Was lange waehrt, soll ja bekanntlich gut werden.
Ich bin da etwas zwiegespalten und harre daher interessiert euren Meinungen.
LG
Addi
Ich bin da etwas zwiegespalten und harre daher interessiert euren Meinungen.
LG
Addi
Grenzsteine
350. Jahr der ersten Epoche
Blass hing der Nebel über dem Waldboden, umfloss lautlos Wurzeln und Unterwuchs, bis es schien, als wäre die gesamte Umgebung in dampfendes Silber getaucht.
Trotz der darin ruhenden Faszination verursachte der Anblick Melchiah eine Gänsehaut, und er begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten. Er war zwar in den kargen Ebenen Gandal' hars aufgewachsen, doch sein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas Seltsames vor sich ging. Etwas, von dem man lieber abends bei einem guten Bier in der warmen Schenke zu hören bekam, als es selbst zu erleben.
Mit angespannter Miene schaute er sich um, suchte in den Schatten nach einer Begründung für das mulmige Gefühl in seiner Magengegend, das seit Einbruch der Dämmerung nicht mehr hatte weichen wollen.
Sein Kopf ruckte herum. War da nicht gerade etwas zwischen den Bäumen entlang gehuscht?
Nervös zuckte seine freie Hand zu dem kleinen Messer an seiner Hüfte. “Meister Turêl?”, rief er leise über seine Schulter, und als er keine Antwort erhielt, noch einmal drängender - Augen und Klinge dabei allerdings auf die kleine Baumgruppe geheftet, in der er glaubte, vor wenigen Sekunden etwas gesehen zu haben.
Doch weder dort noch hinter ihm rührte sich etwas, so dass ihm schließlich nichts anderes übrig blieb, als nach einem letzten hastigen Rundumblick selber in das dichte Strauchwerk zu klettern, in dem sein Meister vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war, um die dahinter befindliche Vegetation zu 'examinieren'.
Leise fluchend kämpfte er sich voran, zerkratzte sich ein ums andere Mal die schützend vor das Gesicht gehobenen Arme. Dann endlich sah er den roten Mantel Turêls zwischen den Zweigen zu seiner Linken aufblitzen, und er atmete erleichtert auf.
„Meister. Endlich!”
Der Angesprochene hob irritiert den Blick, als er ungelenk aus dem Gebüsch brach.
„Nicht so ungestüm, Junge. Hab ein bisschen mehr Respekt vor der Natur“, wies Turêl ihn sanft zurecht, bevor er sich wieder über die Pflanze beugte, die er im Licht seiner Öllampe untersucht hatte. Melchiah betrachtete die seltsam anmutende Blume in der knochigen Hand seines Meisters interessiert, glich diese doch ungemein einer leuchtenden Haarbürste.
Einen Moment lang ruhten seine Augen fasziniert auf dem unwirklichen Mantel aus rotem Licht, ehe er sich erschrocken des Grundes für seine Anwesenheit bewusst wurde.
„Meister Turêl“, wandte er sich so eindringlich wie möglich an den tief in seine Notizen versunkenen Gelehrten, „sollten wir uns nicht besser auf den Rückweg machen? Die Sonne ist bereits fast verschwunden, Nebel zieht auf und wer weiß, was nachts durch diese Wälder streift ...“ Bei den letzten Worten hob er unwillkürlich den Blick, um die herankriechende Dunkelheit zu durchforsten.
„Ach, Melchiah.“ Sein Meister seufzte mit einem nachsichtigen Lächeln auf den faltigen Lippen, ließ aber zu seiner Erleichterung die Pflanze in einem der voluminösen Schulterbeutel verschwinden. Ihr folgten die neuartigen Vergrößerungsgläser, die Turêl von einem Wanderer aus dem Norden auf dem Markt von Endrome erstanden hatte, einige Notizbücher, deren vormals leere Seiten sich in den letzten Tagen mit den Zeichnungen der merkwürdigsten Pflanzen und Tiere gefüllt hatten und eine diverse Anzahl von Wissenssammlungen anderer Naturgelehrter.
„Die Landvermesser sind auch schon vor geraumer Weile abgezogen”, versuchte Melchiah seine Ängste zu rechtfertigen, doch sein Meister beachtete ihn nicht weiter, drückte ihm nur den Beutel mit den Büchern in die Hände und schlüpfte durch die Hecke in genau die Richtung, aus der er selbst gerade gekommen war.
Melchiah beeilte sich dem roten Mantel zu folgen – zu unbehaglich wurde ihm dieser große, dunkle Wald von Augenblick zu Augenblick. Und dazu dann noch dieser beängstigende Nebel ...
Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Vielleicht hatte seine Mutter doch Recht gehabt mit all ihren Bedenken? Zu wild und unerforscht war die Halbinsel westlich des neu gegründeten Staates Kohn’kan - doch gerade das hatte ihn ja so gereizt. All die vielen unentdeckten Arten, die nur darauf warteten von ihm und seinem Meister gefunden, beschrieben und benannt zu werden, um sie anschließend der wissenschaftlichen Welt vorzustellen.
Vor lauter Aufregung hatte er nicht weiter nachgedacht, als Turêl ihn gefragt hatte, sondern nur das Abenteuer und den Ruhm gesehen. Und nun stolperte er im Nirgendwo durch das dichteste Dickicht, die schweren Bücher seines Meisters über der Schulter, während um ihn herum die silberweißen Schwaden immer höher und höher wogten. Mittlerweile konnte er kaum noch seines Meisters Mantel sehen, obwohl dieser nur wenige Meter voraus lief. Wenn das so weiter ging, dann würden sie ernste Schwierigkeiten bekommen, aus diesem unheimlichen Wald heraus zu finden.
“Meister, wartet!” Die beiden Worte, obwohl nur leise ausgestoßen, schienend so fehl am Platz, so störend wie ein betrunkener Soldat bei der Morgenmesse.
Melchiah blieb abrupt stehen. Wann war es so still geworden? Beunruhigt hob er seinen Blick, suchte in den mächtigen Kronen nach den Schatten der Vögel, dessen Gesang und Geschnatter die Gruppe aus Gelehrten den ganzen Tag über begleitet hatte.
Vergebens.
“Es ist so ruhig. Nicht einmal das Zirpen einer Zikade ist zu hören”, murmelte er, als er die Präsenz seines Meisters neben sich fühlte.
“Ja”, war alles, was dieser entgegnete. Die Stimme Turêls war dunkel vor Sorge. “Ich denke, wir sollten nicht länger als nötig hier verweilen. Halte dich dicht bei mir, Junge!”
Melchiah nickte und hastete allsbald erneut durch den Wald - das Rot des Mantels wie ein wanderndes Leuchtfeuer ständig im Auge behaltend.
