Und hier der Wettbewerbsbeitrag in neuem (hoffentlich besseren) Gewand. Vielen, vielen Dank noch einmal an alle Kommentatoren! (Und eine kleine Erinnerung an addi, die da noch was nach zu holen hat, nicht wahr?
) Wer sich für bereits vorhandene Kommentare interessiert sehe im Athalem-Archiev nach. Ansonsten viel Spaß beim Lesen!
Jahr 63 der ersten Epoche, irgendwo in Iqann.
Bauernopfer
Nur ihre Schritte waren zu hören, das dumpfe Knirschen von ledernen Stiefeln. Es hallte von den Wänden der Tunnel zurück und drang, ein Vielfaches zu laut, wieder an ihre Ohren. Monströse Schatten tanzten an den Wänden, vielleicht nur hervorgerufen durch die Sturmlaternen, welche die Gruppe bei sich trug. Doch wer konnte schon sagen, was sie hinter der nächsten Biegung erwarten mochte? Arkis umklammerte die Karte mit schweißnassen Händen. Ohne sie würden sie den Weg nicht mehr zurück finden. Nicht, bevor ihre Laternen verloschen und sie in ewiger Finsternis gefangen sein würden. Er schüttelte sich. Aber dazu würde es nicht kommen! Sein Traum war mit einem Mal in greifbare Nähe gerückt. Als Helden würden sie zurückkehren!
„Es kommt mir vor, als hätten wir vor Tagen das letzte Mal Sonnenlicht gesehen.“ Hauptfrau Garuda ging direkt hinter ihm, das gezogene Breitschwert in der Faust. Gelegentlich fing es die Strahlen einer der Laternen und blitzte gleißend auf. Kalter Stahl – irgendwie vertrauenserweckend. Trotzdem war etwas in Garudas Stimme, das Arkis nicht richtig einordnen konnte. Nervosität? Angst? Kurz warf er einen Blick zurück, auf das wettergegerbte Gesicht der Kriegerin. Ihre Gesichtszüge waren hart, aber ihre dunklen Augen glitten ruhelos hin und her. Sie war ein Veteran. Sie hatte die namenlosen Schrecken des Krieges durchlitten – und doch reichte das unüberschaubare Tunnelgewirr hier, die atemraubende Enge, das völlige Fehlen von Licht, um sie nervös zu machen. Menschen waren nicht geschaffen, um hier unten zu leben. Aber vielleicht, um zu sterben? Kopfschüttelnd vertrieb er den Gedanken. Oder er versuchte es zumindest, denn die Vorstellung blieb irgendwo in den Tiefen seines Unterbewusstseins kleben und drückte ihm auf den Brustkorb. Noch konnten sie umkehren. Arkis warf einen forschenden Blick auf die Karte. Wie weit mochte es noch sein?
„Magister Arkis?“
Verärgert wandte er sich um. „Was ist los?“
Einer der Soldaten hatte seine Sturmlaterne gehoben und leuchtete, über ihre Köpfe hinweg, voraus. Das Licht fiel auf Metall, das es auf abartige Weise nur widerwillig reflektierte. Metall, das sich zu gehörnten Fratzen ausformte, das wirkte, als wäre es von der Decke geflossen und in dieser Form erstarrt. Das musste das Tor sein.
Laute Rufe auf dem Hof. Magister Arkis schreckte hoch und benötigte einige Augenblicke, um sich zurechtzufinden. Dann stemmte er sich ächzend in die Höhe, während es in seinem Rücken schmerzhaft knackte. Wieder eine Nacht auf den Schriftstücken liegend verbracht, statt im Bett. Selbst der hölzerne Fußboden erschien ihm nun als himmlische Schlafstatt. Hauptsache nicht in verkrümmter Haltung am Schreibtisch. Er warf einen Blick zurück auf die Schreibfläche und begutachtete brummend das Chaos aus losen Pergamenten und in Leder eingebundenen Folianten. Eng beschrieben mit seiner krakeligen Handschrift. Die bräunliche Kerze war inmitten der Unterlagen zu einem Stummel heruntergebrannt, bevor sie erloschen war. Wieder einmal. Arkis fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er mit seinem gesamten Werk in Flammen den Tod fand.
„Heute Abend gehst du ins Bett!“
Nur ein guter Vorsatz, wie schon so oft. Er gähnte herzhaft. Doch was hatte ihn geweckt? Ein weiteres Mal tönten Rufe vom Hof her. Man rief … ihn? Verärgert schlurfte er zum Fenster. Was sollte diese Störung zu nachtschlafender Zeit? Mit einem Ruck stieß er die hölzernen Fensterläden auf und zuckte zurück. Helles Tageslicht flutete herein und stach ihm schmerzhaft in die Augen. Schon so spät? Schlagartig war er hellwach. Vor ihm, im umfriedeten Hof, warteten drei Reiter. Zwei von ihnen trugen lederne Brustpanzer unter ihren Umhängen und hielten lange Speere in ihrer Rechten. Der dritte protzte dagegen mit einem bronzenen Harnisch, der aufdringlich in der Sonne funkelte. Ebenso wie das Wappen von Iqann. Unmissverständlich.
„Ah, Magister Arkis! Ich hatte schon befürchtet, Ihr wäret Euren Forschungen zum Opfer gefallen. Man kann ja nie wissen.“ Während die beiden Wachen pflichtbewusst lachten, schwang der dunkelhaarige Anführer sich von seinem Pferd.
„Worauf wartet Ihr? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Ohne eine Antwort abzuwarten betrat er das Haus. Fluchend schlug Arkis das Fenster wieder zu und eilte die knarrende Treppe hinab. Gleichzeitig versuchte er, seine von Tinte geschwärzten Finger an seiner faltigen Robe zu säubern. Leider ohne Erfolg.
„Baron von Turkal?“ Der Angesprochene hatte seinen staubigen Reiseumhang über einen der Stühle geworfen, die um einen einfachen Tisch herum standen. Sein mit verschlungenen Gravuren verzierter Bronzeharnisch klirrte leise, als er sich auf dem Stuhl niederließ und die Beine übereinanderschlug. „Genau der bin ich.“ Die Spitzen edler Reiterstiefel begannen zu wippen. Gleichzeitig schoben sich die schmalen Augenbrauen des Barons merklich zusammen, als er den zerknautschten Aufzug des Magisters sah. „Ihr seid wohl gerade unpässlich?“
Nervös strich Arkis einige widerspenstigen Bartsträhnen zurück in Form. Er befürchtete, dass ihm sein Haar wirr vom Kopf abstand, aber dagegen ließ sich jetzt leider nichts tun. Wie hatte er nur verschlafen können?
„Nein, ganz und gar nicht! Ich war nur sehr vertieft in meine Forschungen, Ihr versteht?“
Das hätte niemals passieren dürfen! Allmählich schnürte ihm Nervosität die Kehle zu. Beruhig dich, Arkis, beruhig dich!
Von Turkal seufzte leise. „Nein, ich verstehe nicht. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich muss heute noch weiter, also machen wir es kurz.“ Der Baron beugte sich vor und fing Arkis herumirrenden Blick. Der Magister mochte um ein Jahrzehnt älter sein als sein Gegenüber und doch stand er vor ihm wie ein Schuljunge vor dem Dorfschulzen. „Wie weit seid Ihr denn voran geschritten, mit Eurer Forschung, in die Ihr ja so vertieft seid? Der Fürst möchte endlich Ergebnisse! Er ist es leid, sein Gold in ein bodenloses Fass zu stopfen. Man sagt, Meir hätte bereits Durchbrüche erzielt.“
Vermutlich hatte der Baron genauso vor seinem Fürst gestanden wie jetzt Arkis vor ihm, doch der Magister zog nur wenig Trost aus dieser Vorstellung. Er durfte nicht überflügelt werden! Dies war seine Lebensaufgabe, sein Lebenswerk, sein Traum! Aber dabei ging es weniger um Meir.
