Christoph Marzi (19.05.2011)

Interview mit Christoph Marzi

Literatopia: Hallo Christoph! Schön, wieder einmal mit Dir plaudern zu können. Mit „Grimm“ ist bei Heyne ein wundervolles Hardcover von Dir erschienen, in dem Märchenwelten in düsterem Glanz erstrahlen. Magst Du uns ein wenig davon erzählen?

Christoph Marzi: Es geht in GRIMM um die Frage, was wohl geschehen würde, wenn das, was die Brüder Grimm und andere Märchenerzähler niedergeschrieben haben, gar keine Erfindung war, sondern die Wahrheit. Darum geht es. Vesper Gold, die das normale Leben einer etwas zickigen 17jährigen führt, wird mit der Vergangenheit ihrer Eltern konfrontiert, und natürlich mit den Märchen, die ihr Recht auf Leben zurückfordern.

Literatopia: Die Wölfe in „Grimm“ erinnern vor allem stark an Rotkäppchen – war dieses eines Deiner Lieblingsmärchen als Kind? Und welche anderen Märchen haben es Dir besonders angetan?

Christoph Marzi: Ich mag Wölfe. Ich habe mich als Kind davor gefürchtet. Die Märchen die ich besonders mag? In meiner Kindheit waren das die Klassiker: Rapunzel, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel – und all die anderen auch. Da eine Grenze zu ziehen wäre so vielen Märchen gegenüber unfair.

Literatopia: Vesper Gold ist eine Außenseiterin und dennoch oder gerade deshalb dem Leser sehr nah. Auch Leander Nachtsheim ist ein eher ungewöhnlicher Charakter, der viel Sympathie einheimst. Wie kreierst Du solche Charaktere? Benutzt Du gerne reale Vorbilder oder entspringen sie gänzlich Deiner Phantasie?

Christoph Marzi: Reale Vorbilder habe ich keine. Es kommt vor, dass ich einen Schauspieler vor Augen habe, der den Charakter gut verkörpern könnte. Wenn das so ist, dann weiß ich schnell, wie sich die Person bewegt, wie sie spricht, usw. Das Innenleben und die Motivation kommt jedoch aus … nun ja, reiner Erfindung. Irgendwann existiert der Charakter als solcher, und bevor das nicht so ist, fange ich mit dem Schreiben nicht an.

Literatopia: Du arbeitest derzeit an zwei neuen Projekten – werden diese auch mit Märchen zu tun haben? Oder wirst Du Dich vielleicht in vollkommen neue Gefilde wagen?

Christoph Marzi: Die drei neuen Projekte, die ich erwähnen kann, sind die folgenden: Im August/September erscheint ein neuer Jugendroman im Arena Verlag. HIGHGATE spielt in London, zu großen Teilen auf dem Highgate Cemetery. Es geht um Dinge, die auch in früheren Romanen schon eine Rolle gespielt haben: was ist der Tod und wie gehen die Toten damit um? Die Sichtweise, die schon in NIMMERMEHR und FABULA angeklungen ist (und zu Teilen auch in HEAVEN), wird hier weiter vertieft. Mehr verrate ich darüber noch nicht, aber ich denke, dass ich Mitte Juni sowohl Titel als auch Cover bekanntgeben darf. Nur soviel jetzt schon: ich mag diese Geschichte, wie ich FABULA, LYRA und NIMMERMEHR mag.

Dann wird es im Oktober einen Science-Thriller geben. IMAGERY wird bei Feder & Schwert erscheinen und spielt in einem Forschungsinstitut in Boston. Es geht um Vormachtkämpfe auf dem Markt für Tablet-PCs, um einen Mord und die Bedeutung eines Projektes, das die Kennung Imagery trägt. Die Geschichte ist ganz anders als meine bisherigen Romane. Die Handlung ist sehr schnell, es ist sehr interessant (viel High Tech, viel Business-Hintergrund) und sehr aktuell.

Darüber hinaus habe ich gerade den Text für ein neues Bilderbuch beendet. Die Illustrationen dazu werden wieder von Monika Parciak erstellt. Erscheinen wird das Bilderbuch im Frühjahr 2012, so ist der Plan. Und ich verrate mehr, wenn ich es darf.
Momentan habe ich das erste Kapitel von etwas völlig Neuem geschrieben. Und der Plot eines großen Romans steht ebenfalls. Doch auch dazu – mehr demnächst in meinem Blog.