Schweiß legte sich auf seine klamme Haut, das Herz hämmerte laut in seiner Brust, und er wagte kaum zu atmen. Immer mehr schien sich der Nebel um sie herum zu verdichten, sie geradezu einzukreisen.
Das liegt nur daran, weil wir uns der Landenge und damit dem Meer nähern, versuchte er sich einzureden. Sein überreizter Verstand jedoch wollte ihm menschenähnliche Formen suggerieren, Jäger, die lautlos im Nebel hin und her huschten.
Melchiah schüttelte über sich selbst den Kopf. Wo blieb sein akademisch geschulter Verstand?
Dieser Nebel war weder mysteriös noch unerklärlich, lediglich eine für diese Regionl typische Wettererscheinung. Und das Gefühl, beobachtet zu werden, war ebenso ein Produkt seiner Angst wie der schnelle Schlag seines Herzens. Wir sind so sicher allein in diesem Wald wie ein kluger Gedanke in dem Kopf eines Orks.
“Melchiah”, hörte er seinen Meister unvermittelt flüstern, so eindringlich und scharf, dass seine Hand reflexartig den Beutel fallen ließ, um die beruhigende Glätte des Messergriffs zu suchen. “Sieh!”
Der Aufforderung Turêls hätte es nicht bedurft, denn das seltsame blaue Licht, nur wenige Meter zu ihrer Rechten aufgeflackert, war unmöglich zu übersehen gewesen.
„Meister ...“, hauchte Melchiah gebannt, “was war das?”
Der Gelehrte schüttelte nur den Kopf, scheinbar ebenso ratlos, doch anders als bei seinem Novizen stand neben der Anspannung auch Wissenshunger auf den alten Zügen.
“Lasst uns einen Bogen darum machen”, bat Melchiah so leise wie möglich. Im nächsten Moment keuchte er auf, denn direkt vor Meister Turêl schoben sich die wogenden Nebelmassen zusammen, ballten sich. Ein kurzes Aufbäumen, dann stoben die silbernen Ströme auseinander - in ihrem ehemaligen Zentrum ein blaues Leuchten zurücklassend.
Sich ungläubig über die Augen fahrend versuchte Melchiah zu begreifen, was er da gerade mitangesehen hatte - noch mitansah, denn inmitten des Lichtes stand jemand!
Er schluckte, gebannt die unwirkliche Erscheinung anstarrend, die gerade so unvermittelt aus dem Nebel getreten war. Sie schien geradezu in dem Licht zu baden, und es dauerte einen Moment, bis sein Verstand erfasst hatte, dass das Leuchten nicht einer künstlichen Quelle entsprang, sondern direkt aus der Haut der Frau heraus zu sickern schien. Ebenso blau, nur ungemein intensiver, glommen auch ihre Augen, deren wacher Blick auf Turêl ruhte.
„Seid gegrüßt“, meinte dieser schließlich, als er sich gefangen hatte und überraschte Melchiah, indem er sich nach der ungewöhnlich ehrerbietig klingenden Begrüßung auch noch verbeugte. „Es ist eine lange Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal die Ehre hatte, jemandem Eurer Rasse zu begegnen, werte Elbin.“
Elbin?
Nun da sein Meister es ausgesprochen hatte, bemerkte auch Melchiah die feinen, unmenschlichen Glieder und Gesichtszüge.
Die Angst, die seinen Körper gerdezu gelähmt hatte, begann, sich zu legen. Neugierig geworden wanderte sein Blick zu den spitzen Ohren, die, ebenso wie die Zöpfe und Handgelenke der Elbin, mit filigranem Silber und darin eingewobenen kleinen Federn geschmückt waren. Dabei fiel ihm auf, dass die schwarzen Haare an beiden Seiten abrasiert worden waren; blauschwarze Wirbel zogen sich dort über die Haut, und er fragte sich, ob es damit eine besondere Bewandtnis auf sich hatte.
Vielleicht ein Symbol ihres Ranges?
Die Überlegung rutschte in den Hintergrund, da er sich unvermittelt mit der scharfen Aufmerksamkeit der Elbin konfrontiert sah. Röte kroch in seine Wangen, und er beeilte sich, den Blick zu senken, um dann seines Meisters Beispiel zu folgen.
Als er sich wieder aufrichtete, weilten die ausdrucksstarken Augen wieder bei Turêl, welcher trotz seiner Bemühungen, auf den Zehenspitzen zu stehen, nicht mal an das Kinn der Elbin heranreichte.
„Mensch“, hörte er die Hohe in diesem Moment erwidern und war verblüfft daruber, wie stolz, zurechtweisend und mild deren Stimme in nur einem Wort klingen konnte. „Dies ist Gath'ai gwedh Talath, das Land der Nebelwälder – seit Hunderten von Jahren die Heimat der Dae'Ran. Welch Belang führt Euch und Euresgleichen in unser Reich?“
„Euer Reich?“, wiederholte Turêl; Melchiah konnte deutlich sehen wie verwirrt sein Meister über das gerade Gehörte war. „Bitte verzeiht, aber uns war nicht bewusst, dass dieses Gebiet bereits bewohnt ist“, fuhr sein Meister entschuldigend fort. „Mein Name ist Turêl, und dies ist mein Lehrling Melchiah. Wir sind Teil einer Expedition aus Gandal' har, die die Grenzen dieses Landes vermessen und eine Übersicht über den Bestand einheimischer Tier- und Pflanzenarten erstellen soll.“
Die Elbin hob fragend eine ihrer fein geschwungenen Augenbrauen, was Meister Turêl dazu veranlasste, nun kurz die neuen Machtverhältnisse im Süden Athalems zu erläutern. Er war gerade dabei, über die Neugründung Kohn'kans zu berichten, da hob die Elbin ihre Hand und gebot ihm, inne zuhalten.
„Die Kriege und Belange Eures Volkes kümmern uns schon seit geraumer Zeit nicht mehr, Mensch. Waltet daher ganz nach Eurem Gutdünken – außerhalb unserer Grenzen.“
„Aber ...“, setzte Meister Turêl an, wohl um erneut auf ihren Auftrag hinzuweisen, doch ein weiteres Mal unterbrach ihn die Elbin mit einer schlichten Geste.
Ihre Stimme war sanft aber bestimmt als sie sprach. „Mensch, Euresgleichen ist hier nicht willkommen, weder heute noch in ferner Zukunft. Da Ihr Euch allerdings unserer Ansprüche nicht bewusst gewesen seid, lassen wir Euer Eindringen und Euer lebensverachtendes Verhalten ungestraft – für dieses Mal. Doch, solltet Ihr oder ein anderer Eurer Rasse erneut diese Wälder betreten, werden wir nicht untätig bleiben.“
Sie wandte leicht den Kopf zur Seite, und des Nebels wogender Leib enthüllte für einen kurzen Moment weitere Schattengestalten, die regungslos in Dunkelheit standen.
Melchiah wich erschrocken zurück, suchte die Nähe Turêls.
