Standhaftigkeit“. Eine Partei, die bis dahin alle Prinzipien verraten hatte, bestand ausgerechnet jetzt auf Prinzipientreue. Es gehe um den Staat, hieß es seitens der DC, die sich vorher nie für den Staat interessiert hatte.

Sciascia liest aus den Briefen heraus, dass Moro sehr wohl bei klarem Verstand war und für Verhandlungen eintrat, damit die Polizei Zeit hatte, ihn zu finden, und sollte es dazu nicht kommen, was ihm drei Wochen später klar geworden sein dürfte, die DC sich auf einen Austausch einlassen würde, weil die Rettung eines Menschenlebens wichtiger war als ein Prinzip, vor allem für eine christliche Partei. Da Aldo Moro die Regierung aber zu Verhandlungen aufrief, distanzierten sich seine Parteifreunde: Moro war für sie in der Gefangenschaft ein anderer geworden, hatte sich von Moro I in Moro II verwandelt, als befände man sich in einem Roman von Luigi Pirandello.

Warum wurde Aldo Moro nach seiner Entführung von den Zeitungen als „großer Staatsmann“ bezeichnet, wo er das doch nie war, sondern „ein gewaltiger Strippenzieher“, scharfsinnig, berechnend und nach Pasolini der, der „am wenigsten in die abscheulichen Dinge verwickelt scheint“. (Welche „abscheulichen Dinge“ sind da gemeint? Vielleicht das am Ende angesprochene „Staatsmassaker“?) Warum wurde Aldo Moro nicht gefunden? Die Regierung brüstete sich medienwirksam mit einem bis dato beispiellosen Polizeieinsatz im ganzen Land. Doch die Polizeiarbeit war ineffizient und ineffektiv, begleitet von zahllosen Pannen, die man unter anderen Umständen als Farce bezeichnet hätte.

Was ist die Realität? Fakten bleiben Fakten, aber ihre Kontextualisierung und Interpretation bieten großen Spielraum. Sciascia nennt das Narrativ von Regierung und der mit ihr verbandelten Medien über den Verlauf der Ereignisse ein „Melodram der Liebe für den Staat, das vom 16. März bis zum 9. Mai 1978 auf grandiose Weise auf der Bühne Italien gespielt wurde.“ In dem Rührstück sollte Aldo Moros Ehefrau die selbstlose Heldin spielen, die sich aus Vaterlandsliebe gegen Verhandlungen ausspricht. Sie zog es jedoch vor, diese Rolle zurückzuweisen.

Neben dem Roman enthält das Buch eine „Zeittafel der Affaire“, einen „Bericht der Parlamentarischen Minderheit vorgelegt von dem Abgeordneten Leonarda Sciascia“, den Essay „Der Leser als Detektiv“ von Fabio Stassi, einen Anhang mit „Von der Pflicht, die Affaire Moro zu übersetzen“ der Übersetzerin, Anmerkungen und Biobibliografien.


Fazit

Spannender, zeitkritischer Roman um den realen Fall des christdemokratischen Politikers Aldo Moro, der von den Roten Brigaden, deren Anschläge ein ganzes Land lähmten, entführt und ermordet wurde. Von seinen Parteifreunden der Regierungspartei Democrazia Cristiana unter Beihilfe der Medien wurde ein verlogenes Melodrama inszeniert. Leonardo Sciascia sucht mit den Mitteln der Literatur nach der Wahrheit, analysiert die politischen Machtstrukturen und charakterisiert ihre Gestalten, legt Unmenschlichkeit, Lügen und machtstrategische Bedeutung des Falls offen . Sein zentrales Anliegen dabei ist es, Aldo Moro die Menschenwürde zurückzugeben (ohne ihn zu einem Hoffnungsträger oder Märtyrer zu stilisieren), die seine Partei ihm nahm, als sie ihn fallenließ und seiner Identität beraubte. Der Roman führte zu Spekulationen über die Beteiligung staatlicher und geheimdienstlicher Akteure und möglicher Verwicklungen ins Ausland. Bis heute sind die Hintergründe dieses Polit-Krimis nicht vollständig geklärt.


Pro und Kontra

+ anspruchsvolle, scharfsinnige Analyse der politischen und medialen Realität der 1970er Jahre Italiens
+ Betrachtungen zum Thema Literatur, deren Bedeutung und eine Neudefinition
+ Betrachtungen zur politischen Rhetorik als Mittel der Manipulation, die nichts an Aktualität verloren haben
+ ein Plädoyer für die Menschlichkeit

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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Tags: Rote Brigaden, Terrorismus, Leonardo Sciascia, Aldo Moro, Brigate rosse , politische Rhetorik