Literatopia: „Die Ballade von Thorndike Crescent“ aus der Anthologie „Sad Roses“ erinnert ebenfalls an Märchen und zudem an eine Szene aus „Lyra“ – was war zuerst da: Die Kurzgeschichte oder der Roman?

Christoph Marzi: Die Kurzgeschichte war zuerst da. Bei LYRA habe ich mich dem Charakter angenähert, in dem ich Song-Texte geschrieben habe (die fast alle im Buch erschienen sind). „Thorndike Crescent“ war sozusagen ein Song, der länger wurde und sich in eine Geschichte verwandelt hat. Mir war von Anfang an klar, dass er etwas mit der Situation von Danny zu tun hat – und somit war es auch klar, dass er, in abgewandelter Form, im Roman erscheinen wird.

Literatopia: Musik spielt eine große Rolle in Deinen Büchern, besonders bei „Lyra“ machen die musikalischen Zitate viel von der Stimmung des Romans aus. Hörst Du Musik, während Du schreibst? Und wonach wählst Du aus, welche Songs zitiert werden?

Christoph Marzi: Ich schreibe niemals, ohne Musik zu hören. Welche Musik das ist, hängt von der Stimmung der Geschichte ab, die ich schreibe. Früher habe ich meistens Soundtracks gehört (Zimmer, Elfman, Gold, usw.), bei LYRA und FABULA waren es Songs (Dylan, Cash, Springsteen, usw.). Wenn Songs wichtig werden für den Charakter (seltener für die Szene), dann können sie erwähnt werden.

Literatopia: Auch „Phantasma“ ist als Phantastik-Novelle zum gleichnamigen Musical stark mit Musik verbunden. Ist es Dir schwer gefallen, in diesem Fall nach Vorlage zu schreiben? Wie viele Freiheiten hattest Du bei der Interpretation des Musicals? Und hast Du das Stück selbst live erlebt?

Christoph Marzi: Ich war am Anfang der Entwicklung stark involviert, d.h. ich habe gemeinsam mit Aino Laos acht Konzepte geschrieben. Dann kehrte ich zu den Romane zurück und Frank, Elmar und Aino haben die Handlung allein weiterentwickelt. Entstanden ist am Ende eine Mischung aus den Ideen und Vorgaben vieler. Ich kam wieder dazu, als die deutschen Texte zu den Songs geschrieben werden mussten. Anders als bei einem Roman war hier die Arbeit im Team wichtig. Bühnenbild, Inhalt einer Szene und Songtext müssen natürlich zueinander passen. Da alles parallel entwickelt wird, sind häufig Änderungen notwendig geworden. Als ich dann die Novelle zum Musical geschrieben habe, musste ich das, was die Bilder und Lieder auf der Bühne bewirken, in eine geschriebene Form bringen. Eine Novelle ist immerhin ein anderes Medium, das ganz anders funktioniert.

Literatopia: Für die Songs "Ohne Dich" und „Entzünde die Sterne“ von Aino Laos hast Du die Texte geschrieben. Wie war es für Dich, Deine Texte das erste Mal gesungen zu erleben? Und schreibst Du vielleicht auch gerne Lyrik?

Christoph Marzi: Ich habe noch für eine Reihe weiterer Songs die Texte geschrieben. „Joie de Vivre“, das Finale des ersten Aktes, „Einst war da ein Herz“. Der erste Text war derjenige zu „Mein Herz brennt“, der in der Endversion dann aber in der Version von Frank Felicetti gesungen wird. Die Songs zu hören war cool und wunderbar und faszinierend. Das Stück zu sehen, ebenso. Songtexte schreiben macht richtig Spaß. Lyrik schreibe ich, normalerweise, keine (sieht man von einigen seltsamen Gedichten ab, die online existieren oder in Anthologien)

Liteteratopia: Mit „Heaven – Die Stadt der Feen“ richtest Du Dich eher an jüngere Leser – findest Du es schwierig, das Alter der Zielgruppe im Hinterkopf zu behalten? Oder hast Du beim Schreiben gar nicht großartig darauf achten müssen?