“Es gibt keinen Grund, uns zu drohen”, wandte sich dieser beschwichtigend an die Elbin.
Diese lächelte weich, ja nahezu nachsichtig. “Dies ist keine Drohung, Turêl. Geht nun, kehrt zurück zu Eurem Volke und überbringt ihnen meine Worte!“
Noch während sie sprach, geriet erneut Bewegung in den Nebel. Ein Pfad tat sich auf.
“Wartet!”
Melchiah, der das erneute Wirken der Naturmagie mit aufgerissenen Augen verfolgt hatte, fuhr herum, als er die Stimme seines Meisters vernahm - gerade noch rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie sich die wogenden Fluten um die Elbin legten, ihren Körper umschmiegten und schließlich zur Gänze verschluckten.
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Ein schmaler Pfad der Zerstörung wand sich durch das Gras, eine schlammstarrende Narbe im satten Grün der Ebenen, geschlagen von vierhundert im Gleichschritt stampfenden Füßen.
Das gleichmäßige dumpfe Dröhnen seiner Kameraden, das leise Geklirr ihrer Waffen und Rüstungen, vermittelte Atsuko normalerweise ein Gefühl von Geborgenheit. Das 9. Manipel war sein Zuhause, fast jeder Soldat ein Freund und manch einer sogar so nah wie ein Bruder.
Heute jedoch hatte eine seltsame Unruhe von ihm Besitz ergriffen. Eine Unruhe, die immer stärker wurde, je näher sie dem grünen Ungetüm in der Ferne kamen. Ihm war, als würde der Wald nur auf sie warten - ein schlafender Riese, dessen Geheimnisse wahrscheinlich so alt waren, wie die Kronen seines Leibes zahlreich.
Unter geheimnisvollem Wispern wiegten sich diese in der Mittagssonne, fast wie ein entferntes Winken. Eine Einladung, die ihn – wenn auch noch so harmlos scheinend – schaudern ließ.
Für seinen Geschmack viel zu schnell erreichten sie den Saum, traten sie in den Schatten der mächtigen Kronen. Dem entschwundenen Licht folgte schnell die Wärme, so dass er irgendwann fröstelnd seinen Umhang um sich schlang. Sein Waffenbruder Dumah, wie immer als schweigsamer Schatten zu seiner Rechten, schüttelte darüber nur amüsiert den Kopf.
Unter der Führung Koens kämpften sie sich durch das Unterholz, brachen Zweige mit ihren schweren Stiefeln und zerschlugen ganze Äste, wenn der Weg zu unbegehbar wurde.
Das Krachen und Bersten fuhr wie ein Orkan durch die Ruhe des Waldes, weckte den Riesen – falls dieser denn je geschlafen hatte.
Atsuko schauderte erneut. Er war einfach nicht für den Wald geschaffen. Schon gar nicht für diesen, in dem seit einiger Zeit seltsame Dinge vorgehen sollten. Nicht, dass er etwas auf die Gerüchte der Knechte und Barden gab; er bevorzugte einfach nur die freie Sicht, wollte wissen, was um ihn herum vor sich ging. Das war alles.
„Weißt du, Dumah“, wandte er sich schließlich unbehaglich an seinen Waffenbruder, „ich verstehe wirklich nicht, warum wir auf der Suche nach irgendwelchen Möchtegernabenteurern durch diesen Wald stapfen müssen, wo wir doch eigentlich im Süden sein sollten, um Köpfe zu spalten.“
Unzufrieden mit dem Auftrag, der sie in diese unheimliche Gegend geführt hatte, zertrampelte er eine Ansammlung weißer Pilze.
Dumah, ebenfalls ein Sohn der weiten Ebenen Iqann' kans, brummte zustimmend.
„Ich sage dir, wäre nicht der Sohn irgendeines Landgrafen unter der Schutzgarde gewesen, würde nicht der geringste Hahn nach der Gruppe krähen.”
„Ich habe ja gehört ...“ Raita, ein kleiner Soldat, der schon seit Anbeginn der Ausbildung in Noato immer ihre Nähe gesucht hatte, war unbemerkt zu ihnen getreten. „... dass in diesen Wäldern unheimliche Elben leben sollen. Vruah hat mir erzählt, er hätte mit einem Soldaten aus Gandal' har gesprochen, dessen Gruppe nachts einer ganzen Armee in die Arme gelaufen sein will. Angeblich glühten ihre Augen in einem düsteren Blau, ihre Fingernägel waren so lang wie der Eckzahn eines ausgewachsenen Orks und ihre Stimmen so schrill wie der Paarungsschrei eines Kressels.“
„Pft, so ein Unsinn“, murmelte Dumah und spuckte aus.
Auch Atsuko schüttelte den Kopf. „Du glaubst aber auch alles“, meinte er abfällig zu Raita. Im nächsten Moment stöhnte er auf, weil er mit der Nase gegen den dornenbewehrten Schulterharnisch Dumahs gestoßen war.
„Verdammt“, brummte er verärgert zwischen seine Finger hindurch, „was soll das?!“
Sein Waffenbruder antwortete nicht, deutete lediglich nach vorn. Und dann sah auch Atsuko, was ihn und mittlerweile auch alle anderen auf der Lichtung zum Innehalten veranlasst hatte.
“Scheiße!”
Ein paar Meter entfernt fiel einer der Soldaten auf die Knie. Würggeräusche erklangen.
Wenn es um den Anblick der Toten ging, trennte sich recht schnell der Frischling vom erfahrenen Kämpfer.
“Okay, Leute, genug gestarrt! Holt sie runter!”
Koens Befehl brachte Leben in die Soldaten. Leiche um Leiche wurde von den Bäumen geschnitten - eine dreckige und zugleich auch stinkende Angelegenheit, denn der Verwesungsprozess war bereits im vollen Gange, Maden und Gewürm bei der Arbeit.
Sie wühlten sich durch die Augenhöhlen und nisteten in den klaffenden Wunden, die sich quer über die Kehlen aller Toten zogen.
„Damit hat sich unsere Rettungsmission dann wohl erledigt“, hörte Atsuko Raita in seinem Rücken lakonisch murmeln, während sie einen der toten Gardesoldaten auf den Boden ablegten. Er wollte herumfahren, um den kleinen Wicht einmal ordentlich zusammen zu stauchen, aber der Ausdruck in Dumahs Augen hielt ihn zurück.
Sein Waffenbruder hatte Recht. Raita war die Aufregung wirklich nicht wert.
„Aber, nun ja, wenigstens ging es schn...“
Als Raita mit einem Keuchen abbrach, wandte sich Atsuko verwundert um, nur um sofort darauf erschrocken aufzuspringen.
In Silber gegossener Tod ragte aus Raitas Kehle, raubte diesem die Luft zu atmen, bis er schließlich mit einem entsetzlichen Gurgeln auf den Lippen zusammenbrach.
