Irma Krauß (24.07.2011)

Interview mit Irma Krauß

Literatopia: Hallo Irma, danke, dass Du Dir die Zeit nimmst, uns ein paar Fragen zu beantworten. Erzähl uns doch zu Beginn ein bisschen mehr über Dich: Wer bist Du und welche Art von Büchern schreibst Du?

Irma Krauß: Wer ich bin? Das ist schon gleich die schwerste Frage – ich verbringe mein Leben auf der Suche nach der Antwort! Eine Teilantwort mögen meine Bücher geben, es sind Bücher, die Geschichten von Menschen erzählen, die ebenfalls auf der Suche nach ihrer Identität sind, ohne dass ihnen das unbedingt bewusst wäre. Ich erzähle ganz einfach: LEBEN. Das mache ich in Romanen und Kurzgeschichten.

Literatopia: Im April erschien Dein neuer Jugendroman „Ein Versteck im Himmel“ im cbj Verlag. Im Mittelpunkt der Handlung: Jascha Rosen, der von seinem Bruder getrennt wird und als Judenjunge beinahe allein gegen alle steht. Magst Du uns vielleicht ein bisschen mehr darüber erzählen?

Irma Krauß: Wenn ich sagte, ich erzähle LEBEN, so trifft das für dieses Buch besonders zu. Konkret geht es um ÜBERLEBEN. Wir alle wissen um den Holocaust; so viel Leid und Verzweiflung und Todesnot in Einzelschicksalen – das mag und kann sich keiner vorstellen.

„Ein Versteck im Himmel“ erzählt die Geschichte eines Jungen, der tatsächlich überlebt, dank der Bereitschaft eines einfachen Mannes, eines Türmers, sein eigenes Leben zu riskieren. Wenn Völkermord zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zählt, so zählt die Tat des Türmers aber auch mit zum Besten, wozu Menschen fähig sind.

Literatopia: Der einarmige Türmer und Jascha sind ein wirklich tolles Gespann. Wie leicht oder schwer ist es Dir gelungen, eine solch geglückte Mischung zu finden? Welchen der Beiden hast Du im Verlauf der Geschichte besonders in Herz geschlossen und warum?

Irma Krauß: Meine Romane fallen durch eine geringe Anzahl von Protagonisten auf. Dafür ist aber auch jede Figur authentisch, in jeder stecke ich während des Schreibens, und zwar mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft. Meine Protagonisten handeln nicht beliebig, erzwungen oder gekünstelt, sondern genau wie es ihrer Art entspricht. Ich werde praktisch von ihnen beim Schreiben geführt, manchmal korrigiert, manchmal überrascht, manchmal enttäuscht … Das ist eines der großen Geheimnisse des Schreibens: Während die Figuren entstehen, scheinen sie schon da gewesen zu sein. Irgendwie sind sie das vielleicht auch. Und jetzt komme ich zum einarmigen Türmer. Es hat ihn nie gegeben, aber seit es ihn gibt, war er für mich schon immer da. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in einfachen Verhältnissen, ich kenne einfache Menschen. Wie sie denken, wie sie reden, wie sie handeln oder sich verweigern können. Ein solcher Mensch ist der einarmige Türmer und ich habe ihn sehr ins Herz geschlossen.

Literatopia: „Ein Versteck im Himmel“ bildet sozusagen eine gekürzte Version Deines Romans „Das Wolkenzimmer“. Warum nun eine beschnittene Neufassung? Und kannst Du uns einen kurzen Überblick über die einzelnen Unterschiede geben?

Irma Krauß: „Gekürzte Version“ ist etwas irreführend, man stellt sich Kürzungen und Streichungen vor. „Ein Versteck im Himmel“ ist etwas anderes, es ist eine radikale Halbierung des Wolkenzimmers und erzählt dennoch die komplette Geschichte des jüdischen Jungen Jascha, der am Morgen der Deportation auf einen Turm flüchtet und vom Turmwächter bis Kriegsende – das sind drei Jahre! –versteckt wird. Dieselbe Geschichte steht auch im Roman „Das Wolkenzimmer“. Nur haben wir hier zusätzlich eine zweite Geschichte: die des Mädchens Veronika. Verzweiflung treibt Veronika sechzig Jahre später auf genau diesen Turm. Sie will sich hinunterstürzen. Doch da ist ein Türmer, ein verschlossener 70-jähriger, der im rechten Augenblick zur Stelle ist, der unfreundlich und zornig ist und der Veronikas Interesse weckt. Sie kommen sich peu à peu näher, und Veronikas Kummer relativiert sich angesichts seines Schicksals.