„Sagt, wart Ihr schon bei Tymian? Er -“
Wütend fuhr der Baron auf und sein zorngerötetes Gesicht verdunkelte Arkis Gesichtsfeld.
„Habt Ihr mich nicht verstanden? Ich will einen Bericht!“
Der Druck auf Arkis Kehle nahm weiter zu, weitete sich auch auf seinen Brustkorb aus. Warum war er nur auf solch bornierte Gestalten angewiesen? Weder der Baron noch der Fürst verstanden die gesamte Tragweite dessen, was Arkis tat. Für sie war das ein politisches Machtspielchen. Ein Kräftemessen mit dem Rivalen im Süden. Sie waren so blind. Für einen Atemzug hatte er das Bedürfnis, von Turkal zu erwürgen, hatte das Gefühl, in allen Einzelheiten zuschauen zu können, wie die Lippen des Barons langsam blau wurden, wie der Lebensfunken in seinen Augen erlosch. Die Vorstellung verschwand so abrupt, wie sie gekommen war und hinterließ einen chaotischen Strudel von Gedanken in seinem Kopf. Verwirrt griff Arkis sich an die Stirn, dann schüttelte er sich. Es schien, als müsste er sich wieder einmal einen Tag Ruhe gönnen, sein Geist machte auch nicht mehr alle Eskapaden mit. Ein unangenehmes Pochen hinter seiner Stirn gesellte sich nun zu seiner Beklemmung hinzu. Dieser Tag lief überhaupt nicht so, wie der Magister es gerne gehabt hätte.
Sie flohen durch die Straßenschluchten zwischen den hochaufragenden Türmen, die fast bis zur Decke der riesigen Kaverne reichten. Weniger Türme und vielmehr Felsnadeln aus einem obsidianartigen Gestein, scheinbar noch schwärzer als die Dunkelheit ringsrum, verbunden von schmalen Stegen in schwindelnder Höhe.
„Bei den Göttern, was ist das?“ Garuda war direkt neben ihm, zerrte ihn immer weiter, obwohl er nicht mehr konnte, obwohl seine Lunge sich anfühlte, als wäre sie mit glühendem Eisen gefüllt. Und obwohl nackte Angst seine Beine lähmte. „Wie viele sind wir noch?“, brachte Arkis zwischen zwei keuchenden Atemzügen hervor. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Das einzige, was er wollte, war, hier herauszukommen. Einfach nur hier herauszukommen.
Und vergessen. Irgendwo hinter ihnen ertönte wieder das unmenschliche Kreischen, fast zu hoch, um es noch zu hören. Und doch brannte es sich in sein Gedächtnis. Hätten sie nur den verdammten Tempel nicht betreten!
„Ich weiß es nicht!“, brüllte Garuda. „Ich sehe nur noch drei.“ Im Lauf strich sie sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Feucht von Blut. Blut das ihr auch die gesamte linke Gesichtshälfte hinabrann. Doch trotz allem umklammerte Arkis noch immer die versiegelte Schriftrolle aus einem seltsam warmen Leder. So fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Wieder das Kreischen, diesmal näher. Und vermischt mit einem menschlichen Schrei. Panik – und mehr als nur Schmerz.
Sie mussten hier raus, verdammt noch mal! Raus mussten sie! Raus!
„Ich habe einen Durchbruch erzielen können!“ Arkis hatte sich dem Baron gegenüber gesetzt und gestikulierte weit ausholend. Endlich befand er sich auf sicherem Terrain und gewann langsam wieder an Gelassenheit. Er stand kurz vor dem endgültigen Erfolg. Er wusste nicht mehr, wie lange er nun schon hier auf dem ehemaligen Bauernhof lebte, lebte und vor allem forschte. Aber es war fast soweit. „Mir ist bereits die Manipulation von Materie möglich und jetzt auch das Herbeirufen von Materie!“ Bald, schon bald! Sein Name würde in die Annalen eingehen. Die Geschichtsschreiber würden ihn auf immer verewigen. Und vielleicht würde er endlich zur Ruhe kommen. Von Tarkul hatte sich etwas entspannt, strich sich nachdenklich über den schwarzen Kinnbart. „Das hört sich tatsächlich nicht übel an.“
Arkis beobachtete den Baron genau. Er wirkte überrascht, positiv überrascht. Hieß das, die anderen hatten ihn enttäuscht? Er würde der Erste sein? Der Knoten in seinem Hals löste sich etwas. Vorfreude machte sich in seiner Magengegend breit. Beschwingt erhob sich der Magister. „Wollt Ihr eine Kostprobe? Ich werde Euch meine neuste Errungenschaft zeigen, wenn Ihr wollt.“
Von Tarkul nickte nur schweigend und folgte dem Magister durch eine verstärkte Eichentür, die von einem schweren Vorhängeschloss gesichert wurde. Mit fliegender Robe eilte Arkis die steinerne Treppe hinab, die in den Keller des Gutshauses führte. Sein Laboratorium. Der Baron sah sich mit erhobenen Augenbrauen um, während die beiden Männer zwischen den langen Tischen hindurch schritten, die über und über mit unterschiedlichen Gefäßen, metallenen Gegenständen in geometrischen Formen und Pergamenten bedeckt waren. Sogar eine kleine Schmiede besaß Arkis hier unten. Er hatte das Gold des Fürsten wahrhaft gut angelegt. Durch die Ritzen vernagelter Fenster, direkt unter der Decke, sickerte staubiges Licht.
Der Baron rümpfte die Nase. „Hier riecht es nach Blut.“ Der Magister hielt noch nicht einmal inne, sondern deutete nur mit einer beiläufigen Handbewegung auf die großen Käfige, die säuberlich an einer der Längswände aufgereiht waren. „Blut ist ein wichtiger Bestandteil! Es ist wie eine Linse, bündelt, aber es verstärkt auch. Und es liefert Kraft. Ihr würdet nicht für möglich halten, wie viel Kraft!“ Wie er hoffte ebenso beiläufig, warf er einen Blick auf die Tür des hölzernen Verschlags, der eine Ecke des großen Kellerraums einnahm. Sie war geschlossen. Alles in Ordnung.
„Ihr schlachtet Kaninchen dafür?“ Angewidert schüttelte der Baron sich und begann, seine Hände zu kneten, die in verzierten Reiterhandschuhen steckten. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Arkis lächelte. Von Tarkul befand sich nun in seinem Reich. Hier war er der Herr. Seine Beklemmung schwand endgültig, wich Selbstsicherheit, die sein Auftreten fester werden ließ. Keine Ahnung hatte der Baron. Nichts wusste er. Er lebte nur in seiner kleinen Welt, war kaum in der Lage, über den Tellerrand hinauszuschauen. Arkis empfand so etwas wie Mitleid. Er dagegen war ein Lernender, ein Wissender, ein Sehender!