Atsuko verfolgte den Todeskampf wie versteinert, konnte den Bick nicht von den so entsetzlich verzerrten Zügen losreißen.
Erst Dumahs Hand an seinem Arm, heftig schüttelnd, durchbrach seine Erstarrung und der um ihn herum aufgewallte Lärm drang in sein Bewusstsein.
„Was zum ...“, stieß er hervor, ungläubig das Chaos betrachtend, zu dem die bis eben so stille Lichtung in den letzten Sekunden verkommen war.
Ungefähr die Hälfte seiner Kameraden wand sich bereits schreiend am Boden. Ihre von Pfeilen gespickten Körper zuckten im letzten Todeskampf, während der Rest versuchte, eine ordentliche Kampfformation aufzubauen.
Aber wie sich wehren gegen einen Feind, der überall und zugleich nirgends zu sein schien?
„Crèaaa!“
Der unmenschliche Schrei, geboren aus einer ebensolchen Kehle, fuhr Atsuko durch Mark und Bein, lähmte ihn erneut, und bevor er sich versah, zerstob das Blätterwerk zu seinen Füßen. Ein Regen aus Pflanzenteilen und Erdklumpen prasselte auf ihn hernieder – dahinter erneut der schrille Schrei und eine Furie mit kalt funkelnden Augen.
Wie flüssiger Bernstein, schoss es Atsuko abstruserweise durch den Kopf, während er über den Pfeilschaft hinweg dem dunklen Kalkül der Iriden begegnete. Ein letztes Lodern, dann lösten sich auch schon die Finger.
Der Pfeil, nun plötzlich seiner Fesseln befreit, schnellte surrend von der Sehne - und brach mit einem dumpfen Knacken am Holz von Dumahs Schild.
Laut gewordene Frustration erhob sich in den Himmel.
Atsuko, endlich aus seiner Erstarrung erwacht, wollte sein Schwert ziehen, es der braunhaarigen Furie, die gerade nach einem weiteren Pfeil griff, in den Leib rammen. Aber Dumahs panisch verzerrte Stimme – so noch nie vernommen – , hinderte ihn daran, zumindest letzteres Vorhaben auszuführen.
Schwert und Schild bereit fuhr er herum, um seinem Waffenbruder zu Hilfe zu eilen, der, am Boden liegend, von einer weiteren dieser Furien mit einem Dolch bedrängt wurde.
Sein Schild fuhr empor, zerschmetterte nicht nur Schulter und Oberarm der Frau, sondern schleuderte sie auch noch mehrere Meter weit durch die Luft.
Zeit für Zufriedenheit blieb jedoch nicht, denn schon zischte ein weiterer der silbernen Pfeile nur knapp an seinem rechten Ohr vorbei.
“Weg hier!” Dumah, inzwischen wieder aufgerappelt und bewaffnet, packte ihn am Arm und riss ihn mit sich.
Kurz bevor sie in das dichte Unterholz eintauchten, warf Atsuko noch einen Blick zurück und erfasste ein Bild, das sich für immer in seine Seele einbrennen sollte: Seine Brüder und Schwestern, fast alle von Pfeilen gespickt, dazwischen hochgewachsene Gestalten in Dunkelblau, die mit ihren Dolchen vollendeten, was sie mit ihren Bögen begonnen hatten, und - am deutlichsten – im Zentrum sie. Die braunhaarige Furie, die wie ein Dämon der Erde entstiegen war und ihn nun, den Bogen elegant geschultert, befremdlich gelassen nachblickte.
Ihre langen mit Federn geschmückten Zöpfe verfingen sich im Wind und tanzten Funken, dann schlug das Grün über ihm zusammen.
Wie Peitschen schlugen ihm die Zweige entgegen und machten ihn fast blind für die Wurzeln und Gräser am Boden, die sich wie absichtlich auf ihren Weg zu legen oder um ihre Beine zu schlingen versuchten.
Atsuko zählte nicht, wie oft er fiel, ebensowenig wie er den Schmerz in Gesicht, Händen und Knien fühlte. Zu groß war die Furcht vor diesen Walddämonen, zu stark der instinktive Trieb zur Flucht. Lautstark hämmernd jagte sein Herz das Blut in jeden Winkel des Körpers, versuchte, die Muskeln zur Höchstleistung zu bringen, trotzdem schien es ihm nicht schnell genug zu gehen. Zu seiner Linken sah er Brachàn zu Boden gehen. Ein dumpfes Aufstöhnen, das Bersten von Zweigen, dann war von dem ruhigen Mann aus Gandal' har nichts mehr zu sehen.
Atsuko fluchte im Stillen, fluchte auf seinen Vater, der ihn zur Armee geschickt hatte, fluchte auf Koen, seinen unfähigen Kommandanten, weil dieser die Falle nicht vorausgesehen hatte, und letztendlich fluchte er auf sich selbst und darauf, dass er nicht in der Lage gewesen war, seine Kameraden zu retten.
All dies und noch viel mehr schoss ihm durch den Kopf, während er der hoch gewachsenen Gestalt seines Waffenbruders hinterher rannte - das Ende des Waldes bereits vor Augen.
Dass der surrende Reigen der Pfeile bereits vor einer ganzen Weile verstummt war, hatte er nicht bemerkt, ebenso wenig wie den einen, dunkelrot gefiederten, der an seiner Hüfte vorbei gejagt war.
Kaum aus dem Wald heraus, begann Dumah jedoch zu taumeln. Er fiel auf die Knie, keuchte schwer und spuckte Blut. Als Atsuko ihn erreichte, war das Herz in seiner Brust bereits aus dem Takt geraten. Blut, durch die Flucht aus dem Körper getrieben, wurde knapp – und so starb Dumah wie er gelebt hatte, mit wenigen Worten und umgeben von dem Menschen, der ihm am meisten bedeutet hatte.
Atsuko Mikr'al selbst überlebte als einer von 36 Soldaten. Er vergaß nie die Ereignisse dieses Tages und träumte jede Nacht von der Walddämonin mit den Bernsteinaugen. Seine offiziellen Begehren, die Wälder der westlichen Halbinsel mit militärischer Präsenz zu überrennen, wurden jedoch von Gandal'kan und Iqann'kan abgelehnt – zu groß waren die erlittenen Verluste nach dem Krieg gegen die Südländer. Zu groß die Angst der Soldaten vor den alten Bäumen und dem ihnen innewohnenden steten Geflüster. Versuche, das Gebiet niederzubrennen, scheiterten ebenso, und so begannen die Herrscher der Provinzen schließlich, den Worten des Gelehrten Turêl glauben zu schenken. Sie zogen sich zurück, verfolgten hilflos, wie sich die Pflanzen immer dichter und dichter verwoben – zwischen den hölzernen Fingern das Schimmern der Toten bleiche Knochen.
