19 Minuten (Jodi Picoult)

Piper Verlag (April 2008)
480 Seiten, 19,90 EUR
ISBN: 978-3492050807

Genre: Belletristik


Klappentext

19 Minuten, 10 Opfer, 1 Täter – Jodi Picoults aufrichtigster, radikalster und bewegendster Roman

„Es ist vorbei, sagte er. Doch das war es nicht, es fing gerade erst an.“ – Nach seiner unaussprechlichen Bluttat in der Sterling Highschool zweifelt niemand ernsthaft an der Schuld des siebzehnjährigen Peter Houghton. Doch während der kleine Ort mit den Folgen dieser neunzehn Minuten zu ringen hat, wird das Rätsel um die Hintergründe und den Ablauf der Tragödie immer größer.



Rezension

Kann man wirklich Mitleid mit einem Amokläufer haben? Auf eine äußerst sensible, mitfühlende und packende Weise erzählt Jodi Picoult in ihrem Buch 19 Minuten die Chronologie eines Amoklaufes – ein Amoklauf, der für den Amokläufer in seiner frühesten Kindheit anfängt und mit seiner Gefangennahme noch lange nicht beendet ist. In eindrucksvoller Weise wird der Spagat zwischen dem Mitleid mit den Opfern UND dem Täter beschrieben - die unterschiedlichen Erzählperspektiven vom Täter, einigen Opfern und der Mutter eines Opfers geben dem Leser verschiedene Sichtweisen wieder, die ihn in die Welt der Teenager des heutigen Amerikas eintauchen lassen, ihre Bemühungen, dazuzugehören und der Entscheidung, was nun wichtiger ist, der Sandkastenfreund oder die neue, angesagte Clique.

Der Titel des Buches, 19 Minuten, gibt die Zeit von Peter Houghtons erstem Schuss bis zu seiner Festnahme durch den Police Detective Patrick Ducharme wieder. 19 Minuten eines ganz normalen Tages, der mit Frühstück, einer vielleicht unangenehmen Unterhaltung mit der Mutter oder auch mit dem gemeinsamen Schulweg mit Freunden anfängt. So beginnt der Tag auch für Josie Cormier, deren Mutter Alex Richterin am Kammergericht in Grafton County, New Hampshire ist. Aber für 10 Personen wird es ihr letzter Morgen sein, für sie wird es keine weiteren Frühstücke oder Streitgespräche geben.

Um 10 Uhr beginnt Peters Amoklauf, bei dem er 10 Menschen tötet und 19 zum Teil schwer verletzt. Im Gegensatz zu anderen Schul-Massakern kann Peter Houghton lebend geschnappt werden und der Wunsch nach Rache wird übermächtig. Als der Prozess beginnt, wird auch noch ausgerechnet Alex Cormier die vorsitzende Richterin, deren Tochter Josie bei einem der letzten Opfer gefunden wurde, die aber gleichzeitig auch Peters Kindergartenfreundin ist. Wird es dem Verteidiger gelingen, das Gericht davon zu überzeugen, dass Peters Tat lediglich eine Folge jahrelanger Quälereien und Demütigungen durch seine Mitschüler war? Und interessiert das überhaupt jemanden?

Man ist schnell dabei, jemanden zu verurteilen, ohne die Hintergründe zu kennen. Und genau das ist die Stärke in diesem fesselnden Buch. Das Geschehen wird aus vielen verschiedenen Perspektiven erzählt, sowohl in der Vergangenheit als auch in den auf den Amoklauf folgenden Tagen und Monaten. Die Zeitebene wird so geschickt gewechselt, dass es zu keiner Zeit langweilig ist – im Gegenteil, man ist ganz begierig darauf, zu erfahren, wie es denn wirklich war und wie es weitergehen wird. Man erfährt die Hintergründe, warum Peter zu einem Sonderling wird, man erfährt, dass er nicht immer alleine war, dass er mit Josie eng befreundet war, und dass auch diese ihn schließlich verlässt, weil der Druck ihrer Clique der beliebtesten Schüler einfach größer war als eine alte Sandkastenfreundschaft.