Sie kehrt drei Wochen später verwandelt und gereift in ihren Alltag zurück. Diese Doppelgeschichte, die auf zwei Ebenen und in zwei Zeiten spielt, macht „Das Wolkenzimmer“ zu einem umfangreichen und vielschichtigen Roman. Zumal beide Ebenen und beide Zeiten dauernd präsent sind, denn sie werden abwechselnd erzählt. Man ahnt, dass der Junge von 1942 der Türmer von 2002 ist – der Leser weiß es lange vor Veronika –, doch Gewissheit erhält man erst am Ende. Die Geschichte des Jungen, herausgezogen aus dem größeren Roman, ist eine runde, in sich geschlossene Erzählung, die es mir wert war, eigens erzählt zu werden. So ist „Ein Versteck im Himmel“ entstanden.

Literatopia: Im Vorwort äußerst Du Dich über die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten unter der Führung von Adolf Hitler. Wie wichtig war es für Dich, ein solches Thema aufzugreifen? Wolltest Du schon immer darüber schreiben, oder hat sich ein solcher Wunsch nach und nach entwickelt?

Irma Krauß: Was das Hitler-Regime den Juden angetan hat, ist durch alle Geschichte hindurch unerhört. Wir, die Kinder und Enkel, tragen keine Schuld daran. Doch ist es unsere Aufgabe, gegen das Vergessen anzuschreiben und nachfolgende Generationen dafür zu sensibilisieren, dass Völkermord, wenn er im 20. Jahrhundert möglich war, möglich bleiben wird.

Literatopia: Nicht umsonst ist das Thema brisant und die Recherchen umfassend, wie man Deinen Erklärungen am Ende entnehmen kann. Stichwort Recherche: welcher Aufwand war notwendig, um Dich genügend einzulesen und Dich in Deinem Schreiben sicher genug zu fühlen?

Irma Krauß: Die Recherche war langwierig und umfassend. Streckenweise liefen Schreiben und Recherchieren parallel. Ich brauchte immer wieder Details. Die fiktive Geschichte des jüdischen Jungen musste wie ein Puzzleteil in die historische Wahrheit passen. Ein Einzelschicksal, das möglich gewesen wäre. Ich habe viel gelesen, darunter die Tagebücher von Viktor Klemperer, meine wertvollste Lektüre. Ich erhielt Informationen vom „Haus der Wannseekonferenz“ in Berlin, hatte die Unterstützung des Türmers von heute und des Stadtarchivs der kleinen Stadt, in der die Geschichte spielt, und es gab natürlich das Internet.

Literatopia: Ob Vorlesebücher, Geschichten für Kinder ab sechs Jahren bis hin zum Jugendbuch – als Frau vom Fach und studierte Pädagogin verstehst Du Dich auf Unterhaltung für unterschiedliche Altersgruppen. Was zeichnet einen erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautor Deiner Meinung nach aus? Welche Qualitäten sind mitzubringen?

Irma Krauß: Man muss nur die Kinder und Jugendlichen fragen, dann bekommt man eine klare Antwort: Spannend und lustig sollen die Geschichten sein. Meine sind allerdings nicht immer lustig … Spannend müssen sie aber schon sein, sie sollen den Leser erreichen, fesseln und nicht mehr loslassen. Für mich ist außer einer guten Story noch wichtig, dass sie auf literarischem Niveau erzählt wird. Ich selbst lese ja auch keine Bücher, die meinem literarischen Anspruch nicht genügen.

Literatopia: Wie emotional dürfen Kinder- und Jugendbücher eigentlich sein? Gibt es für Dich Grenzen, die Du einhalten möchtest, um besonders junge Leser nicht zu überfordern? Oder gar persönliche Regeln, die Du befolgst, um verschiedenen Altersgruppen gerecht zu werden?