Trotz der darin ruhenden Faszination verursachte der Anblick Melchiah eine Gänsehaut, und er begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten. Er war zwar in den kargen Ebenen Gandal' hars aufgewachsen, doch sein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas Seltsames vor sich ging. Etwas, von dem man lieber abends bei einem guten Bier in der warmen Schenke zu hören bekam, als es selbst zu erleben.
Mit angespannter Miene schaute er sich um, suchte in den Schatten nach einer Begründung für das mulmige Gefühl in seiner Magengegend, das seit Einbruch der Dämmerung nicht mehr hatte weichen wollen.
Sein Kopf ruckte herum. War da nicht gerade etwas zwischen den Bäumen entlang gehuscht?
Nervös zuckte seine freie Hand zu dem kleinen Messer an seiner Hüfte. “Meister Turêl?”, rief er leise über seine Schulter, und als er keine Antwort erhielt, noch einmal drängender - Augen und Klinge dabei allerdings auf die kleine Baumgruppe geheftet, in der er glaubte, vor wenigen Sekunden etwas gesehen zu haben.
Doch weder dort noch hinter ihm rührte sich etwas, so dass ihm schließlich nichts anderes übrig blieb, als nach einem letzten hastigen Rundumblick selber in das dichte Strauchwerk zu klettern, in dem sein Meister vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war, um die dahinter befindliche Vegetation zu 'examinieren'.
Leise fluchend kämpfte er sich voran, zerkratzte sich ein ums andere Mal die schützend vor das Gesicht gehobenen Arme. Dann endlich sah er den roten Mantel Turêls zwischen den Zweigen zu seiner Linken aufblitzen, und er atmete erleichtert auf.
„Meister. Endlich!”
Der Angesprochene hob irritiert den Blick, als er ungelenk aus dem Gebüsch brach.
„Nicht so ungestüm, Junge. Hab ein bisschen mehr Respekt vor der Natur“, wies Turêl ihn sanft zurecht, bevor er sich wieder über die Pflanze beugte, die er im Licht seiner Öllampe untersucht hatte. Melchiah betrachtete die seltsam anmutende Blume in der knochigen Hand seines Meisters interessiert, glich diese doch ungemein einer leuchtenden Haarbürste.
Einen Moment lang ruhten seine Augen fasziniert auf dem unwirklichen Mantel aus rotem Licht, ehe er sich erschrocken des Grundes für seine Anwesenheit bewusst wurde.
„Meister Turêl“, wandte er sich so eindringlich wie möglich an den tief in seine Notizen versunkenen Gelehrten, „sollten wir uns nicht besser auf den Rückweg machen? Die Sonne ist bereits fast verschwunden, Nebel zieht auf und wer weiß, was nachts durch diese Wälder streift ...“ Bei den letzten Worten hob er unwillkürlich den Blick, um die herankriechende Dunkelheit zu durchforsten.
„Ach, Melchiah.“ Sein Meister seufzte mit einem nachsichtigen Lächeln auf den faltigen Lippen, ließ aber zu seiner Erleichterung die Pflanze in einem der voluminösen Schulterbeutel verschwinden. Ihr folgten die neuartigen Vergrößerungsgläser, die Turêl von einem Wanderer aus dem Norden auf dem Markt von Endrome erstanden hatte, einige Notizbücher, deren vormals leere Seiten sich in den letzten Tagen mit den Zeichnungen der merkwürdigsten Pflanzen und Tiere gefüllt hatten und eine diverse Anzahl von Wissenssammlungen anderer Naturgelehrter.
„Die Landvermesser sind auch schon vor geraumer Weile abgezogen”, versuchte Melchiah seine Ängste zu rechtfertigen, doch sein Meister beachtete ihn nicht weiter, drückte ihm nur den Beutel mit den Büchern in die Hände und schlüpfte durch die Hecke in genau die Richtung, aus der er selbst gerade gekommen war.
Melchiah beeilte sich dem roten Mantel zu folgen – zu unbehaglich wurde ihm dieser große, dunkle Wald von Augenblick zu Augenblick. Und dazu dann noch dieser beängstigende Nebel ...
Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Vielleicht hatte seine Mutter doch Recht gehabt mit all ihren Bedenken? Zu wild und unerforscht war die Halbinsel westlich des neu gegründeten Staates Kohn’kan - doch gerade das hatte ihn ja so gereizt. All die vielen unentdeckten Arten, die nur darauf warteten von ihm und seinem Meister gefunden, beschrieben und benannt zu werden, um sie anschließend der wissenschaftlichen Welt vorzustellen.
Vor lauter Aufregung hatte er nicht weiter nachgedacht, als Turêl ihn gefragt hatte, sondern nur das Abenteuer und den Ruhm gesehen. Und nun stolperte er im Nirgendwo durch das dichteste Dickicht, die schweren Bücher seines Meisters über der Schulter, während um ihn herum die silberweißen Schwaden immer höher und höher wogten. Mittlerweile konnte er kaum noch seines Meisters Mantel sehen, obwohl dieser nur wenige Meter voraus lief. Wenn das so weiter ging, dann würden sie ernste Schwierigkeiten bekommen, aus diesem unheimlichen Wald heraus zu finden.
“Meister, wartet!” Die beiden Worte, obwohl nur leise ausgestoßen, schienend so fehl am Platz, so störend wie ein betrunkener Soldat bei der Morgenmesse.
Melchiah blieb abrupt stehen. Wann war es so still geworden? Beunruhigt hob er seinen Blick, suchte in den mächtigen Kronen nach den Schatten der Vögel, dessen Gesang und Geschnatter die Gruppe aus Gelehrten den ganzen Tag über begleitet hatte.
Vergebens.
“Es ist so ruhig. Nicht einmal das Zirpen einer Zikade ist zu hören”, murmelte er, als er die Präsenz seines Meisters neben sich fühlte.
“Ja”, war alles, was dieser entgegnete. Die Stimme Turêls war dunkel vor Sorge. “Ich denke, wir sollten nicht länger als nötig hier verweilen. Halte dich dicht bei mir, Junge!”
Melchiah nickte und hastete allsbald erneut durch den Wald - das Rot des Mantels wie ein wanderndes Leuchtfeuer ständig im Auge behaltend.
Schweiß legte sich auf seine klamme Haut, das Herz hämmerte laut in seiner Brust, und er wagte kaum zu atmen. Immer mehr schien sich der Nebel um sie herum zu verdichten, sie geradezu einzukreisen.
Das liegt nur daran, weil wir uns der Landenge und damit dem Meer nähern, versuchte er sich einzureden. Sein überreizter Verstand jedoch wollte ihm menschenähnliche Formen suggerieren, Jäger, die lautlos im Nebel hin und her huschten.
Melchiah schüttelte über sich selbst den Kopf. Wo blieb sein akademisch geschulter Verstand?
