Kältere Schichten der Luft (Antje Rávic Strubel)



S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007
188 Seiten
ISBN 978-3-10-075121-8
Hardcover-Preis: 17,90 € (D)
Belletristik



Ein anderer Name

„Schmoll“, sagte sie und wandte sich zu mir um. „Sie sind ein kluger Junge.“ [...]
Ich war zufällig in der Nähe, als sie ans Ufer kam. Ich war nicht bei den Booten, ich stand etwas abseits vom Steg, jetzt bewegte ich mich, als hätte ich stundenlang in derselben Haltung verharrt.
„Ich heiße nicht Schmoll“, sagte ich. „Und ich bin kein Junge.“


Das scheint die seltsame Fremde wenig zu stören. Beharrlich kehrt sie immer wieder zum Campingplatz zurück, auf dem die Ich-Erzählerin Anja mitarbeitet, und beharrlich bleibt sie auch in der Namensgebung. Für sie ist Anja Schmoll.
Mit dreißig Jahren, so hat man Anja gesagt, sind die Weichen unwiderruflich gestellt, und ihr Leben verläuft in tristen Gleisen. Um allem zu entkommen, hat sie den Sommerjob auf einem Camp in Schweden angenommen. Dort findet sie die Fremde und mit ihr die vorsichtige Möglichkeit, sich selbst und ihren Körper neu zu entdecken – zugleich gerät sie aber auch in ein soziales Gefüge, das sie einengt, sie ihrer Grenzen beraubt, bis es schlussendlich zur Eskalation kommt ...

Von Licht und Schatten

Vom Licht wußten sie alles.
Sie kannten es in jeder Schattierung. Sie hatten gesehen, wie es den Himmel brüchig und zerrissen erscheinen ließ oder blauschwarz gewachst. Sie wußten, wie das Licht unter aufschäumenden Wolken aussah, wie es schräg einfiel am Fjäll, wie es die Felsen, hoch oben den Wald und am Seeufer das tiefe Unterholz traf. Sie wußten, wie flüchtig, wie trügerisch es war. Erstrahlte der See eben noch türkis bis zum Grund, lag er im nächsten Moment schon stumpf und geschlossen da wie Asphalt.


Ja, die Protagonisten dieses Romans wissen vom Licht, sie wissen von seiner Unbeständigkeit, von den Schatten, die es wirft. Von seiner Neigung, zu entblößen. Als Beleuchterin hat Anja früher gearbeitet, bevor sie die Stelle verlor, und das Motiv des Lichtes durchzieht den Roman, umreißt die Konturen der Figuren und ihrer Geschichten, durchströmt die Handlung auf ganz eigene Weise, sodass alles klar hervortritt und dennoch nicht flach wird. Immer ist da dieser Hauch von Unwirklichkeit, den diese Helligkeit hervorruft, Nüchternheit, ein Schimmer von Distanz. Und Distanz ist ebenfalls ein Thema des Romans. Distanz zu sich selbst, zu anderen, zu dem, was hinter einem liegt und dem, was die Zukunft bringt. Wie herausgetreten aus der Zeit wirken die Mitarbeiter des schwedischen Sommercamps, vielleicht wie Zeitflüchtlinge. Wenigstens für eine Weile zeit-los sein, alles vergessen, die Eintönigkeit, die Hoffnungslosigkeit ... Und mittendrin Anja, für die das Licht ganz neue Perspektiven eröffnet, als könnte sie plötzlich am Horizont etwas erkennen, eine Bewegung, eine Chance. Anja, die ihr Leben lang als Frau Frauen geliebt hat und der die Fremde nun wie einem Jungen begegnet. Für die sich Grenzen aufzulösen beginnen und auf die deshalb reagiert wird – wie auf eine Gefahr.

Bilder auf Glas

Wie das beschriebene Licht wirkt auch der Stil des Romans. In klaren Linien werden Bilder geschaffen, manchmal hell und farbdurchflutet, manchmal dunkel und von einer Oberfläche, die undurchdringlich scheint. Gerade in ihrer unprätentiösen Nüchternheit wirkt Strubels Sprache, wirkt und berührt als würde sie einem die Szenen direkt in den Kopf malen. In Wechselwirkung zwischen Schwerelosigkeit und Realitätsgebundenheit, zwischen Spiel und schwarzem Ernst, zwischen Identitätsauflösung und Selbstverwirklichung, vorgezeichneten Wegen und neuen Freiheiten, zwischen Anjas Begegnungen mit der Fremden und ihrem Alltag im Camp entwickelt sich eine behutsame und zugleich gnadenlose Geschichte von unwirklicher Transparenz. Ein Glasbild, durch das die Sonnenstrahlen fallen – bis sich eine Wolke dazwischenschiebt.

Fazit

„Wunderschön“ ist das Wort, das dazu im Kopf bleibt. Die Art, wie die Autorin Grenzen verwischt und zugleich neu zieht, wie sie Gegensätze schafft und sie dennoch miteinander verzahnt, sodass sich alles zu einem untrennbaren Ganzen zusammenfügt, lässt das Buch noch lange nachwirken. Vielleicht mag manchen ein wenig zu viel nur in Andeutungen verharren, vielleicht mögen manche das Ende als zu plötzlich, als enttäuschend empfinden. Für mich ist jedoch beides nur konsequent. Weder schwere noch leichte Lektüre – immer ein Stück weit jenseits des Fassbaren und zugleich sehr fühlbar, immer präsent und doch nur wie eine Spiegelung im See. Eine Liebesgeschichte? Viel mehr. Es geht um das, was uns formt, was uns ausmacht, was wir sind.
Ein Stück Existenz, Detail eines Lebens, Skizze und doch komplexe Zeichnung. Empfehlenswert.


Pro und Contra:

+ Sprachlich wunderbare Passagen
+ Sehr behutsame und zugleich eindringliche Personengestaltung
+ Leichtfüßig und dennoch tiefgehend – eine „Wasserläufergeschichte“
+ Unprätentiös, aber fesselnd

- Stellenweise vielleicht zu verschwiegen über die Vergangenheit mancher Figuren

Bewertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5