1Q84 (Haruki Murakami)

 

Dumont (Oktober 2010)
Übersetz.(a.jap.) Gräfe, Ursula
Originaltitel: 1Q84, Shinchosha (Tokyo) 2009
1024 Seiten, Hardcover, EUR 32,00
ISBN 978-3-8321-9587-8

Genre: Belletristik / Phantastik


Inhalt

1984. Aomame hat zwei verschieden große Ohren. Beim Rendezvous mit einem reichen Ölhändler zückt sie eine Nadel und ersticht ihn. Ein Auftragsmord, um altes Unrecht zu sühnen. Tengo ist Hobby-Schriftsteller. Er soll einen Roman der exzentrischen 17-jährigen Fukaeri überarbeiten, damit sie einen Literaturpreis bekommt. Der Text ist äußerst originell, aber schlecht geschrieben, ein riskanter Auftrag. Aomame wundert sich, warum die Nachrichten ihren Mord nicht melden. Ist sie in eine Parallelwelt geraten? Um diese Sphäre vom gewöhnlichen Leben im Jahr 1984 zu unterscheiden, gibt Aomame der neuen, unheimlichen Welt den Namen 1Q84.


Rezension

Alles beginnt in einem Taxi, mit dem Aomame – in schickem Businessoutfit – zu ihrem Auftragsmord fahren will. Wäre da nicht ein undurchdringlicher Stau. Der Taxifahrer ergeht sich in seltsamen Andeutungen und verweist auf eine Nottreppe, die Aomame von der Autobahn runter in die Nähe eines Bahnhofs bringen kann. Von dort aus könnte sie es pünktlich zu ihrem Termin schaffen. Doch der Fahrer warnt sie: Wenn sie das tut, könnte die Welt nie mehr dieselbe sein. Und sie ist es tatsächlich nicht. Die Veränderungen schleichen sich regelrecht in die Geschichte ein, doch sie sind unumkehrbar. Währenddessen widmet der junge Lehrer Tengo sich der Überarbeitung von „Die Puppe aus Luft“, der Geschichte der siebzehnjährigen Fukaeri, die Fragen ohne jegliche Intonation stellt und nur die beantwortet, die einer Antwort würdig sind. Der Roman ist extrem kreativ, ihre sprachlichen Fähigkeiten allerdings schlecht. Und Tengo ahnt zu Beginn nicht, dass „Die Puppe aus Luft“ mehr ist, als die erfundene Geschichte eines jungen Mädchens …

Dem Titel „1Q84“ entsprechend gibt es einige Verknüpfungen zu George Orwells „1984“ – und auch Gegenentwürfe. Statt einem Big Brother tauchen hier Little People auf, die dem Leser lange Zeit ein Rätsel bleiben. In Fukaeris Geschichte kamen sie aus dem Maul einer blinden – und toten – Ziege. Allein dieser Umstand deutet die Seltsamkeit von Murakamis Werk an. Die Phantastik bleibt dabei größtenteils im Hintergrund, wobei die Elemente im Laufe des Romans zunehmen. Doch zunächst konzentriert sich der Autor stark auf seine beiden Protagonisten. Aomame und Tengo haben eines gemeinsam: Sie beide waren in ihrer Kindheit durch besondere Umstände Außenseiter. Aomame hat die Einsamkeit ihrer Kindheit zu einer starken Persönlichkeit geformt, die allerdings Schwierigkeiten mit persönlichen Bindungen hat. Tengo war ein guter und sportlicher Schüler, dessen Einsamkeit eher aus einem Mangel von Eigeninitiative entstand. Er könnte aus seinen Talenten mehr machen, begnügt sich jedoch mit einer bequemen Lebensvariante, in der ihm Entscheidungen abgenommen werden. Auch bei den Nebencharakteren sind eher die Frauen die starken Persönlichkeiten. Ausnahme bildet der Bodyguard Tamaru, ein konsequenter und warmherziger Mensch, dem eine gewisse Gefährlichkeit innewohnt.