Dieser Nebel war weder mysteriös noch unerklärlich, lediglich eine für diese Regionl typische Wettererscheinung. Und das Gefühl, beobachtet zu werden, war ebenso ein Produkt seiner Angst wie der schnelle Schlag seines Herzens. Wir sind so sicher allein in diesem Wald wie ein kluger Gedanke in dem Kopf eines Orks.
“Melchiah”, hörte er seinen Meister unvermittelt flüstern, so eindringlich und scharf, dass seine Hand reflexartig den Beutel fallen ließ, um die beruhigende Glätte des Messergriffs zu suchen. “Sieh!”
Der Aufforderung Turêls hätte es nicht bedurft, denn das seltsame blaue Licht, nur wenige Meter zu ihrer Rechten aufgeflackert, war unmöglich zu übersehen gewesen.
„Meister ...“, hauchte Melchiah gebannt, “was war das?”
Der Gelehrte schüttelte nur den Kopf, scheinbar ebenso ratlos, doch anders als bei seinem Novizen stand neben der Anspannung auch Wissenshunger auf den alten Zügen.
“Lasst uns einen Bogen darum machen”, bat Melchiah so leise wie möglich. Im nächsten Moment keuchte er auf, denn direkt vor Meister Turêl schoben sich die wogenden Nebelmassen zusammen, ballten sich. Ein kurzes Aufbäumen, dann stoben die silbernen Ströme auseinander - in ihrem ehemaligen Zentrum ein blaues Leuchten zurücklassend.
Sich ungläubig über die Augen fahrend versuchte Melchiah zu begreifen, was er da gerade mitangesehen hatte - noch mitansah, denn inmitten des Lichtes stand jemand!
Er schluckte, gebannt die unwirkliche Erscheinung anstarrend, die gerade so unvermittelt aus dem Nebel getreten war. Sie schien geradezu in dem Licht zu baden, und es dauerte einen Moment, bis sein Verstand erfasst hatte, dass das Leuchten nicht einer künstlichen Quelle entsprang, sondern direkt aus der Haut der Frau heraus zu sickern schien. Ebenso blau, nur ungemein intensiver, glommen auch ihre Augen, deren wacher Blick auf Turêl ruhte.
„Seid gegrüßt“, meinte dieser schließlich, als er sich gefangen hatte und überraschte Melchiah, indem er sich nach der ungewöhnlich ehrerbietig klingenden Begrüßung auch noch verbeugte. „Es ist eine lange Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal die Ehre hatte, jemandem Eurer Rasse zu begegnen, werte Elbin.“
Elbin?
Nun da sein Meister es ausgesprochen hatte, bemerkte auch Melchiah die feinen, unmenschlichen Glieder und Gesichtszüge.
Die Angst, die seinen Körper gerdezu gelähmt hatte, begann, sich zu legen. Neugierig geworden wanderte sein Blick zu den spitzen Ohren, die, ebenso wie die Zöpfe und Handgelenke der Elbin, mit filigranem Silber und darin eingewobenen kleinen Federn geschmückt waren. Dabei fiel ihm auf, dass die schwarzen Haare an beiden Seiten abrasiert worden waren; blauschwarze Wirbel zogen sich dort über die Haut, und er fragte sich, ob es damit eine besondere Bewandtnis auf sich hatte.
Vielleicht ein Symbol ihres Ranges?
Die Überlegung rutschte in den Hintergrund, da er sich unvermittelt mit der scharfen Aufmerksamkeit der Elbin konfrontiert sah. Röte kroch in seine Wangen, und er beeilte sich, den Blick zu senken, um dann seines Meisters Beispiel zu folgen.
Als er sich wieder aufrichtete, weilten die ausdrucksstarken Augen wieder bei Turêl, welcher trotz seiner Bemühungen, auf den Zehenspitzen zu stehen, nicht mal an das Kinn der Elbin heranreichte.
„Mensch“, hörte er die Hohe in diesem Moment erwidern und war verblüfft daruber, wie stolz, zurechtweisend und mild deren Stimme in nur einem Wort klingen konnte. „Dies ist Gath'ai gwedh Talath, das Land der Nebelwälder – seit Hunderten von Jahren die Heimat der Dae'Ran. Welch Belang führt Euch und Euresgleichen in unser Reich?“
„Euer Reich?“, wiederholte Turêl; Melchiah konnte deutlich sehen wie verwirrt sein Meister über das gerade Gehörte war. „Bitte verzeiht, aber uns war nicht bewusst, dass dieses Gebiet bereits bewohnt ist“, fuhr sein Meister entschuldigend fort. „Mein Name ist Turêl, und dies ist mein Lehrling Melchiah. Wir sind Teil einer Expedition aus Gandal' har, die die Grenzen dieses Landes vermessen und eine Übersicht über den Bestand einheimischer Tier- und Pflanzenarten erstellen soll.“
Die Elbin hob fragend eine ihrer fein geschwungenen Augenbrauen, was Meister Turêl dazu veranlasste, nun kurz die neuen Machtverhältnisse im Süden Athalems zu erläutern. Er war gerade dabei, über die Neugründung Kohn'kans zu berichten, da hob die Elbin ihre Hand und gebot ihm, inne zuhalten.
„Die Kriege und Belange Eures Volkes kümmern uns schon seit geraumer Zeit nicht mehr, Mensch. Waltet daher ganz nach Eurem Gutdünken – außerhalb unserer Grenzen.“
„Aber ...“, setzte Meister Turêl an, wohl um erneut auf ihren Auftrag hinzuweisen, doch ein weiteres Mal unterbrach ihn die Elbin mit einer schlichten Geste.
Ihre Stimme war sanft aber bestimmt als sie sprach. „Mensch, Euresgleichen ist hier nicht willkommen, weder heute noch in ferner Zukunft. Da Ihr Euch allerdings unserer Ansprüche nicht bewusst gewesen seid, lassen wir Euer Eindringen und Euer lebensverachtendes Verhalten ungestraft – für dieses Mal. Doch, solltet Ihr oder ein anderer Eurer Rasse erneut diese Wälder betreten, werden wir nicht untätig bleiben.“
Sie wandte leicht den Kopf zur Seite, und des Nebels wogender Leib enthüllte für einen kurzen Moment weitere Schattengestalten, die regungslos in Dunkelheit standen.
Melchiah wich erschrocken zurück, suchte die Nähe Turêls.
“Es gibt keinen Grund, uns zu drohen”, wandte sich dieser beschwichtigend an die Elbin.
Diese lächelte weich, ja nahezu nachsichtig. “Dies ist keine Drohung, Turêl. Geht nun, kehrt zurück zu Eurem Volke und überbringt ihnen meine Worte!“
Noch während sie sprach, geriet erneut Bewegung in den Nebel. Ein Pfad tat sich auf.
“Wartet!”