„Sagt, wo ist eigentlich Euer Gesinde? Warum war niemand da, um mir das Tor zu öffnen?“ Die beiden Männer erreichten das Ende des großen Raumes. Anders als der obere Teil des Anwesens war er von steinernen Mauern umschlossen. Vielleicht hatte er einmal als Weinkeller gedient. Arkis winkte ab. „Bauern? Leibeigene? So nah an meinem Laboratorium? Woher kann ich wissen, dass man ihnen trauen kann? Oder dass sie nicht aus Dummheit etwas zerstören? Ich kann mich gerade noch selbst versorgen.“ Voller Stolz hob Arkis nun den schwarzen, metallisch glänzenden Pfeil von seinem Arbeitsplatz und hielt ihn dem Baron entgegen. Er schmiegte sich warm in seine Hand. Fast, als bestünde er nicht aus Eisen, sondern aus Fleisch und Blut. Für Arkis war das wie eine Geburt. Sein Kind! Es hatte ihn Wochen, ja Monate gekostet, um die Grundzüge auszuarbeiten. Ein Pfeil, nicht von Menschenhand geformt, ein Pfeil, der –
mit einem lauten Krach flog etwas gegen die Tür des Verschlags, dann ertönte ein Wimmern. Der Baron fuhr herum und sein Schwertgehänge prallte gegen einen der groben Tische.
„Was war das?“
Arkis Selbstsicherheit zerplatzte wie eine Seifenblase, ließ nur einen Knoten in seinen Eingeweiden zurück. Auch das Pochen war wieder da, jagte glühenden Schmerz zwischen seine Gedanken.
„Ein Schwein … das ist ein Schwein, das kann ich ja schlecht in einem Käfig halten.“ Sein Herz hämmerte von innen gegen seinen Brustkorb und sein Atem ging schwerer. Beruhig dich, Arkis! Er klammerte sich an einer Tischkante fest und drückte so fest zu wie er konnte.
Währenddessen näherte sich der Baron dem Verhau und streckte die Hand nach dem Riegel aus, der die Tür versperrte. Verdammt! Hätte er nur nicht verschlafen … dann hätte er ihn füttern können. Es wäre nichts passiert. Das Vieh wäre vermutlich überhaupt nicht wach gewesen. Verdammt, verdammt, verdammt!
Von Tarkul riss die Tür auf, bereit zurückzuweichen, eine Hand am Schwertgriff. Dann sog er überrascht die Luft ein. Überraschung, die schnell in Zorn umschlug. „Das ist ein Mensch! Ihr haltet einen Menschen in einem Stall?“ Zu seinen Füßen kroch ein Junge mit blondem, verfilztem Haar aus dem Verschlag. Speichel lief ihm übers Kinn und glänzte feucht im Dämmerlicht. Er sah sich mit großen Augen um, dann begann er zu glucksen. Arkis hatte das Gefühl, er lachte über ihn. Am liebsten hätte er ihn mit einem Tritt zurück in den Verschlag befördert. Das durfte einfach nicht wahr sein!
„Das ist kein Mensch, Baron, er kam schon so auf die Welt. Seine Familie hat ihn mir verkauft, er wäre gestorben, bei mir kann er zumindest leben.“
Der Baron fuhr herum, sein Kehlkopf tanzte auf und ab.
„Ach ja? Und was habt Ihr mit ihm vor? Dasselbe wie mit dem Kaninchen, ja? Ihr verwendet sein Blut?“ Er klang erschreckend kalt.
Arkis Gedanken rasten. Er hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde. Aber eigentlich müsste der Baron es doch verstehen, oder? So ignorant konnte er gar nicht sein!
„Menschliches Blut ist ungleich mächtiger! Nicht zu vergleichen mit tierischem.“ Der Magister hob seine linken Hand und der Ärmel seines Gewandes rutschte herab, entblößte den bleichen Unterarm. Einen Unterarm übersät mit schlecht verheilten Schnitten, die kreuz und quer fast jeden Zentimeter seiner Haut bedeckten.
„Aus mir selbst bekomme ich keinen Tropfen mehr heraus. Aber es ist notwendig, versteht Ihr? Wie sonst sollen wir mächtig genug werden? Wie sonst sollen wir sie aufhalten? Ich brauche das Blut! Er ist kein Mensch! Und ein Leibeigener!“
Mit aufgerissenen Augen musterte der Baron Arkis' Arm. „Ihr seid doch krank!“ Er machte einen Schritt auf den Magister zu. „Was soll das bedeuten, Ihr braucht das Blut? Er mag nur ein Leibeigener sein. Aber wie groß ist dann der Schritt zum Adligen? Wie groß ist dann der Schritt zu mir?“ Sein ausgestreckter Zeigefinger schoss vor wie ein Dolch. „Ist mein reines Blut nicht noch viel wertvoller, noch viel mächtiger als das eines Gemeinen?“
Arkis bemerkte die bläulichen Adern, die sich sanft schimmernd unter von Tarkuls Handgelenk abzeichneten.
„Die Abgeschiedenheit muss Euch wahnsinnig gemacht haben. Ihr habt ein Schreibpult? Ich muss eine Nachricht für den Fürsten verfassen.“ Der Baron eilte zum Ausgang und verschwand. Seine Schritte polterten auf der Treppe.
Arkis stand immer noch da. Mit starren Blick, den widerhakenbesetzten Pfeil noch in der Hand. Langsam, fast behutsam legte er ihn ab. In ihm pulsierte eine dunkle Leere, ihm war, als würde ihn jeder Atemzug näher zum absoluten Kollaps bringen. Es war vorbei. Alles war umsonst. Es brach einfach zusammen. Sein Leben hatte er nur auf dieses eine Ziel ausgerichtet. Sie mussten aufgehalten werden. Zu ihrer aller Wohl. Warum verstand der Baron denn nicht? Arkis' Hände begannen zu zittern. Es waren Opfer nötig, um höhere Ziele zu erreichen. Das musste doch gerade jemand wie er wissen. Langsam schwankte er auf die Treppe zu. Was sollte er nur tun? Sie waren so blind, alle so blind! Er bekam kaum noch Luft - das Zittern weitete sich auf seinen ganzen Körper aus. Es gab Schlimmeres als den Tod! Bei dem Gedanken daran wurde ihm übel. Wie in Trance stieg er nun die Treppe hinauf, mit einer Hand an der kühlen Wand abgestützt, dann folgte er dem Baron auch noch in das obere Stockwerk. Hinter sich konnte er den Jungen immer noch kichern hören. Warum war er nur so abhängig vom Geld des Fürsten? Wenn er ein eigenes Vermögen gehabt hätte …
Von Tarkul saß an Arkis' Schreipult und erhitzte gerade etwas Wachs über einer Kerzenflamme. Er hatte seinen Siegelring bereits vom Finger gezogen. Der Anblick hatte etwas Endgültiges, wie das Fallbeil des Henkers. Würde man ihm einen Prozess machen? Arkis wirbelten Bilder vor Augen, die er zu vergessen versucht hatte. Er sah Gesichter vor sich, die er nie wieder zu sehen gehofft hatte. Er musste etwas tun! Für das Wohl der Menschen … er musste seine Forschungen fortführen. Es durfte hier einfach nicht enden!