Irma Krauß: Kinder und Jugendliche haben genauso Emotionen wie Erwachsene und erwarten solche auch in der erzählenden Literatur. Nun ist es eine Stilfrage, ob man als Autorin die Gefühle der Buchfiguren benennt oder erraten lässt. Ich sage sehr selten, wie sich jemand fühlt, aber der Leser weiß es trotzdem. Denn im Reden und Schweigen, im Tun oder Nicht-Tun verraten die Buchhelden ihre Gefühle. In einer gut erzählten Geschichte geschieht es beim Lesen ganz von selbst, dass man mit den Buchhelden mitleidet und sich mitfreut. Mindestens eine Figur im Buch sollte außerdem eine so genannte Identifikationsfigur sein, die es dem Leser leicht macht mitzufühlen, eine Figur, die man am Ende des Buches ungern verlässt (darauf bauen übrigens Serien auf).

Zur Frage nach den „Grenzen“ der dargestellten oder hervorgerufenen Emotionen: Da junge Leute in aller Regel bereits durch eine Hölle von Emotionen gegangen sind, wüsste ich nicht, warum man sie ihnen in Büchern vorenthalten sollte. Die Grenze zieht man durch die Art und Weise der Darstellung. Zum Beispiel wird in einem meiner Bücher eine 14-jährige vergewaltigt, wir erleben ihre Gefühle und die Szene ist im Detail dargestellt, ohne dass jemand Anstoß nehmen könnte. Konkrete Regeln braucht man als Autorin nicht, aber Fingerspitzengefühl.

Literatopia: Bereits über 25 Kinderbücher und 30 Jugendromane hast Du verfasst und seit 1991 verschiedene Preise gewonnen. Inwieweit hat sich Dein Schreiben im Lauf der Zeit verändert?

Irma Krauß: Ich denke, man entwickelt sich weiter, entsprechend verändert sich auch das Schreiben mit den Jahren: der Stil, die Themen. Selbstkritik wächst, Stilsicherheit nimmt zu. Doch eins geht nicht: Ich habe einmal versucht, mein erstes Buch auf meinen heutigen Schreibstil zu trimmen – völlig unmöglich! Damit hätte ich das Buch zerstört. Es muss genau so bleiben, wie ich es damals geschrieben hatte.

Literatopia: Du bekennst Dich dazu selbst gern und ausgiebig zu lesen. Verrätst Du uns welches (Jugend-)Buch Dich in den letzten Monaten besonders beeindruckt hat und warum? Und welche Genres sind Deine besonderen Favoriten?

Irma Krauß: Ich ziehe eigentlich kein Genre einem anderen vor. Ein Buch muss mich thematisch zum Lesen verlocken und dann halten, was es versprochen hat. Fantasy lese ich eher selten (ich kenne hauptsächlich „Lord of the Rings“ von Tolkien, „Harry Potter“ von Rowling und „His Dark Materials“ von Pullman) . Fantasy-Bücher gibt es inzwischen wie Sand am Meer, ich versuche nicht mehr, einen Überblick zu behalten oder herauszufinden, was mich zum Lesen verführen könnte.

Welches Jugendbuch mich in letzter Zeit besonders beeindruckte? „Tschick“ von Herrndorf.

Literatopia: Hast oder hattest Du jemals literarische Vorbilder? Wenn ja, welche Autoren oder Lyriker bewunderst Du besonders? Würdest Du sagen, sie haben Dich und Dein Schreiben maßgeblich geprägt?

Irma Krauß: Keine Vorbilder, keine spezielle Prägung. Aber ich habe eine Ecke in meinem Bücherschrank, in der ich Perlen sammle, darunter sind Werke wie „Tschick“, „Der rote Nepomuk“, „Tanz auf dünnem Eis“, „Animal Farm“, „The Old Man and the Sea“ und einige weitere.

Literatopia: Im Mai erschien unsere zweite Ausgabe des „Phantast“, einem Literaturmagazin für phantastisch orientierte Leser. Was denkst Du über solche PDF-Publikationen? Liest Du selbst auch das ein oder andere Literaturmagazin und wenn ja, verrätst Du uns welches?

Irma Krauß: Kann ich nichts dazu sagen. Ich muss gestehen, dass ich mit meiner Zeit knausere, ich will ja schreiben. Wenn ich mir also zwischendurch Lektüre gönne, dann ist es ein Roman. Dabei sind Literaturzeitschriften etwas Wunderbares, und bestimmt versäume ich bereichernde Beiträge.

Literatopia: Neben Schreiben und Lesen gehst Du gern wandern, pflegst Beziehungen und hörst sowie sprichst Mundarten. Welcher Dialekt gefällt Dir den am besten und was gäbe es denn sonst noch über eine Irma hinter den Kulissen zu erzählen? Hast Du (literarische) Leichen im Keller?