Melchiah, der das erneute Wirken der Naturmagie mit aufgerissenen Augen verfolgt hatte, fuhr herum, als er die Stimme seines Meisters vernahm - gerade noch rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie sich die wogenden Fluten um die Elbin legten, ihren Körper umschmiegten und schließlich zur Gänze verschluckten.
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Ein schmaler Pfad der Zerstörung wand sich durch das Gras, eine schlammstarrende Narbe im satten Grün der Ebenen, geschlagen von vierhundert im Gleichschritt stampfenden Füßen.
Das gleichmäßige dumpfe Dröhnen seiner Kameraden, das leise Geklirr ihrer Waffen und Rüstungen, vermittelte Atsuko normalerweise ein Gefühl von Geborgenheit. Das 9. Manipel war sein Zuhause, fast jeder Soldat ein Freund und manch einer sogar so nah wie ein Bruder.
Heute jedoch hatte eine seltsame Unruhe von ihm Besitz ergriffen. Eine Unruhe, die immer stärker wurde, je näher sie dem grünen Ungetüm in der Ferne kamen. Ihm war, als würde der Wald nur auf sie warten - ein schlafender Riese, dessen Geheimnisse wahrscheinlich so alt waren, wie die Kronen seines Leibes zahlreich.
Unter geheimnisvollem Wispern wiegten sich diese in der Mittagssonne, fast wie ein entferntes Winken. Eine Einladung, die ihn – wenn auch noch so harmlos scheinend – schaudern ließ.
Für seinen Geschmack viel zu schnell erreichten sie den Saum, traten sie in den Schatten der mächtigen Kronen. Dem entschwundenen Licht folgte schnell die Wärme, so dass er irgendwann fröstelnd seinen Umhang um sich schlang. Sein Waffenbruder Dumah, wie immer als schweigsamer Schatten zu seiner Rechten, schüttelte darüber nur amüsiert den Kopf.
Unter der Führung Koens kämpften sie sich durch das Unterholz, brachen Zweige mit ihren schweren Stiefeln und zerschlugen ganze Äste, wenn der Weg zu unbegehbar wurde.
Das Krachen und Bersten fuhr wie ein Orkan durch die Ruhe des Waldes, weckte den Riesen – falls dieser denn je geschlafen hatte.
Atsuko schauderte erneut. Er war einfach nicht für den Wald geschaffen. Schon gar nicht für diesen, in dem seit einiger Zeit seltsame Dinge vorgehen sollten. Nicht, dass er etwas auf die Gerüchte der Knechte und Barden gab; er bevorzugte einfach nur die freie Sicht, wollte wissen, was um ihn herum vor sich ging. Das war alles.
„Weißt du, Dumah“, wandte er sich schließlich unbehaglich an seinen Waffenbruder, „ich verstehe wirklich nicht, warum wir auf der Suche nach irgendwelchen Möchtegernabenteurern durch diesen Wald stapfen müssen, wo wir doch eigentlich im Süden sein sollten, um Köpfe zu spalten.“
Unzufrieden mit dem Auftrag, der sie in diese unheimliche Gegend geführt hatte, zertrampelte er eine Ansammlung weißer Pilze.
Dumah, ebenfalls ein Sohn der weiten Ebenen Iqann' kans, brummte zustimmend.
„Ich sage dir, wäre nicht der Sohn irgendeines Landgrafen unter der Schutzgarde gewesen, würde nicht der geringste Hahn nach der Gruppe krähen.”
„Ich habe ja gehört ...“ Raita, ein kleiner Soldat, der schon seit Anbeginn der Ausbildung in Noato immer ihre Nähe gesucht hatte, war unbemerkt zu ihnen getreten. „... dass in diesen Wäldern unheimliche Elben leben sollen. Vruah hat mir erzählt, er hätte mit einem Soldaten aus Gandal' har gesprochen, dessen Gruppe nachts einer ganzen Armee in die Arme gelaufen sein will. Angeblich glühten ihre Augen in einem düsteren Blau, ihre Fingernägel waren so lang wie der Eckzahn eines ausgewachsenen Orks und ihre Stimmen so schrill wie der Paarungsschrei eines Kressels.“
„Pft, so ein Unsinn“, murmelte Dumah und spuckte aus.
Auch Atsuko schüttelte den Kopf. „Du glaubst aber auch alles“, meinte er abfällig zu Raita. Im nächsten Moment stöhnte er auf, weil er mit der Nase gegen den dornenbewehrten Schulterharnisch Dumahs gestoßen war.
„Verdammt“, brummte er verärgert zwischen seine Finger hindurch, „was soll das?!“
Sein Waffenbruder antwortete nicht, deutete lediglich nach vorn. Und dann sah auch Atsuko, was ihn und mittlerweile auch alle anderen auf der Lichtung zum Innehalten veranlasst hatte.
“Scheiße!”
Ein paar Meter entfernt fiel einer der Soldaten auf die Knie. Würggeräusche erklangen.
Wenn es um den Anblick der Toten ging, trennte sich recht schnell der Frischling vom erfahrenen Kämpfer.
“Okay, Leute, genug gestarrt! Holt sie runter!”
Koens Befehl brachte Leben in die Soldaten. Leiche um Leiche wurde von den Bäumen geschnitten - eine dreckige und zugleich auch stinkende Angelegenheit, denn der Verwesungsprozess war bereits im vollen Gange, Maden und Gewürm bei der Arbeit.
Sie wühlten sich durch die Augenhöhlen und nisteten in den klaffenden Wunden, die sich quer über die Kehlen aller Toten zogen.
„Damit hat sich unsere Rettungsmission dann wohl erledigt“, hörte Atsuko Raita in seinem Rücken lakonisch murmeln, während sie einen der toten Gardesoldaten auf den Boden ablegten. Er wollte herumfahren, um den kleinen Wicht einmal ordentlich zusammen zu stauchen, aber der Ausdruck in Dumahs Augen hielt ihn zurück.
Sein Waffenbruder hatte Recht. Raita war die Aufregung wirklich nicht wert.
„Aber, nun ja, wenigstens ging es schn...“
Als Raita mit einem Keuchen abbrach, wandte sich Atsuko verwundert um, nur um sofort darauf erschrocken aufzuspringen.
In Silber gegossener Tod ragte aus Raitas Kehle, raubte diesem die Luft zu atmen, bis er schließlich mit einem entsetzlichen Gurgeln auf den Lippen zusammenbrach.
Atsuko verfolgte den Todeskampf wie versteinert, konnte den Bick nicht von den so entsetzlich verzerrten Zügen losreißen.
Erst Dumahs Hand an seinem Arm, heftig schüttelnd, durchbrach seine Erstarrung und der um ihn herum aufgewallte Lärm drang in sein Bewusstsein.
„Was zum ...“, stieß er hervor, ungläubig das Chaos betrachtend, zu dem die bis eben so stille Lichtung in den letzten Sekunden verkommen war.