„Es ist fast hier.“ Garuda klang mit einem Mal völlig ruhig. So, als hätte sie sich mit dem Ende bereits abgefunden. „Öffnet das Tor, rasch!“ Arkis war zu Boden gesunken, im Rücken fühlte er den eiskalten Stahl des Tores. Ihm war fast, als würde es sich hinter ihm zusammen ziehen, um ihn langsam zurückzuschieben. Zurück in den Tod. „Wir haben keine Kaninchen mehr“, flüsterte er. „Wie soll ich das Tor öffnen? Meine Macht reicht bei weitem nicht aus.“ Garuda wandte sich um. Sie hatte einen kurzen Dolch aus einem ihrer Stiefel gezogen. Strähnen ihres langen rötlichen Haares hatten sich aus dem Zopf gelöst und klebten nun an ihrem Gesicht. „Magister, Ihr müsst das Tor öffnen! Ihr müsst entkommen. Ihr habt es gesehen! Soll der Tod meiner Männer umsonst gewesen sein? Soll mein Tod umsonst gewesen sein?“
Arkis fuhr zusammen. „Noch seid Ihr nicht tot!“
Die Hauptfrau schüttelte den Kopf. „Noch nicht, aber wenn Ihr das Tor nicht öffnet, dann so oder so.“ Da schoss es aus einem der Seitengänge und Arkis begann zu schreien. Denn er sah es. Er sah es! Und er sah auch die Gesichter der Männer, die ihn in den letzten Tagen begleitet hatten. Sie pressten sich im stummen Schrei von innen gegen die Außenhaut des kugelförmigen Dings, streckten ihre Hände nach draußen. Sie und noch Hunderte anderer Gesichter, alle vereint und alle verschmolzen. Und sie bewegten sich unnatürlich, von einem fremden Willen gesteuert.
„Magister!“ Gardua stürzte sich dem Ding entgegen, nur mit dem Dolch bewaffnet. Aussichtslos. Immerwieder stieß ihre Klinge in die gallertartige Masse, doch zu viele Arme packten sie, hoben sie in die Höhe. Sie begannen, mit ihr zu verschmelzen, begleitet von Garduas verzweifelten Schmerzensschreien, die von einem Übelkeit erregenden, schmatzenden Geräusch fast überdeckt wurde.
Arkis schlug mit seiner Faust so lange auf das Tor ein, bis ihm Blut über die Finger rann. Da wurde ihm klar, was er zu tun hatte. Zu spät für die Hauptfrau.
Noch immer konnte er Garudas Gesicht sehen, wenn er die Augen schloss. Wie es langsam teigig wurde, sich in die Länge zog, wie die Augen aus den Höhlen traten. Wie sie zu einem Teil dieses Dings wurde. Ohne dass er hätte etwas tun können. Er konnte sie wieder schreien hören. Ein Schreien, das kaum merklich die Tonlage änderte, höher wurde, zu einem Kreischen, das Arkis noch in seinen Träumen verfolgen würde. Wenn sie zu so etwas fähig waren, wenn sie so etwas tun konnten, wer sollte sie dann aufhalten? Sie würden wiederkommen, aber der Fürst dachte nur an seinen politischen Vorteil. Es mussten Opfer gebracht werden! Opfer für das Gemeinwohl!
Er tat das Richtige! Was bedeutete schon ein Menschenleben? Arkis ergriff einen der schweren Kerzenständer, die in der Nähe der Zimmertür auf einer kleinen Kommode standen und schwang ihn über dem Kopf. Der Baron musste etwas gehört haben, denn er wirbelte herum, seine Hand zuckte zum Schwert - nur damit der silberne Kerzenständer ihm das Gesicht zerschmettern, ihm die Arroganz aus den Augen wischen konnte. Fast genoss der Magister es, als er sah, wie der Blick des Barons brach. Mit einem leisen Gurgeln, das so gar nicht zu seinem pompösen Auftreten passen wollte, stürzte er zu Boden. Einige aufgewirbelte Pergamente folgten ihm und vollführten seinen Todestanz.
Opfer mussten erbracht werden.
Eine Weile stand Arkis nur da, die blutige Waffe noch in den Händen. Er hatte das Richtige getan. Es hatte sein müssen. Seine Augen glitten über die verkrümmte Gestalt des Barons. Sogen jedes Detail auf, ohne es wirklich zu verarbeiten. Es hatte sein müssen. Irgendwann stellte er den Kerzenständer wieder ab. Das Mordinstrument wurde wieder zum Möbelstück. Wenn die verräterischen Blutspritzer nicht gewesen wären. Arkis' Atem ging immer noch schwer. Ein rasselndes Keuchen, das fremd in seinen Ohren dröhnte. Er musste seine Arbeit fortsetzen. Der Magister warf einen flüchtigen Blick auf das Pergament, das der Baron beschrieben hatte. Arkis hatte den Siegelring, er würde einen neuen Text verfassen. Einen, der ihm weiter Gelder zusichern würde.
Nachdenklich trat Arkis nun an das Fenster. Die Sonne brannte ungerührt vom Himmel und stach ihm weiterhin unangenehm in die Augen.
Die Wachsoldaten konnte er nur als Schemen wahrnehmen, sie drückten sich in den spärlichen Schatten der Feldsteinmauern, die den Hof umschlossen. Vermutlich dösten sie. Eine seltsame Ruhe ergriff Besitz von ihm, als wäre er innerlich gefroren. Der Eispanzer legte sich über seine Empfindungen und säuberte Arkis' Gedanken den Weg. Selten hatte er so klar gesehen, so scharf gedacht. Zögernd krümmte sich ein Mundwinkel des Magisters in die Höhe. Dann setzte er mit einem großen Schritt über den Baron hinweg und kramte etwas in seinen Unterlagen, bis er mit einem Fetzen Papier ans Fenster zurückkehrte. Es wurde Zeit, sein Wissen praktisch anzuwenden. Er überflog seine Notizen und begann, mit geschlossenen Augen eine Matrix zu weben. Griff nach den rohen Kräften tief in seinem Innern. Formte sie in seinem Geist. Ein unbeschreibliches Gefühl. Ein Gefühl von Macht. Macht, die er zu einem Muster formte. Doch dann stockte er. Er war zu schwach. Verwundert blickte er auf seine Handflächen hinab. Er hatte Mühe, sich auf dieses neue Problem zu konzentrieren. Irgendetwas war nicht mit ihm in Ordnung, irgendwie konnte er keine Struktur in seine wirbelnden Gedanken bringen. Vorsichtig machte er einen Schritt vom Fenster zurück. Was tat er hier eigentlich? Sein rechter Fuß schabte über den Boden und stieß gegen den leblosen Körper des Barons. Da fand ein weiteres Puzzleteil seinen Weg an die richtige Stelle. Er ging in die Knie und tauchte seine rechte Hand in die Blutlache, die sich um den Kopf des Barons gebildet hatte. Augenblicklich spürte er die Macht. Sie prickelte seinen Arm hinauf und stieß in die Leere in seinem Inneren, die sie begierig aufnahm. Ein angenehmer Schauer schüttelte ihn, während er am Rande wahr nahm, dass das Blut eines Adligen nicht mehr Kraft brachte, als das eines Gemeinen. Wie schade für den Baron. Dann erhob er sich wieder und murmelte wenige fremdartige Worte. Sie schienen sich in der Kammer aufzubauen, waberten wie unsichtbarer Nebel um ihn herum, warteten auf Arkis' endgültigen Befehl. Schweiß rann ihm von der Stirn über die zusammengekniffenen Augen.
Dann begannen die Soldaten zu schreien. Sie brüllten sich die Seele aus dem Leib, schrieen verzweifelt um Hilfe. Entsetzen, nackte Angst.
Bis er die Fensterläden schloss.
Sehr gut, es funktionierte also. Wieder stieg er über von Tarkul. Versuchte, nicht in das Blut zu treten. Ein tragischer Umfall, aufständische Bauern, eine Räuberbande. Jedenfalls erst nachdem sie bei Magister Arkis gewesen waren. Ja, er war sicher, dass es gehen würde. Er würde unbehelligt weiterforschen können, würde die erste menschliche Schule der Magie begründen. Und er würde vorbereitet sein, wenn die Dunklen wieder kamen.