Irma Krauß: Keine Leichen im Keller … Zur Mundart: Mir gefällt JEDER Dialekt, wenn er von einem Menschen gesprochen wird, der damit aufgewachsen ist und für den dieser Dialekt die natürliche Sprache ist. Daran habe ich dann Vergnügen. Genauso wie ich Sprachen im allgemeinen liebe und mich immer wieder mal mit einer Fremdsprache beschäftige.

Literatopia: Du dichtest scheinbar auch gern. Regelmäßig und immer wieder gerne, oder gehören lyrische Auswüchse schon länger der Vergangenheit an? Welchen Dingen widmest Du Dich besonders gern?

Irma Krauß: Ja, ich schreibe sehr gern Gedichte. Wenn mir versehentlich abends noch eines einfällt, verfliegt jede Müdigkeit und ich brauche die ganze Nacht keinen Schlaf. Am Morgen ist das Gedicht dann fertig, vielleicht auch noch ein zweites oder drittes. Das kann zur Sucht werden, da muss ich aufpassen und mich mit Gewalt anderweitig beschäftigen, bis der „Anfall“ vorüber ist. Veröffentlicht habe ich bisher „Babygedichte“, die eigentlich „Junge-Mama-Gedichte“ sind, und in einigen Anthologien findet man auch Gedichte von mir. Hier zum Spaß ein Vierzeiler:

Ein Lesezeichen träumte
dass es den Schluss versäumte
schrak auf mit einem Fluch
war schon im nächsten Buch

Literatopia: Ordnungsmensch oder Chaostiger? Welches von beiden trifft auf Dich zu und wie weit hat Dich diese Eigenschaft beim Schreiben behindert oder unterstützt?

Irma Krauß: Je mehr man schreibt und veröffentlicht, desto größer wird das Chaos im Arbeitszimmer, scheint mir. Denn viele Dinge sind in der Schwebe, noch nicht abgeschlossen, werden überarbeitet, kommentiert, neu hervorgeholt, gekürzt usw. – man kann sie sozusagen nicht „wegräumen“. Wohin also damit? Ganz klar: Sie bleiben auf dem Schreibtisch liegen. Bis die Berge so angewachsen sind, dass man fast mehr Zeit mit Suchen verbringt als mit Schreiben. Da kann ich ja gleich etwas ziemlich Peinliches gestehen: Ich habe gestern 25 € ausgegeben für einen Fernkurs per E-Mail „Wie kriege ich das Chaos auf meinem Schreibtisch in den Griff?“ Solche Maßnahmen ergreift man aus Verzweiflung. Der Leser mag daraus ableiten, dass mich eine chaotisches Umgebung sehr beim Schreiben behindert.

Literatopia: Wo und wann schreibst Du? Brauchst Du ein gewisses Umfeld, um in Stimmung zu kommen, oder könnte um Dich herum die Welt im Chaos versinken, während Du tief konzentriert die Tasten zum Glühen bringst?

Irma Krauß: Ich brauche die Stille und Abgeschiedenheit meines Arbeitszimmers, einen leeren Bildschirm, eine Tasse Kaffee, reichlich Frischluft und eine Decke, in die ich mich hüllen kann, und vor allem eins: üppig Zeit. Unter solchen Bedingungen kann sich der leere Bildschirm allmählich füllen.

Literatopia: An welchem Projekt arbeitest Du derzeit und was dürfen wir in naher und auch ferner Zukunft von Dir erwarten? Möchtest Du irgendwann wieder einmal für Erwachsene schreiben? Oder bleibst Du Deinem jüngeren und jugendlichen Publikum treu?

Irma Krauß: Man kann ja das eine tun, ohne das andere zu lassen. Ich mache gerade eine Stoffsammlung für ein Erwachsenenbuch. Bin noch nicht weit gekommen, kann also sein, dass ich wieder abspringe. Ich schreibe gerade etwas halbherzig, weil ich als leidenschaftliche Gipfelssammlerin endlich mal wieder auf einen Berg will. Die Bergsaison ist so kurz … Und ein bisschen Freizeit braucht der Mensch.

Literatopia: Herzlichen Dank für das schöne Interview, Irma!

Irma Krauß: Herzlichen Dank für‘s Interesse und die gründliche Auseinandersetzung mit meinem neuen Buch!



Dieses Interview wurde von Angelika Mandryk für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.