Totengrund (Tess Gerritsen)

Verlag Limes, November 2010
Originaltitel: Ice Cold,
übersetzt von Andreas Jäger
Hardcover, 416 Seiten, € 19,99
ISBN: 978-3809025764

Genre: Thriller


Klappentext

Eigentlich wollte Dr. Maura Isles in dem Dorf namens Kingdom Come im Schneechaos Zuflucht finden. Doch es sieht aus, als hätten die Bewohner der Siedlung nur Minuten vor ihrem Eintreffen fluchtartig die Häuser verlassen: Fenster und Türen stehen offen, die Tische sind gedeckt – doch das Essen auf den Tellern ist festgefroren, kein Mensch weit und breit...

Mauras Spur verliert sich. Bis eine Unfallmeldung ihre Freundin Jane Rizzoli in Boston erreicht: Ein Wagen mit vier Insassen ist in eine Schlucht gestürzt und ausgebrannt. Unter den Toten ist eine Frau in Mauras Alter, und im Fond liegt ihr Gepäck...


Die Autorin

So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der große internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller Die Chirurgin. Tess Gerritsen lebt mit ihrer Familie in Maine.


Rezension

Einmal in ihrem Leben etwas Unerwartetes machen, etwas Verrücktes und Spontanes. Maura Isles ist hingerissen von ihrem ehemaligen Studienkollegen Doug, den sie auf einer Tagung in Wyoming wiedertrifft. Ihre Beziehung zu Daniel steckt in einem Tief, wenigstens für ein paar Stunden möchte sie alles vergessen. Da kommt ihr Dougs Einladung zu einem Skiausflug mit seiner Tochter und einem befreundeten Paar gerade recht. Ohne irgendjemand Bescheid zu sagen bricht sie mit den Vieren zu einem unvergessenen Ausflug auf. Was aber voller Hoffnung beginnt, endet in der Hölle. In der Schneehölle von Wyoming. Ein unerwarteter Schneesturm lässt sie irgendwo im Nirgendwo bruchlanden, nur eine kleine Ansiedlung von zwölf verlassenen Häusern rettet sie erst einmal. Aber irgendetwas ist hier höchst merkwürdig, die Häuser sind alle verlassen, obwohl das Essen noch auf dem Tisch steht. Als bei einem Unfall Arlo lebensgefährlich verletzt wird, muss dringend Hilfe her. Allerdings gibt es schon lange keinen Handyempfang mehr und Telefone gibt es in der Siedlung auch nicht. Höchste Eile spornt zu wahren Heldentaten an und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Währenddessen macht sich Daniel bereits Sorgen, denn es sieht Maura so gar nicht ähnlich, überhaupt nicht erreichbar zu sein.

Die Schneehölle von Wyoming, Tess Gerritsen versteht es meisterhaft, sie zu beleben. Eisig und bibbernd sitzt man voller Erwartung vor den Seiten, um mit Maura auf eine unvorstellbare Reise zu gehen, bei der sie mehr als einmal an ihre Grenzen stößt. Heulende Wölfe, verlassene Häuser, Schneeverwehungen und Geister schaffen eine unheimlich dichte Atmosphäre, in der einem die menschlichen Grenzen nur zu genau vor Augen geführt werden. Hilflosigkeit gegenüber den Elementen, versagende Technik und das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit bringen Urängste ans Tageslicht. Das ungelöste Rätsel der verschwundenen Bewohner liegt wie die blickdichte Schneedecke über den Charakteren, die Angst vor dem Unbekannten treibt sie zu Verzweiflungstaten. Voller Spannung fiebert man der Lösung entgegen, die aber noch lange auf sich warten lässt.

Die Faszination der Sekte versucht die Autorin zu erläutern, warum Menschen zu willenlosen Objekten werden, die einzig und allein einem selbsternannten Propheten ihre Habe und ihren Willen aushändigen. Das Charisma des Anführers ist enorm, bekommt er den Gehorsam nicht, wird Geld eingesetzt, um Macht zu kaufen. Anhand von Julian und Cathy, die unermüdlich gegen Windflügel kämpfen, wird deutlich, wieviele Augen vor dem Offensichtlichen geschlossen werden. Als die beiden dann endlich angehört werden, ist es schon fast zu spät und endet in einer Verzweiflungstat. Leider zieht sich diesmal insgesamt das Ende ziemlich hin, einerseits gibt es überhastete Ereignisse, die Fragezeichen aufwerfen, andererseits findet sich einfach die Lösung nicht. Dazu mal wieder ungläubige und sture Polizisten, eigenartige Anwohner, denen viel zu viel Spielraum gelassen wird, Mordfälle, die als Unfall abgetan werden und eine aufgefundene Leiche, deren Spur ins Nirwana verläuft. Das Setting im Schnee ist Tess Gerritsen großartig gelungen, ohne eine Wolldecke und dem Blick aus dem Fenster sollte man das Buch nicht lesen. Die Handlungen sind glaubhaft, auch die Wandlungen der Charaktere sind durch die Extremsituation nachvollziehbar. Lediglich das Ende zieht sich etwas hin und lässt so einige Fragen offen, die möglicherweise in einem nachfolgenden Buch geklärt werden.


Fazit

Wie schnell man sich in ausweglose Situationen, hilflos den Elementen ausgeliefert, manövrieren kann, hat Tess Gerritsen in Totengrund eindrucksvoll bewiesen. Kälte kriecht förmlich aus jeder Seite, Geheimnisse schreien nach Auflösung, in gewohnt fesselndem Stil packt die Autorin den Leser an seiner Neugier. Immer wieder werden Bröckchen hingeworfen und nach Verknüpfungen abgesucht. Das Sektenthema wird zwar ausführlich geschildert, ist aber eher nebensächlich, trotzdem laufen so einige eisige Schauer den Rücken herunter. Wie würde man wohl selber in Extremsituationen reagieren?


Pro und Contra

+ interessantes Setting
+ vielschichtige, wandelbare Charaktere
+ stimmige Atmosphäre
+ Reagieren in Extremsituationen
+ bekannte Charaktere
+ kann auch ohne die Vorgänger gelesen werden

- die Auflösung zieht sich hin
- eine Spur wird nicht aufgeklärt

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5


Literatopia-Links zu weiteren Titeln von Tess Gerritsen:

Rezension zu Totenlied

Interview mit Tess Gerritsen

Interview mit Tess Gerritsen (deutsche Übersetzung)