Opfer mussten eben erbracht werden.

Jahr 63 der ersten Epoche, irgendwo in Iqann.
Bauernopfer
Nur ihre Schritte waren zu hören, das dumpfe Knirschen von ledernen Stiefeln. Es hallte von den Wänden der Tunnel zurück und drang, ein Vielfaches zu laut, wieder an ihre Ohren. Monströse Schatten tanzten an den Wänden, vielleicht nur hervorgerufen durch die Sturmlaternen, welche die Gruppe bei sich trug. Doch wer konnte schon sagen, was sie hinter der nächsten Biegung erwarten mochte? Arkis umklammerte die Karte mit schweißnassen Händen. Ohne sie würden sie den Weg nicht mehr zurück finden. Nicht, bevor ihre Laternen verloschen und sie in ewiger Finsternis gefangen sein würden. Er schüttelte sich. Aber dazu würde es nicht kommen! Sein Traum war mit einem Mal in greifbare Nähe gerückt. Als Helden würden sie zurückkehren!
„Es kommt mir vor, als hätten wir vor Tagen das letzte Mal Sonnenlicht gesehen.“ Hauptfrau Garuda ging direkt hinter ihm, das gezogene Breitschwert in der Faust. Gelegentlich fing es die Strahlen einer der Laternen und blitzte gleißend auf. Kalter Stahl – irgendwie vertrauenserweckend. Trotzdem war etwas in Garudas Stimme, das Arkis nicht richtig einordnen konnte. Nervosität? Angst? Kurz warf er einen Blick zurück, auf das wettergegerbte Gesicht der Kriegerin. Ihre Gesichtszüge waren hart, aber ihre dunklen Augen glitten ruhelos hin und her. Sie war ein Veteran. Sie hatte die namenlosen Schrecken des Krieges durchlitten – und doch reichte das unüberschaubare Tunnelgewirr hier, die atemraubende Enge, das völlige Fehlen von Licht, um sie nervös zu machen. Menschen waren nicht geschaffen, um hier unten zu leben. Aber vielleicht, um zu sterben? Kopfschüttelnd vertrieb er den Gedanken. Oder er versuchte es zumindest, denn die Vorstellung blieb irgendwo in den Tiefen seines Unterbewusstseins kleben und drückte ihm auf den Brustkorb. Noch konnten sie umkehren. Arkis warf einen forschenden Blick auf die Karte. Wie weit mochte es noch sein?
„Magister Arkis?“
Verärgert wandte er sich um. „Was ist los?“
Einer der Soldaten hatte seine Sturmlaterne gehoben und leuchtete, über ihre Köpfe hinweg, voraus. Das Licht fiel auf Metall, das es auf abartige Weise nur widerwillig reflektierte. Metall, das sich zu gehörnten Fratzen ausformte, das wirkte, als wäre es von der Decke geflossen und in dieser Form erstarrt. Das musste das Tor sein.
Laute Rufe auf dem Hof. Magister Arkis schreckte hoch und benötigte einige Augenblicke, um sich zurechtzufinden. Dann stemmte er sich ächzend in die Höhe, während es in seinem Rücken schmerzhaft knackte. Wieder eine Nacht auf den Schriftstücken liegend verbracht, statt im Bett. Selbst der hölzerne Fußboden erschien ihm nun als himmlische Schlafstatt. Hauptsache nicht in verkrümmter Haltung am Schreibtisch. Er warf einen Blick zurück auf die Schreibfläche und begutachtete brummend das Chaos aus losen Pergamenten und in Leder eingebundenen Folianten. Eng beschrieben mit seiner krakeligen Handschrift. Die bräunliche Kerze war inmitten der Unterlagen zu einem Stummel heruntergebrannt, bevor sie erloschen war. Wieder einmal. Arkis fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er mit seinem gesamten Werk in Flammen den Tod fand.
„Heute Abend gehst du ins Bett!“
Nur ein guter Vorsatz, wie schon so oft. Er gähnte herzhaft. Doch was hatte ihn geweckt? Ein weiteres Mal tönten Rufe vom Hof her. Man rief … ihn? Verärgert schlurfte er zum Fenster. Was sollte diese Störung zu nachtschlafender Zeit? Mit einem Ruck stieß er die hölzernen Fensterläden auf und zuckte zurück. Helles Tageslicht flutete herein und stach ihm schmerzhaft in die Augen. Schon so spät? Schlagartig war er hellwach. Vor ihm, im umfriedeten Hof, warteten drei Reiter. Zwei von ihnen trugen lederne Brustpanzer unter ihren Umhängen und hielten lange Speere in ihrer Rechten. Der dritte protzte dagegen mit einem bronzenen Harnisch, der aufdringlich in der Sonne funkelte. Ebenso wie das Wappen von Iqann. Unmissverständlich.
„Ah, Magister Arkis! Ich hatte schon befürchtet, Ihr wäret Euren Forschungen zum Opfer gefallen. Man kann ja nie wissen.“ Während die beiden Wachen pflichtbewusst lachten, schwang der dunkelhaarige Anführer sich von seinem Pferd.
„Worauf wartet Ihr? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Ohne eine Antwort abzuwarten betrat er das Haus. Fluchend schlug Arkis das Fenster wieder zu und eilte die knarrende Treppe hinab. Gleichzeitig versuchte er, seine von Tinte geschwärzten Finger an seiner faltigen Robe zu säubern. Leider ohne Erfolg.
„Baron von Turkal?“ Der Angesprochene hatte seinen staubigen Reiseumhang über einen der Stühle geworfen, die um einen einfachen Tisch herum standen. Sein mit verschlungenen Gravuren verzierter Bronzeharnisch klirrte leise, als er sich auf dem Stuhl niederließ und die Beine übereinanderschlug. „Genau der bin ich.“ Die Spitzen edler Reiterstiefel begannen zu wippen. Gleichzeitig schoben sich die schmalen Augenbrauen des Barons merklich zusammen, als er den zerknautschten Aufzug des Magisters sah. „Ihr seid wohl gerade unpässlich?“
Nervös strich Arkis einige widerspenstigen Bartsträhnen zurück in Form. Er befürchtete, dass ihm sein Haar wirr vom Kopf abstand, aber dagegen ließ sich jetzt leider nichts tun. Wie hatte er nur verschlafen können?
„Nein, ganz und gar nicht! Ich war nur sehr vertieft in meine Forschungen, Ihr versteht?“
Das hätte niemals passieren dürfen! Allmählich schnürte ihm Nervosität die Kehle zu. Beruhig dich, Arkis, beruhig dich!
Von Turkal seufzte leise. „Nein, ich verstehe nicht. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich muss heute noch weiter, also machen wir es kurz.“ Der Baron beugte sich vor und fing Arkis herumirrenden Blick. Der Magister mochte um ein Jahrzehnt älter sein als sein Gegenüber und doch stand er vor ihm wie ein Schuljunge vor dem Dorfschulzen. „Wie weit seid Ihr denn voran geschritten, mit Eurer Forschung, in die Ihr ja so vertieft seid? Der Fürst möchte endlich Ergebnisse! Er ist es leid, sein Gold in ein bodenloses Fass zu stopfen. Man sagt, Meir hätte bereits Durchbrüche erzielt.“
Vermutlich hatte der Baron genauso vor seinem Fürst gestanden wie jetzt Arkis vor ihm, doch der Magister zog nur wenig Trost aus dieser Vorstellung. Er durfte nicht überflügelt werden! Dies war seine Lebensaufgabe, sein Lebenswerk, sein Traum! Aber dabei ging es weniger um Meir.
