Liebe Leser*innen,
von mir gibt es heute drei Geschenkempfehlungen, allerdings ohne Besprechungslinks:
Vor genau hundert Jahren ist in den USA F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby erschienen, der die Great American Novel schlechthin sein soll. Der junge und reiche Jay Gatsby verliebt sich als junger Offizier in Daisy, die ihm Hoffnungen macht und während seines Überseeaufenthalts Tom heiratet. Tom betrügt Daisy bald mit der verheirateten Myrtle. Jay will sie zurückgewinnen und ordnet diesem Ziel alles unter. Wichtigster Bestandteil seiner Bemühungen sind rauschende Partys.
Der Erzähler ist ein Nachbar Jay Gatsbys, der Yale-Absolvent Nick Carraway, Soldat im Ersten Weltkrieg, ein junger Mann, in dem zwei Welten aufeinandertreffen, sein Beruf als Wertpapierhändler sowie romantische Vorstellungen und das Bemühen, ehrlich zu sein.
In einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft werden multiple Selbst- und Ortsbestimmungen versucht oder durchgeführt, Menschen erfinden sich neu, in einem überschaubaren Soziotop entwickelt sich ein Beziehungsreigen. Vom Markt für zwischenmenschliche Beziehungen (Heiratsmarkt), von röhrenden Hirschen in den Roaring Twenties bis hin zur Frage nach der Marktfähigkeit einer ganzen Gesellschaft ist es zwar ein Weg von hundert Jahren. Aber der Roman hat viel mehr mit unserer Gegenwart, unserem Alltag zu tun, als sein Alter vermuten lässt.
In 2025 ist mit The Annotated Great Gatsby: 100th Anniversary Deluxe Edition eine spezielle Ausgabe herausgekommen, ein herrlich gestaltetes Buch mit lesenswerten Kommentaren aus der höheren Bildungsebene, reichhaltig und gutteils in Farbe bebildert. Auf diese Weise wird dem Buch beinahe Leben eingehaucht. Zudem wird es so für heutige Leser*innen erheblich verständlicher. Der Band enthält eine gute Einführung von Amor Towles, eine Chronologie von Leben und Karriere Fitzgeralds und 13 kommentierte Briefe. Der Text wurde korrigiert und in Teilen wiederhergestellt, weil er im Lauf der Zeit unter Auslassungen zu leiden hatte.
Silvia Moreno-Garcia ist eine der populärsten Autorinnen im Horrorgenre. Bisher ins Deutsche übersetzt sind ihre Romane Die Tochter des Doktor Moreau, Der mexikanische Fluch und Silberne Geister. Wer phantastische Literatur mag, die funktioniert wie ein Räderwerk, gespickt ist mit Bezügen auf Filme und Horrorgeschichten, die Kolonialismus, Rassismus und Sexismus thematisiert und all dies in einfallsreiche und gut ausgearbeitete phantastische Welten einbettet, ist mit ihren Titeln eigentlich gut bedient. Ihr vor einem halben Jahr veröffentlichter The Bewitching ist ein unterhaltsamer Genremix aus Gothic Story (dem Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart), aus Horror und Dark Academia. Die Autorin arbeitet mit drei verschiedenen Erzählperspektiven und Stimmen. Ihre Hauptfiguren sind Minerva Contreras, Alba Quiroga und Beatrice Tremblay, zeitlich Jahrzehnte voneinander getrennt lebend in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Minerva hat Geschichte der Horrorliteratur studiert, erforscht das Leben der Schriftstellerin Beatrice, deren bekanntestes Buch The Vanishing ist. Hexerei, Verzauberung und Obsessionen spielen eine Rolle in dieser schön erzählten und vielschichtigen Geschichte.
Abschließend noch ein Titel von Michael Moorcock, einem der herausragenden Phantastikautoren der letzten Jahrzehnte, der 1988 ein belletristisches Werk mit einem Hauch Phantastik veröffentlicht hat, das seit ein paar Monaten als Mutter London im Carcosa Verlag erhältlich ist.
Der Roman erzählt von einer Frau und zwei Männern in London. In der Gegenwart kommen sie in ihrer wöchentlichen Gruppentherapie in einer psychiatrischen Einrichtung zusammen, ihre Beziehung geht jedoch weit über diese Sitzungen hinaus.
Während Moorcock den drei Figuren durch Zeit und Raum in London folgt, entwickelt sich die Stadt beim Lesen aus Fragmenten, wie der Titelvorspann von Game of Thrones seine Welt in den Raum schraubt und schiebt. Es beginnt mit dem Zweiten Weltkrieg und den Nazis und endet im Thatcherismus. Darin und dazwischen wird gelebt, bewältigt, Sinn gesucht und Verstand geraubt.
Also auch wieder so etwas wie unser Alltag.
Eine schöne nähere Zukunft (Advent, Weihnachten, Jahreswechsel) wünscht
- Holger