Richterin Cormier gerät in einen gnadenlosen Zwiespalt, sie muss unparteiisch urteilen können, aber andererseits hat sie wie so viele andere Mütter auch mit einer Teenagertochter zu kämpfen, die durch ein schweres Trauma gejagt wurde und sich ihr gegenüber absolut verschließt. Die Hilflosigkeit der Mutter und ihrer Tochter, die einfach nur weil sie ein Teenager ist und aus lauter Angst, selbst gemobbt zu werden, ihre alten Freund verrät, ist ein weiteres, wichtiges Thema, was sehr eindringlich und ausführlich behandelt wird. Und außerdem ist da auch noch die Verzweiflung von Peters Eltern, die von furchtbaren Gewissensbissen geplagt werden. Wo haben sie versagt, haben sie überhaupt versagt, was hätten sie anders machen können, hätten sie die Tat voraussehen können?

Eigentlich ist es unfassbar, was Mobbing bei Kindern anrichten kann; selbst wenn sie um Hilfe bitten, wird ihnen oftmals nicht geholfen, da es für Lehrer und Mitschüler einfacher ist, wegzusehen. Hier wird einem sehr eindringlich klar gemacht, unter welchem Zwang Teenager stehen, um zur richtigen Clique zu gehören und dass sie fast alles dafür tun, um beliebt zu sein. Die meisten sind einfach noch nicht stark genug, einfach sie selbst zu sein, und die Auswirkungen, nicht in der richtigen Gruppe zu sein oder sogar ausgestoßen zu werden, sind katastrophal. Daher werden dann halt auch alte Freunde verraten oder Misshandlungen ertragen.

Leider wird nicht näher darauf eingegangen, ob die Täter, die Mobber, eigentlich einmal die Folgen ihrer Taten bedacht haben, und es fehlt auch, ob die schlimmsten Mobber, die die Tat überlebt haben, Drew, Emma und die anderen, sich eigentlich ihrer Taten bewusst sind und Reue zeigen. Aber dieses Problem wird es wohl ein Leben lang geben, und es zeigt auch, wie wichtig es für uns Erwachsene ist, nicht wegzusehen, sondern schneller und gezielter einzugreifen. Aber dazu gehören eben auch Verantwortliche, die die Situation erkennen und handeln können, die Kinder kommen da von alleine nicht mehr heraus.

Auch das Verhalten von Joey wird fast völlig unter den Tisch gekehrt - er war immerhin der große Bruder, eine Person, zu der Peter aufsehen wollte und es nicht konnte. Er hat von Anfang an seinen kleinen Bruder schmählich im Stich gelassen und es vor seinen Eltern verheimlichen können – vielleicht wäre dann alles anders verlaufen, wenn man Peters Hilferufe auch als Hilferufe wahrgenommen hätte und ihn nicht verspottet, gequält und gedemütigt hätte. Kinder können grausam sein, das bringt uns dieses Buch eindringlich wieder ins Gedächtnis zurück.

Spannend auch das Gerichtsverfahren und das zu erwartende Urteil, denn eigentlich kann es hier nur ein Urteil geben. Mit Peters Festnahme ist es zwar für seine getöteten Opfer beendet, aber der Leidensweg der verletzten und traumatisierten Schüler und Eltern geht weiter. Und auch Peters Leidensweg ist noch lange nicht beendet – wie wird es ihm wohl im Gefängnis ergehen, denn auch dort sind seine Taten bekannt. Das Ende des Buches ist schlüssig, berührend und wartet noch mit einer großen Überraschung auf.
 

Fazit

Jodie Picoult hat hier ein sehr komplexes Werk zu höchst aktuellen und brisanten Themen geliefert, sie beschönigt nichts und so manche Grausamkeit zwingt einem die Tränen in die Augen. Es ist ein Buch über die Schwierigkeiten der Schüler, mit den richtigen anderen Schülern befreundet zu sein, über Grausamkeiten gegenüber Außenseitern und über die Hilflosigkeit der Außenseiter, sich nicht wehren zu können und keine Hilfe zu bekommen. Es ist ein eindrucksvolles Werk über Mobbing und seine Konsequenzen, und wozu gequälte und gedemütigte Menschen getrieben werden können. Ein Amoklauf eines Schülers kommt aus einer zutiefst gestörten Seele, mit der man vielleicht noch Mitleid haben kann – mit seiner Tat allerdings niemals.



Pro und Contra

+ hochaktuelles und brisantes Thema
+ Auseinandersetzung mit sämtlichen Perspektiven
+ feinfühliger Umgang mit äußerst sensiblen Nebenthemen
+ glaubwürdige und realistische Charaktere
+ packend bis zum letzten Buchstaben

Wertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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