„Sagt, wart Ihr schon bei Tymian? Er -“
Wütend fuhr der Baron auf und sein zorngerötetes Gesicht verdunkelte Arkis Gesichtsfeld.
„Habt Ihr mich nicht verstanden? Ich will einen Bericht!“
Der Druck auf Arkis Kehle nahm weiter zu, weitete sich auch auf seinen Brustkorb aus. Warum war er nur auf solch bornierte Gestalten angewiesen? Weder der Baron noch der Fürst verstanden die gesamte Tragweite dessen, was Arkis tat. Für sie war das ein politisches Machtspielchen. Ein Kräftemessen mit dem Rivalen im Süden. Sie waren so blind. Für einen Atemzug hatte er das Bedürfnis, von Turkal zu erwürgen, hatte das Gefühl, in allen Einzelheiten zuschauen zu können, wie die Lippen des Barons langsam blau wurden, wie der Lebensfunken in seinen Augen erlosch. Die Vorstellung verschwand so abrupt, wie sie gekommen war und hinterließ einen chaotischen Strudel von Gedanken in seinem Kopf. Verwirrt griff Arkis sich an die Stirn, dann schüttelte er sich. Es schien, als müsste er sich wieder einmal einen Tag Ruhe gönnen, sein Geist machte auch nicht mehr alle Eskapaden mit. Ein unangenehmes Pochen hinter seiner Stirn gesellte sich nun zu seiner Beklemmung hinzu. Dieser Tag lief überhaupt nicht so, wie der Magister es gerne gehabt hätte.
Sie flohen durch die Straßenschluchten zwischen den hochaufragenden Türmen, die fast bis zur Decke der riesigen Kaverne reichten. Weniger Türme und vielmehr Felsnadeln aus einem obsidianartigen Gestein, scheinbar noch schwärzer als die Dunkelheit ringsrum, verbunden von schmalen Stegen in schwindelnder Höhe.
„Bei den Göttern, was ist das?“ Garuda war direkt neben ihm, zerrte ihn immer weiter, obwohl er nicht mehr konnte, obwohl seine Lunge sich anfühlte, als wäre sie mit glühendem Eisen gefüllt. Und obwohl nackte Angst seine Beine lähmte. „Wie viele sind wir noch?“, brachte Arkis zwischen zwei keuchenden Atemzügen hervor. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Das einzige, was er wollte, war, hier herauszukommen. Einfach nur hier herauszukommen.
Und vergessen. Irgendwo hinter ihnen ertönte wieder das unmenschliche Kreischen, fast zu hoch, um es noch zu hören. Und doch brannte es sich in sein Gedächtnis. Hätten sie nur den verdammten Tempel nicht betreten!
„Ich weiß es nicht!“, brüllte Garuda. „Ich sehe nur noch drei.“ Im Lauf strich sie sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Feucht von Blut. Blut das ihr auch die gesamte linke Gesichtshälfte hinabrann. Doch trotz allem umklammerte Arkis noch immer die versiegelte Schriftrolle aus einem seltsam warmen Leder. So fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Wieder das Kreischen, diesmal näher. Und vermischt mit einem menschlichen Schrei. Panik – und mehr als nur Schmerz.
Sie mussten hier raus, verdammt noch mal! Raus mussten sie! Raus!
„Ich habe einen Durchbruch erzielen können!“ Arkis hatte sich dem Baron gegenüber gesetzt und gestikulierte weit ausholend. Endlich befand er sich auf sicherem Terrain und gewann langsam wieder an Gelassenheit. Er stand kurz vor dem endgültigen Erfolg. Er wusste nicht mehr, wie lange er nun schon hier auf dem ehemaligen Bauernhof lebte, lebte und vor allem forschte. Aber es war fast soweit. „Mir ist bereits die Manipulation von Materie möglich und jetzt auch das Herbeirufen von Materie!“ Bald, schon bald! Sein Name würde in die Annalen eingehen. Die Geschichtsschreiber würden ihn auf immer verewigen. Und vielleicht würde er endlich zur Ruhe kommen. Von Tarkul hatte sich etwas entspannt, strich sich nachdenklich über den schwarzen Kinnbart. „Das hört sich tatsächlich nicht übel an.“
Arkis beobachtete den Baron genau. Er wirkte überrascht, positiv überrascht. Hieß das, die anderen hatten ihn enttäuscht? Er würde der Erste sein? Der Knoten in seinem Hals löste sich etwas. Vorfreude machte sich in seiner Magengegend breit. Beschwingt erhob sich der Magister. „Wollt Ihr eine Kostprobe? Ich werde Euch meine neuste Errungenschaft zeigen, wenn Ihr wollt.“
Von Tarkul nickte nur schweigend und folgte dem Magister durch eine verstärkte Eichentür, die von einem schweren Vorhängeschloss gesichert wurde. Mit fliegender Robe eilte Arkis die steinerne Treppe hinab, die in den Keller des Gutshauses führte. Sein Laboratorium. Der Baron sah sich mit erhobenen Augenbrauen um, während die beiden Männer zwischen den langen Tischen hindurch schritten, die über und über mit unterschiedlichen Gefäßen, metallenen Gegenständen in geometrischen Formen und Pergamenten bedeckt waren. Sogar eine kleine Schmiede besaß Arkis hier unten. Er hatte das Gold des Fürsten wahrhaft gut angelegt. Durch die Ritzen vernagelter Fenster, direkt unter der Decke, sickerte staubiges Licht.
Der Baron rümpfte die Nase. „Hier riecht es nach Blut.“ Der Magister hielt noch nicht einmal inne, sondern deutete nur mit einer beiläufigen Handbewegung auf die großen Käfige, die säuberlich an einer der Längswände aufgereiht waren. „Blut ist ein wichtiger Bestandteil! Es ist wie eine Linse, bündelt, aber es verstärkt auch. Und es liefert Kraft. Ihr würdet nicht für möglich halten, wie viel Kraft!“ Wie er hoffte ebenso beiläufig, warf er einen Blick auf die Tür des hölzernen Verschlags, der eine Ecke des großen Kellerraums einnahm. Sie war geschlossen. Alles in Ordnung.
„Ihr schlachtet Kaninchen dafür?“ Angewidert schüttelte der Baron sich und begann, seine Hände zu kneten, die in verzierten Reiterhandschuhen steckten. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Arkis lächelte. Von Tarkul befand sich nun in seinem Reich. Hier war er der Herr. Seine Beklemmung schwand endgültig, wich Selbstsicherheit, die sein Auftreten fester werden ließ. Keine Ahnung hatte der Baron. Nichts wusste er. Er lebte nur in seiner kleinen Welt, war kaum in der Lage, über den Tellerrand hinauszuschauen. Arkis empfand so etwas wie Mitleid. Er dagegen war ein Lernender, ein Wissender, ein Sehender!
