Primus-Verlag
großformatiges Hardcover, Jubiläumsausgabe
302 Seiten, durchgehend Farbabbildungen, 24, 90 EUR
ISBN: 978-3-89678-748-4
Genre: Sachbuch
Klappentext
„Wer wird, nachdem er diese Bilder gesehen und diese Texte gelesen hat,
noch leugnen wollen, dass das Mittelalter außerordentlich kreativ,
strahlend und farbenprächtig war?“ – Jaques Le Goff
Rezension
Das Mittelalter, jene ferne, rätselhafte, phantasieanregende Periode
zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Neuzeit, hat schon viele
Beinamen gehabt. Häufig sind sie negativ besetzt, vor allem der wohl
bekannteste, das „finstere“ Mittelalter. Er ist so weit verbreitet, dass
er sich zu einem geflügelten Wort entwickelt hat, einem Synonym für
alles Rückständige. „Wir sind doch nicht mehr im finsteren Mittelalter!“
Nach einem Abend mit Dalaruns Buch bereut man das.
Denn das Mittelalter, das er und die beteiligten Wissenschaftler uns
präsentieren, ist alles andere als finster und rückständig. Es strahlt
schon vom farbenfrohen Einband des Hardcovers und entfaltet seine ganze
Pracht dann immer noch stärker, Seite für Seite, Druck um Druck. Aber es
geht dem Herausgeber nicht allein um Optisches. In drei großen Kapiteln
wird der Leser kundig, sachlich und immer gut lesbar eingeführt in die
Geisteswelt des Mittelalters, in die Grundlagen unserer heutigen Kultur
und Wissenschaft. Die herrlichen Abbildungen aus Stundenbüchern,
Psaltern, Bibeln und anderen Quellen sind dabei mehr als bloßer
Augenschmaus; sie veranschaulichen die Texte wunderbar passend und sind
selbst noch einmal von kurzen Erklärungen begleitet.
Das Kapitel „Die Schöpfung“, mit Einzelbeiträgen von Dalché, Pastoureau
und Lett, das den Text nach einem ausführlichen Vorwort eröffnet,
zeichnet ein für heutige Leser gut fassbares Bild von Kosmos, Zeit und
Raum in ihrer Beziehung zum Menschen, wie es sich dem mittelalterlichen
Geist darstellte.Wir finden Beispiele für die Berechnung der
Tierkreiszeichen, für Sonnenstunden und Mondphasen; für geographische
Karten, Darstellungen der Planetenläufe, „Sphärenschichten“. Vieles, was
fremd erscheint auf den ersten Blick, rückt durch die Texte näher und
näher heran. Auch heute längst überwundene Vorstellungen, wie diejenige
von der Erde als Mittelpunkt des Universums, werden nicht nur
nachvollziehbar, sondern vor allem erkennbar als notwendige Grundlagen
unserer heutigen Weltsicht.
In „Der Mensch und sein Schicksal“ (Mane, Boucheron und Russo) wendet
das Buch sich dann dem mittelalterlichen „Mittelpunkt des Mittelpunkts“
zu, dem Menschen selbst und seinem vielfältigen Tun. Der Leser schaut
Böttchern und Bauern über die Schulter, schlendert durch einen
mittelalterlichen Garten, besucht Apotheker und Kaufleute. Aber das Buch
weist auch auf die Bilder hin, die das Mittelalter selbst nie oder nur
sehr selten zeigt: den Familienalltag nicht nur mit arbeitenden
Erwachsenen, sondern mit Alten, Kindern und vor allem Frauen, deren
Arbeit im Haushalt – oft ja nicht weniger aufreibend als das Beackern
der Felder – in aller Regel nicht dargestellt wird. Dann löst sich der
Text aus der Sphäre der arbeitenden Bevölkerung, verfolgt die Beziehung
zwischen Macht und Büchern und führt ein in das mittelalterliche
Verständnis der Herrschaft mit all ihren Abstufungen und Verwicklungen.
