Verlag Knaur, August 2011
Originaltitel: Before I forget, übersetzt von Tina Thesenvitz
TB, 472 Seiten, € 8,99
ISBN 978-3426504345
Genre: Belletristik
Klappentext
Als Abby sich nach einem Unfall plötzlich an wichtige Ereignisse in ihrem Leben nicht mehr erinnern kann, ist sie mehr als beunruhigt. Warum spielt sie so gut Klavier, und was ist auf einmal mit ihrer Familie los? Und wer ist bloß der charmante Finn, der behauptet, mit ihr einen zauberhaften Tag in New York verbracht zu haben? Nur ganz allmählich gelingt es Abby, dem Rätsel in ihrem Leben auf die Spur zu kommen...
Die Autorin
Melissa Hill stammt aus dem County Tipperary und lebt heute mit ihrem Mann und Hund in Ashford. Sie hat in verschiedenen Berufen gearbeitet und widmet sich heute voll und ganz dem Familienunternehmen in Wicklow. Bereits mit ihrem ersten Roman landete sie ganz oben auf den irischen Bestsellerlisten und gilt seitdem in ihrer Heimat als die legitime Nachfolgerin von Maeve Binchy.
Rezension
Stellen Sie sich vor, Sie erinnern sich nicht mehr. Nicht an Personen, an Ereignisse oder an Gefühle. Wildfremde Menschen stehen auf einmal vor Ihnen und behaupten, sie gut zu kennen. Sie können auf einmal Klavier spielen, obwohl sie sicher sind, noch nie die Finger auf die Tasten gelegt zu haben. Wie lebt man weiter mit dem Nichterinnern? Ist ein normales Leben überhaupt noch möglich? Diesen Fragen sieht sich Abby auf einmal gegenübergestellt, ein heruntergefallener Dachziegel hat ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Sie hat eine Schädigung am Hippocampus erlitten, der Teil des Gehirns, der für Gefühle und Motivationen zuständig ist. Es gibt Erinnerungen, die angelernt sind, die durch Wiederholungen sich einprägen, die man dann aber abspeichert, als ob jemand anderer sie erzählt hat. Man erinnert sich durch Photos vielleicht wieder an die Ereignisse, aber die Gefühle sind weg, einfach verschwunden. Wie ein Loch in einer Brücke, über die die Gefühle wandern auf dem Weg ins Langzeitgedächtnis. Manche fallen ins Wasser und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Nach dem ersten Schock glaubt Abby allerdings, damit zurechtzukommen, indem sie einfach viel wiederholt, so schlimm kann es mit dem Verlust der Erinnerungen doch nicht werden, wenn man das Gedächtnis permanent trainiert. Ein paar Vorfälle belehren sie dann allerdings eines Besseren, und sie erkennt nach und nach das ganze Ausmaß ihrer Krankheit. Bevor sie nun alles vergisst, speichert sie ihre Erinnerungen mit Photos und Videos auf ihrem Computer, in ihrer digitalen Erinnerungstruhe. So kann sie sich wenigstens wieder ins Gedächtnis rufen, was sie erlebt hat, wenn die Emotionen dabei allerdings verschwunden sind.
Anfangs ist Abby ein schwieriger Charakter. Sie geht so völlig in ihrer Beziehung zu Kieran auf, dass sie sich sogar seine Meinungen aneignet und ihre eigene Persönlichkeit total unterbuttert. Ihre Gedanken und ihre Meinungen sind lediglich ein Spiegelbild Kierans, die wirkliche Abby ist tief verschüttet. Kieran ist leider auch kein sympathischer Charakter, er ist nörglerisch und völlig von sich und seiner Meinung überzeugt. Er schafft es, Abby von ihrer Familie abzuschotten und sie zu einer Nörglerin zu machen. Als er sie wegen einer anderen verlässt, ist sie tief getroffen und vergräbt sich in ihrer Trauer und ihrer Arbeit. Ihr Selbstmitleid ist selbstzerstörerisch, keiner kann zu ihr vordringen und sie aus dem Tränensumpf herausziehen. Man hat aber auch nicht den Eindruck, dass sie es selber möchte. Erst nachdem sie den Dachziegel auf den Kopf bekommt, merkt sie, dass das Leben auch ohne Kieran durchaus noch lebenswert ist.
Dabei hilft ihr Finn, ein Hundetrainer, mit dem sie in New York einen unvergleichlichen Nachmittag verbringt. Aber war der Nachmittag auch unvergesslich? Da sie Finn erst nach ihrem Unfall kennenlernt, hat sie Schwierigkeiten, sich an ihn zu erinnern. Was ihr wiederum sehr bewusst macht, wie stark ihre Krankheit sie doch beeinträchtigt. Finn ist schon zu bewundern, seine Ruhe und Stärke, mit der er gegen das Vergessen ankämpft ist zu bewundern. Aber ist so ein Leben wirklich erstrebenswert? Kann seine Liebe Abbys Vergesslichkeit überdauern? Wie verkraftet das eigene Ego das Problem, strebt doch jeder nach Nachhaltigkeit. Finn meistert das Meiste mit einer ungeheuren Nonchalance, sein Optimismus bleibt fast immer ungetrübt.
Bei Melissa Hill weiß man, dass es zum Schluß immer noch überraschende Wendungen gibt. Also liest man mit angehaltenem Atem und wartet auf den großen Clou, der zwar nicht riesig ist, aber dennoch kommt. Diese Überraschungen zeichnen die Bücher der Autorin aus, sie lassen einen innehalten und Atem holen, Informationen müssen erst einmal verarbeitet werden. Abby verhält sich zum Schluß noch einmal ziemlich unsympathisch, es ist aber auch schwer, wenn man einfach nicht mehr weiß, was man schon alles wieder vergessen hat. Die Nebencharaktere bleiben ziemlich blass, der Fokus der Geschichte liegt eindeutig bei Abbys Umgang mit ihrer Vergesslichkeit und ihren Beziehungen zu Finn und Kieran. Das Cover ist wunderschön gestaltet, die Blumen sind sehr geschmackvoll und eine wahre Zierde im Bücherregal.
Fazit
Ein Plädoyer für Erinnerungen, Photos und Tagebücher hatten noch nie so einen hohen Stellenwert wie in dieser Geschichte. Melissa Hill führt uns eindringlich und gefühlvoll vor Augen, wie wichtig es ist, Erinnerungen aufzuheben. Es kann nämlich passieren, dass sie nicht mehr fest im Gedächtnis verankert sind und sie nur noch wie ein Erlebnis wirken, was jemand anderer erlebt hat. Ohne die dazugehörigen Gefühle sind Erinnerungen wertlos und bleiben nicht nachhaltig im Gedächtnis.
Pro und Contra
+ fesselnder Schreibstil
+ Nachhaltigkeit der Erinnerungen
+ wunderschönes Cover
+ nicht vorhersehbar
+ aus dem Leben gegriffen
+ verblüffende Wendungen
- Abbys Selbstmitleid
- ihre Unselbstständigkeit
- ihr Verhalten am Ende
Wertung
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5