„Sagt, wo ist eigentlich Euer Gesinde? Warum war niemand da, um mir das Tor zu öffnen?“ Die beiden Männer erreichten das Ende des großen Raumes. Anders als der obere Teil des Anwesens war er von steinernen Mauern umschlossen. Vielleicht hatte er einmal als Weinkeller gedient. Arkis winkte ab. „Bauern? Leibeigene? So nah an meinem Laboratorium? Woher kann ich wissen, dass man ihnen trauen kann? Oder dass sie nicht aus Dummheit etwas zerstören? Ich kann mich gerade noch selbst versorgen.“ Voller Stolz hob Arkis nun den schwarzen, metallisch glänzenden Pfeil von seinem Arbeitsplatz und hielt ihn dem Baron entgegen. Er schmiegte sich warm in seine Hand. Fast, als bestünde er nicht aus Eisen, sondern aus Fleisch und Blut. Für Arkis war das wie eine Geburt. Sein Kind! Es hatte ihn Wochen, ja Monate gekostet, um die Grundzüge auszuarbeiten. Ein Pfeil, nicht von Menschenhand geformt, ein Pfeil, der –
mit einem lauten Krach flog etwas gegen die Tür des Verschlags, dann ertönte ein Wimmern. Der Baron fuhr herum und sein Schwertgehänge prallte gegen einen der groben Tische.
„Was war das?“
Arkis Selbstsicherheit zerplatzte wie eine Seifenblase, ließ nur einen Knoten in seinen Eingeweiden zurück. Auch das Pochen war wieder da, jagte glühenden Schmerz zwischen seine Gedanken.
„Ein Schwein … das ist ein Schwein, das kann ich ja schlecht in einem Käfig halten.“ Sein Herz hämmerte von innen gegen seinen Brustkorb und sein Atem ging schwerer. Beruhig dich, Arkis! Er klammerte sich an einer Tischkante fest und drückte so fest zu wie er konnte.
Währenddessen näherte sich der Baron dem Verhau und streckte die Hand nach dem Riegel aus, der die Tür versperrte. Verdammt! Hätte er nur nicht verschlafen … dann hätte er ihn füttern können. Es wäre nichts passiert. Das Vieh wäre vermutlich überhaupt nicht wach gewesen. Verdammt, verdammt, verdammt!
Von Tarkul riss die Tür auf, bereit zurückzuweichen, eine Hand am Schwertgriff. Dann sog er überrascht die Luft ein. Überraschung, die schnell in Zorn umschlug. „Das ist ein Mensch! Ihr haltet einen Menschen in einem Stall?“ Zu seinen Füßen kroch ein Junge mit blondem, verfilztem Haar aus dem Verschlag. Speichel lief ihm übers Kinn und glänzte feucht im Dämmerlicht. Er sah sich mit großen Augen um, dann begann er zu glucksen. Arkis hatte das Gefühl, er lachte über ihn. Am liebsten hätte er ihn mit einem Tritt zurück in den Verschlag befördert. Das durfte einfach nicht wahr sein!
„Das ist kein Mensch, Baron, er kam schon so auf die Welt. Seine Familie hat ihn mir verkauft, er wäre gestorben, bei mir kann er zumindest leben.“
Der Baron fuhr herum, sein Kehlkopf tanzte auf und ab.
„Ach ja? Und was habt Ihr mit ihm vor? Dasselbe wie mit dem Kaninchen, ja? Ihr verwendet sein Blut?“ Er klang erschreckend kalt.
Arkis Gedanken rasten. Er hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde. Aber eigentlich müsste der Baron es doch verstehen, oder? So ignorant konnte er gar nicht sein!
„Menschliches Blut ist ungleich mächtiger! Nicht zu vergleichen mit tierischem.“ Der Magister hob seine linken Hand und der Ärmel seines Gewandes rutschte herab, entblößte den bleichen Unterarm. Einen Unterarm übersät mit schlecht verheilten Schnitten, die kreuz und quer fast jeden Zentimeter seiner Haut bedeckten.
„Aus mir selbst bekomme ich keinen Tropfen mehr heraus. Aber es ist notwendig, versteht Ihr? Wie sonst sollen wir mächtig genug werden? Wie sonst sollen wir sie aufhalten? Ich brauche das Blut! Er ist kein Mensch! Und ein Leibeigener!“
Mit aufgerissenen Augen musterte der Baron Arkis' Arm. „Ihr seid doch krank!“ Er machte einen Schritt auf den Magister zu. „Was soll das bedeuten, Ihr braucht das Blut? Er mag nur ein Leibeigener sein. Aber wie groß ist dann der Schritt zum Adligen? Wie groß ist dann der Schritt zu mir?“ Sein ausgestreckter Zeigefinger schoss vor wie ein Dolch. „Ist mein reines Blut nicht noch viel wertvoller, noch viel mächtiger als das eines Gemeinen?“
Arkis bemerkte die bläulichen Adern, die sich sanft schimmernd unter von Tarkuls Handgelenk abzeichneten.
„Die Abgeschiedenheit muss Euch wahnsinnig gemacht haben. Ihr habt ein Schreibpult? Ich muss eine Nachricht für den Fürsten verfassen.“ Der Baron eilte zum Ausgang und verschwand. Seine Schritte polterten auf der Treppe.
Arkis stand immer noch da. Mit starren Blick, den widerhakenbesetzten Pfeil noch in der Hand. Langsam, fast behutsam legte er ihn ab. In ihm pulsierte eine dunkle Leere, ihm war, als würde ihn jeder Atemzug näher zum absoluten Kollaps bringen. Es war vorbei. Alles war umsonst. Es brach einfach zusammen. Sein Leben hatte er nur auf dieses eine Ziel ausgerichtet. Sie mussten aufgehalten werden. Zu ihrer aller Wohl. Warum verstand der Baron denn nicht? Arkis' Hände begannen zu zittern. Es waren Opfer nötig, um höhere Ziele zu erreichen. Das musste doch gerade jemand wie er wissen. Langsam schwankte er auf die Treppe zu. Was sollte er nur tun? Sie waren so blind, alle so blind! Er bekam kaum noch Luft - das Zittern weitete sich auf seinen ganzen Körper aus. Es gab Schlimmeres als den Tod! Bei dem Gedanken daran wurde ihm übel. Wie in Trance stieg er nun die Treppe hinauf, mit einer Hand an der kühlen Wand abgestützt, dann folgte er dem Baron auch noch in das obere Stockwerk. Hinter sich konnte er den Jungen immer noch kichern hören. Warum war er nur so abhängig vom Geld des Fürsten? Wenn er ein eigenes Vermögen gehabt hätte …
Von Tarkul saß an Arkis' Schreipult und erhitzte gerade etwas Wachs über einer Kerzenflamme. Er hatte seinen Siegelring bereits vom Finger gezogen. Der Anblick hatte etwas Endgültiges, wie das Fallbeil des Henkers. Würde man ihm einen Prozess machen? Arkis wirbelten Bilder vor Augen, die er zu vergessen versucht hatte. Er sah Gesichter vor sich, die er nie wieder zu sehen gehofft hatte. Er musste etwas tun! Für das Wohl der Menschen … er musste seine Forschungen fortführen. Es durfte hier einfach nicht enden!
„Es ist fast hier.“ Garuda klang mit einem Mal völlig ruhig. So, als hätte sie sich mit dem Ende bereits abgefunden. „Öffnet das Tor, rasch!“ Arkis war zu Boden gesunken, im Rücken fühlte er den eiskalten Stahl des Tores. Ihm war fast, als würde es sich hinter ihm zusammen ziehen, um ihn langsam zurückzuschieben. Zurück in den Tod. „Wir haben keine Kaninchen mehr“, flüsterte er. „Wie soll ich das Tor öffnen? Meine Macht reicht bei weitem nicht aus.“ Garuda wandte sich um. Sie hatte einen kurzen Dolch aus einem ihrer Stiefel gezogen. Strähnen ihres langen rötlichen Haares hatten sich aus dem Zopf gelöst und klebten nun an ihrem Gesicht. „Magister, Ihr müsst das Tor öffnen! Ihr müsst entkommen. Ihr habt es gesehen! Soll der Tod meiner Männer umsonst gewesen sein? Soll mein Tod umsonst gewesen sein?“
Arkis fuhr zusammen. „Noch seid Ihr nicht tot!“
Die Hauptfrau schüttelte den Kopf. „Noch nicht, aber wenn Ihr das Tor nicht öffnet, dann so oder so.“ Da schoss es aus einem der Seitengänge und Arkis begann zu schreien. Denn er sah es. Er sah es! Und er sah auch die Gesichter der Männer, die ihn in den letzten Tagen begleitet hatten. Sie pressten sich im stummen Schrei von innen gegen die Außenhaut des kugelförmigen Dings, streckten ihre Hände nach draußen. Sie und noch Hunderte anderer Gesichter, alle vereint und alle verschmolzen. Und sie bewegten sich unnatürlich, von einem fremden Willen gesteuert.