Den Abschluss dieses Teils bilden die Wissenschaften des Mittelalters,
bei denen vor allem ihre enge, über lange Zeit untrennbare, Verbindung
mit Religion und Kirche nachgezeichnet wird. So erklärt sich die für uns
heute eigenartig anmutende,so intensive und oft wutschnaubende
Beschäftigung der kirchlichen Oberen mit wissenschaftlichen
Erkenntnissen in dieser Zeit. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass
Vertiefung, Entwicklung und vor allem auch Vermittlung der
Wissenschaften vor allem im Raum der Kirche betrieben und gefördert
wurden.
Das letzte Kapitel, „Vom Himmel hoch“ (Heck, Boespflug), befasst sich
mit den Illustrationen des Zentrums der mittelalterlichen
Vorstellungswelt: mit dem Gott des Christentums, den Lehren der Bibel;
mit den Bildern, die die Menschen sich von Engeln und Teufeln, vom
Himmel und von der Verdammnis machten. Das allmähliche Auftauchen des
Mysteriums der Dreifaltigkeit in den Darstellungen des 12. Jahrhunderts –
von heutigen Christen als so grundlegend und selbstverständlich
betrachtet – macht dabei besonders deutlich, dass vieles von dem, was
heute als immer da gewesene, urzeitliche und unverrückbare Wahrheit
erscheint, eine lange Entwicklung hinter sich hat. Diese Entwicklungen
nahmen nicht im Mittelalter ihren Anfang, aber das Mittelalter wirkte in
vielerlei Hinsicht prägend auf sie ein; und sie dauern heute noch an.
Im Anhang erfährt der Leser zusätzlich noch sehr Wissenswertes zu mittelalterlichen Büchern allgemein.
Das Buch eignet sich wunderbar für verschiedene Zwecke: als coffeetable
book zum immer neuen Herumstöbern und –blättern, aber auch genauso als
wissenschaftliches und trotzdem allgemein verständliches Nachschlagewerk
zu mittelalterlichen Vorstellungen und Begriffen, wobei hier allerdings
ein Schlagwortverzeichnis nützlich gewesen wäre. Vor allem ist es für
all jene, die sich mit dem Mittelalter befassen, auf welche Weise und
mit welchem Interesse auch immer, eine sprudelnde, betörende Quelle von
Inspiration.
Die kleinen Mängel, die sich feststellen lassen, liegen im rein
technischen Bereich. Die Drucke hätten eventuell noch ein wenig
leuchtender in den Farben ausfallen können, wobei das sicherlich vom
gewählten Druckverfahren abhängig ist. Das Papier hat einen recht
unangenehmen Eigengeruch, der auch nicht so schnell verfliegt. Und die
Schrift im Fließtext ist deutlich zu klein gesetzt, was das Lesen über
längere Zeit etwas anstrengend macht.
Fazit
„Das leuchtende Mittelalter“ ist ein wunderbares Buch für interessierte
Laien, die sich nicht mit mittelalterlichen Stereotypen zufrieden geben
wollen. Die herrlichen Abbildungen laden zum Versinken in fernen
Gedankenwelten ein, die sehr gut lesbaren Texte liefern einen
wissenschaftlich fundierten Unterbau dazu. Ein Buch, das begeistert,
über viele Schmöker-Abende hinweg.
Pro
+ wunderbar anzusehen
+ wissenschaftlich fundiert und trotzdem allgemeinverständlich
+ inhaltlich sehr gut lesbar
+ einleuchtend aufgebaut
Kontra
- zu geringe Schriftgröße
- Farben wirken manchmal, insbesondere angesichts des Buchtitels, nicht ganz „leuchtend“ genug
- fehlendes Schlagwortverzeichnis
Wertung:
Inhalt: 5/5
Aktualität: 5/5
Verständlichkeit: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5