Ungefähr die Hälfte seiner Kameraden wand sich bereits schreiend am Boden. Ihre von Pfeilen gespickten Körper zuckten im letzten Todeskampf, während der Rest versuchte, eine ordentliche Kampfformation aufzubauen.
Aber wie sich wehren gegen einen Feind, der überall und zugleich nirgends zu sein schien?
„Crèaaa!“
Der unmenschliche Schrei, geboren aus einer ebensolchen Kehle, fuhr Atsuko durch Mark und Bein, lähmte ihn erneut, und bevor er sich versah, zerstob das Blätterwerk zu seinen Füßen. Ein Regen aus Pflanzenteilen und Erdklumpen prasselte auf ihn hernieder – dahinter erneut der schrille Schrei und eine Furie mit kalt funkelnden Augen.
Wie flüssiger Bernstein, schoss es Atsuko abstruserweise durch den Kopf, während er über den Pfeilschaft hinweg dem dunklen Kalkül der Iriden begegnete. Ein letztes Lodern, dann lösten sich auch schon die Finger.
Der Pfeil, nun plötzlich seiner Fesseln befreit, schnellte surrend von der Sehne - und brach mit einem dumpfen Knacken am Holz von Dumahs Schild.
Laut gewordene Frustration erhob sich in den Himmel.
Atsuko, endlich aus seiner Erstarrung erwacht, wollte sein Schwert ziehen, es der braunhaarigen Furie, die gerade nach einem weiteren Pfeil griff, in den Leib rammen. Aber Dumahs panisch verzerrte Stimme – so noch nie vernommen – , hinderte ihn daran, zumindest letzteres Vorhaben auszuführen.
Schwert und Schild bereit fuhr er herum, um seinem Waffenbruder zu Hilfe zu eilen, der, am Boden liegend, von einer weiteren dieser Furien mit einem Dolch bedrängt wurde.
Sein Schild fuhr empor, zerschmetterte nicht nur Schulter und Oberarm der Frau, sondern schleuderte sie auch noch mehrere Meter weit durch die Luft.
Zeit für Zufriedenheit blieb jedoch nicht, denn schon zischte ein weiterer der silbernen Pfeile nur knapp an seinem rechten Ohr vorbei.
“Weg hier!” Dumah, inzwischen wieder aufgerappelt und bewaffnet, packte ihn am Arm und riss ihn mit sich.
Kurz bevor sie in das dichte Unterholz eintauchten, warf Atsuko noch einen Blick zurück und erfasste ein Bild, das sich für immer in seine Seele einbrennen sollte: Seine Brüder und Schwestern, fast alle von Pfeilen gespickt, dazwischen hochgewachsene Gestalten in Dunkelblau, die mit ihren Dolchen vollendeten, was sie mit ihren Bögen begonnen hatten, und - am deutlichsten – im Zentrum sie. Die braunhaarige Furie, die wie ein Dämon der Erde entstiegen war und ihn nun, den Bogen elegant geschultert, befremdlich gelassen nachblickte.
Ihre langen mit Federn geschmückten Zöpfe verfingen sich im Wind und tanzten Funken, dann schlug das Grün über ihm zusammen.
Wie Peitschen schlugen ihm die Zweige entgegen und machten ihn fast blind für die Wurzeln und Gräser am Boden, die sich wie absichtlich auf ihren Weg zu legen oder um ihre Beine zu schlingen versuchten.
Atsuko zählte nicht, wie oft er fiel, ebensowenig wie er den Schmerz in Gesicht, Händen und Knien fühlte. Zu groß war die Furcht vor diesen Walddämonen, zu stark der instinktive Trieb zur Flucht. Lautstark hämmernd jagte sein Herz das Blut in jeden Winkel des Körpers, versuchte, die Muskeln zur Höchstleistung zu bringen, trotzdem schien es ihm nicht schnell genug zu gehen. Zu seiner Linken sah er Brachàn zu Boden gehen. Ein dumpfes Aufstöhnen, das Bersten von Zweigen, dann war von dem ruhigen Mann aus Gandal' har nichts mehr zu sehen.
Atsuko fluchte im Stillen, fluchte auf seinen Vater, der ihn zur Armee geschickt hatte, fluchte auf Koen, seinen unfähigen Kommandanten, weil dieser die Falle nicht vorausgesehen hatte, und letztendlich fluchte er auf sich selbst und darauf, dass er nicht in der Lage gewesen war, seine Kameraden zu retten.
All dies und noch viel mehr schoss ihm durch den Kopf, während er der hoch gewachsenen Gestalt seines Waffenbruders hinterher rannte - das Ende des Waldes bereits vor Augen.
Dass der surrende Reigen der Pfeile bereits vor einer ganzen Weile verstummt war, hatte er nicht bemerkt, ebenso wenig wie den einen, dunkelrot gefiederten, der an seiner Hüfte vorbei gejagt war.
Kaum aus dem Wald heraus, begann Dumah jedoch zu taumeln. Er fiel auf die Knie, keuchte schwer und spuckte Blut. Als Atsuko ihn erreichte, war das Herz in seiner Brust bereits aus dem Takt geraten. Blut, durch die Flucht aus dem Körper getrieben, wurde knapp – und so starb Dumah wie er gelebt hatte, mit wenigen Worten und umgeben von dem Menschen, der ihm am meisten bedeutet hatte.
Atsuko Mikr'al selbst überlebte als einer von 36 Soldaten. Er vergaß nie die Ereignisse dieses Tages und träumte jede Nacht von der Walddämonin mit den Bernsteinaugen. Seine offiziellen Begehren, die Wälder der westlichen Halbinsel mit militärischer Präsenz zu überrennen, wurden jedoch von Gandal'kan und Iqann'kan abgelehnt – zu groß waren die erlittenen Verluste nach dem Krieg gegen die Südländer. Zu groß die Angst der Soldaten vor den alten Bäumen und dem ihnen innewohnenden steten Geflüster. Versuche, das Gebiet niederzubrennen, scheiterten ebenso, und so begannen die Herrscher der Provinzen schließlich, den Worten des Gelehrten Turêl glauben zu schenken. Sie zogen sich zurück, verfolgten hilflos, wie sich die Pflanzen immer dichter und dichter verwoben – zwischen den hölzernen Fingern das Schimmern der Toten bleiche Knochen.
"I wish a car would just come and fucking hit me!"
"Want me to hail a cab?"
"No, I'm talking bus!" (The four faced liar)
Da baumelt die kleine Doktorspinne in ihrem Seidenreich und träumt von ihren Silberfäden.
![[Bild: riverdance.gif]](http://www.smileygarden.de/smilie/X-Maennchen/riverdance.gif)
"Want me to hail a cab?"
"No, I'm talking bus!" (The four faced liar)
Da baumelt die kleine Doktorspinne in ihrem Seidenreich und träumt von ihren Silberfäden.
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