„Magister!“ Gardua stürzte sich dem Ding entgegen, nur mit dem Dolch bewaffnet. Aussichtslos. Immerwieder stieß ihre Klinge in die gallertartige Masse, doch zu viele Arme packten sie, hoben sie in die Höhe. Sie begannen, mit ihr zu verschmelzen, begleitet von Garduas verzweifelten Schmerzensschreien, die von einem Übelkeit erregenden, schmatzenden Geräusch fast überdeckt wurde.
Arkis schlug mit seiner Faust so lange auf das Tor ein, bis ihm Blut über die Finger rann. Da wurde ihm klar, was er zu tun hatte. Zu spät für die Hauptfrau.
Noch immer konnte er Garudas Gesicht sehen, wenn er die Augen schloss. Wie es langsam teigig wurde, sich in die Länge zog, wie die Augen aus den Höhlen traten. Wie sie zu einem Teil dieses Dings wurde. Ohne dass er hätte etwas tun können. Er konnte sie wieder schreien hören. Ein Schreien, das kaum merklich die Tonlage änderte, höher wurde, zu einem Kreischen, das Arkis noch in seinen Träumen verfolgen würde. Wenn sie zu so etwas fähig waren, wenn sie so etwas tun konnten, wer sollte sie dann aufhalten? Sie würden wiederkommen, aber der Fürst dachte nur an seinen politischen Vorteil. Es mussten Opfer gebracht werden! Opfer für das Gemeinwohl!
Er tat das Richtige! Was bedeutete schon ein Menschenleben? Arkis ergriff einen der schweren Kerzenständer, die in der Nähe der Zimmertür auf einer kleinen Kommode standen und schwang ihn über dem Kopf. Der Baron musste etwas gehört haben, denn er wirbelte herum, seine Hand zuckte zum Schwert - nur damit der silberne Kerzenständer ihm das Gesicht zerschmettern, ihm die Arroganz aus den Augen wischen konnte. Fast genoss der Magister es, als er sah, wie der Blick des Barons brach. Mit einem leisen Gurgeln, das so gar nicht zu seinem pompösen Auftreten passen wollte, stürzte er zu Boden. Einige aufgewirbelte Pergamente folgten ihm und vollführten seinen Todestanz.
Opfer mussten erbracht werden.
Eine Weile stand Arkis nur da, die blutige Waffe noch in den Händen. Er hatte das Richtige getan. Es hatte sein müssen. Seine Augen glitten über die verkrümmte Gestalt des Barons. Sogen jedes Detail auf, ohne es wirklich zu verarbeiten. Es hatte sein müssen. Irgendwann stellte er den Kerzenständer wieder ab. Das Mordinstrument wurde wieder zum Möbelstück. Wenn die verräterischen Blutspritzer nicht gewesen wären. Arkis' Atem ging immer noch schwer. Ein rasselndes Keuchen, das fremd in seinen Ohren dröhnte. Er musste seine Arbeit fortsetzen. Der Magister warf einen flüchtigen Blick auf das Pergament, das der Baron beschrieben hatte. Arkis hatte den Siegelring, er würde einen neuen Text verfassen. Einen, der ihm weiter Gelder zusichern würde.
Nachdenklich trat Arkis nun an das Fenster. Die Sonne brannte ungerührt vom Himmel und stach ihm weiterhin unangenehm in die Augen.
Die Wachsoldaten konnte er nur als Schemen wahrnehmen, sie drückten sich in den spärlichen Schatten der Feldsteinmauern, die den Hof umschlossen. Vermutlich dösten sie. Eine seltsame Ruhe ergriff Besitz von ihm, als wäre er innerlich gefroren. Der Eispanzer legte sich über seine Empfindungen und säuberte Arkis' Gedanken den Weg. Selten hatte er so klar gesehen, so scharf gedacht. Zögernd krümmte sich ein Mundwinkel des Magisters in die Höhe. Dann setzte er mit einem großen Schritt über den Baron hinweg und kramte etwas in seinen Unterlagen, bis er mit einem Fetzen Papier ans Fenster zurückkehrte. Es wurde Zeit, sein Wissen praktisch anzuwenden. Er überflog seine Notizen und begann, mit geschlossenen Augen eine Matrix zu weben. Griff nach den rohen Kräften tief in seinem Innern. Formte sie in seinem Geist. Ein unbeschreibliches Gefühl. Ein Gefühl von Macht. Macht, die er zu einem Muster formte. Doch dann stockte er. Er war zu schwach. Verwundert blickte er auf seine Handflächen hinab. Er hatte Mühe, sich auf dieses neue Problem zu konzentrieren. Irgendetwas war nicht mit ihm in Ordnung, irgendwie konnte er keine Struktur in seine wirbelnden Gedanken bringen. Vorsichtig machte er einen Schritt vom Fenster zurück. Was tat er hier eigentlich? Sein rechter Fuß schabte über den Boden und stieß gegen den leblosen Körper des Barons. Da fand ein weiteres Puzzleteil seinen Weg an die richtige Stelle. Er ging in die Knie und tauchte seine rechte Hand in die Blutlache, die sich um den Kopf des Barons gebildet hatte. Augenblicklich spürte er die Macht. Sie prickelte seinen Arm hinauf und stieß in die Leere in seinem Inneren, die sie begierig aufnahm. Ein angenehmer Schauer schüttelte ihn, während er am Rande wahr nahm, dass das Blut eines Adligen nicht mehr Kraft brachte, als das eines Gemeinen. Wie schade für den Baron. Dann erhob er sich wieder und murmelte wenige fremdartige Worte. Sie schienen sich in der Kammer aufzubauen, waberten wie unsichtbarer Nebel um ihn herum, warteten auf Arkis' endgültigen Befehl. Schweiß rann ihm von der Stirn über die zusammengekniffenen Augen.
Dann begannen die Soldaten zu schreien. Sie brüllten sich die Seele aus dem Leib, schrieen verzweifelt um Hilfe. Entsetzen, nackte Angst.
Bis er die Fensterläden schloss.
Sehr gut, es funktionierte also. Wieder stieg er über von Tarkul. Versuchte, nicht in das Blut zu treten. Ein tragischer Umfall, aufständische Bauern, eine Räuberbande. Jedenfalls erst nachdem sie bei Magister Arkis gewesen waren. Ja, er war sicher, dass es gehen würde. Er würde unbehelligt weiterforschen können, würde die erste menschliche Schule der Magie begründen. Und er würde vorbereitet sein, wenn die Dunklen wieder kamen.
Opfer mussten eben erbracht werden.
Die meisten Menschen haben überdurchschnittlich viele Arme und Beine ...
Wanderer zwischen den Welten und der
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