Christoph Marzi: Nein, wenn ich schreibe, dann denke ich an die Geschichte.

Literatopia: Auch ein zweiter Titel bei Arena spricht im Titel von Feen – Deine Novelle „Tagundnachtgleiche – oder: Du glaubst doch an Feen, oder?“. Was fasziniert Dich an diesen Fantasywesen?

Christoph Marzi: Feen sind interessante mythologische Wesen, die allerdings im Zuge eines Übermaßes an romantischer Gefälligkeit an Magie eingebüßt haben. Ich mag eher die traditionelle Sichtweise – und überdies kann man immer versuchen, der Tradition etwas Neues abzugewinnen.

Literatopia: Bisher hatte die Covergestaltung Deiner Romane bei Heyne immer ein gemeinsames Element – einen riesigen Mond. „Grimm“ kommt nun gänzlich anders daher und zudem als Hardcover. Wie gefällt Dir die neue Gestaltung?

Christoph Marzi: Sehr gut. Ich war überrascht, als man mir das Cover schickte, weil es etwas völlig Neues war. Mein Vorschlag, die Taschenbuchausgaben der Emily Laing-Bücher (Lycidas, Lilith und Lumen) ebenfalls zu modernisieren, wurde leider von Heyne verworfen. Meiner Meinung ist das bedauerlich, weil man mit den Taschenbüchern auch visuell neue Wege hätte beschreiten können.

Literatopia: Den großen Mond hat jetzt quasi Thilo Corzilius geerbt, dessen Roman „Ravinia“ von einem solchen geschmückt wird. Der Autor ist zudem bekennender Marzi-Fan. Wie fühlt es sich für Dich an, von Kollegen gerne gelesen zu werden und sie zu inspirieren, wie Du selbst beispielsweise von Neil Gaiman oder Edgar Allan Poe inspiriert wurdest? Und kennst Du eigentlich den Roman von Thilo?

Christoph Marzi: „Ravinia“ hat mir wirklich sehr gut gefallen. Thilo Corzilius ist eine neue Stimme, die man hoffentlich noch sehr, sehr oft hören wird. Und zu hören, dass die eigenen Geschichten einem anderen Autor gefallen, ist ein schönes Kompliment. Kurz und gut: es hat mich wirklich gefreut, dass Thilo meine Geschichten mag.

Literatopia: Versuchst Du Dir manchmal vorzustellen, wie Leser Deine Bücher verschlingen? Wie Dein Werk zur Lektüre während einer langen Bahnfahrt wird oder junge Menschen abends vor dem Schlafen gespannt durch Deine Romane blättern? Oder sind solche Vorstellungen für Dich als Autor irgendwie surreal?

Christoph Marzi: Die Vorstellung ist schon recht surreal. Wirklich. Und gleichzeitig wunderbar.

Literatopia: Wo wird man Dich dieses Jahr live erleben können? Und hast Du Dich eigentlich längst an Lesungen und Co. gewöhnt oder ist jede Veranstaltung immer wieder ein kleines Abenteuer für Dich?

Christoph Marzi: Ich werde nächste Woche auf der Europäischen Kinder- und Jugendbuchmesse in Saarbrücken drei Lesungen haben. Es wird GRIMM geben, dann HIGHGATE, und schließlich HELENA UND DIE RATTEN IN DEN SCHATTEN. Die nächste Lesung danach wird wohl auf der Buchmesse stattfinden. Ansonsten sind keine Veranstaltungen geplant.

Literatopia: Zu guter Letzt: Wird es vielleicht irgendwann mit den uralten Metropolen weitergehen? Oder wird es tatsächlich nach „Somnia“ keine weiteren Geschichten aus diesem Universum geben?

Christoph Marzi: Ich könnte mir derzeit sehr gut vorstellen, dorthin zurückzukehren, weil ich einen Weg gefunden habe, die uralte Metropole erneut zu besuchen, ohne Altbekanntes nach gleichem Muster weiterzuspinnen. Allerdings hängt es von meinen weiteren Projekten und dem Interesse von Heyne ab, ob und wann dies geschieht. Abgeneigt bin ich aber nicht.

Literatopia: Vielen Dank für das tolle Interview, Christoph!

 

 


Autorenfotos: Copyright by Christoph Marzi

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Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.