Murakami versteht sich bestens darauf, verschiedene Zeitebenen so miteinander zu verweben, dass es bei aufmerksamem Lesen keine Verständnisprobleme gibt. Auch verrät er niemals zu früh gewisse Umstände, lässt dem Leser Zeit für eigene Ideen, die er dann beinahe sanft wieder umwirft. Darüber hinaus enthält der Roman viele Nebengeschichten, die sich nahtlos in das Geschehen einfügen. Wer „1Q84“ allerdings sehr schnell verschlingt, wird auf manche Wiederholungen stoßen. Diese machen für Gelegenheitsleser Sinn, fallen aber Viellesern auf. Gerade bei der Charakterisierung von Aomame hat man oftmals das Gefühl, die gleichen Sätze schon einmal gelesen zu haben. Insgesamt kommt das Werk relativ westlich daher, die Handlung könnte beinahe überall spielen, würden nicht verschiedene Ortschaften in und rund um Tokyo erwähnt werden. Richtig japanisch wirken die Charaktere meist nur beim Essen, ansonsten würde sich am Verhalten ohne Vorwissen schwer eine Nationalität abschätzen lassen. Dafür sind sie einfach zu außergewöhnlich.

Sprachlich ist der Roman gleichermaßen schlicht wie kunstvoll gestaltet. Murakami erzeugt mit einfachsten Worten komplexe Bilder, die die Geschichte mal sehr nah und manchmal auch recht fern erscheinen lassen. Das ganze Werk scheint von Gegensätzen geprägt zu sein und wirkt trotzdem unheimlich homogen. Durchdacht, ohne konstruiert zu wirken. Spannung im Sinne von Action ist spärlich gesät, dafür treiben die inneren Konflikte der Protagonisten und die seltsamen Umstände die Geschichte voran. Aomame und Tengo sind dem Leser schließlich so nah, dass man wirklich jeden Gedanken von ihnen erfahren möchte. Als eines der wenigen typisch japanischen Elemente bringt Murakami die unerfüllte Liebe ein, die aus ihrer schmerzhaften Sehnsucht heraus romantisch ist. Dieser auch unschuldigen Liebe steht eine Sekte gegenüber, die sich „Die Vorreiter“ nennt. Dort sollen blutjunge Mädchen missbraucht werden. Zunächst geht Murakami die Thematik sehr sensibel an, doch als der Roman zunehmend phantastischer wird, begibt er sich auf Glatteis und bricht beinahe ein. Es gibt ein paar äußerst zweifelhafte Szenen. Das Ende an für sich könnte man so stehen lassen, im Laufe des Romans sammeln sich jedoch zu viele offene Fragen an – hier sei erwähnt, dass in Japan scheinbar bereits in drittes Buch erschienen ist. In der Ausgabe von Dumont sind Buch 1 und 2 zusammengefasst. Mit dem dritten Buch könnten diese Fragen geklärt werden.

Die Aufmachung des Buches besitzt selbst eine gewisse Ambivalenz. Einerseits kommt es recht schlicht daher, der silberne Umschlag mit dem spiegelnd gedruckten Titel und dem leuchtenden Grün wirkt jedoch gleichzeitig glamourös. In der Buchhandlung fällt „1Q84“ garantiert auf – ein Blick auf den Preis dürfte aber den ein oder anderen interessierten Leser umhauen. Im Anbetracht der aufwändigen Übersetzung und der Dicke des Buches kann man die 32 Euro verschmerzen, es bleibt jedoch das Gefühl zurück, nur für den Namen nochmal extra draufzuzahlen. Rechnet man den hoffentlich auch in Deutschland erscheinenden dritten Teil hinzu, wird „1Q84“ zu einem ziemlich teuren Lesevergnügen. Leider wird das dritte Buch vom Verlag überhaupt nicht erwähnt.


Fazit

„1Q84“ ist ein phantastisches Drama, das mit Tabus bricht und stellenweise hart an Grenzen stößt. Murakamis gleichermaßen schlichte wie kunstvolle Sprache stellt dabei die perfekte Untermalung für die komplexe, extrem gut durchdachte Geschichte dar. Ein Werk voller Gegensätze und kreativer Einfälle!


Pro & Contra

+ einfacher, bildhafter Stil
+ komplexe, gut durchdachte Story
+ außergewöhnliche Charaktere
+ viele Verknüpfungen zu anderen Werken
+ raffinierte Wendungen
+ gelungene Übersetzung

o zu viele offene Fragen (die im dritten Buch geklärt werden könnten)

- extrem zweifelhafte Szenen

Wertung:

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


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